«Wer weiss, was aus ihnen geworden wäre»
Kindswohl oder Familienfriede – was ist wichtiger? Die Antwort auf diese schwierige Frage führte zwei Schwestern zur Kesb.
Veröffentlicht am 28. März 2018 - 16:22 Uhr,
aktualisiert am 28. März 2018 - 14:36 Uhr
Es war der schlimmste Tag ihres Lebens, als Teresa Mäder* und ihre Schwester beschlossen, ihre Nichte bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) zu melden. Sie konnten nicht anders. Die Nichte war nicht fähig, für ihre beiden Mädchen zu sorgen. Die Kinder, ein- und dreijährig, waren verwahrlost, kannten keine Grenzen. Ihre Mutter war überfordert, psychisch am Anschlag.
Die Schwestern wussten, welche Folgen diese Meldung haben konnte: dass die beiden Mädchen fremdplatziert werden. Ihr Dilemma: Sollten sie ihre Nichte anschwärzen oder einfach schweigen?
Nach langem Ringen entschieden sie sich, das Wohl der Kinder höher zu gewichten als den Familienfrieden. Sie informierten auch die Nichte über ihren Entscheid. «Sie sollte wissen, was läuft. In klaren Momenten begriff sie, dass sie nicht gut für die Mädchen sorgte.»
Teresa Mäder kommen die Tränen, wenn sie vom Besuch bei der Kesb erzählt – obwohl das schon fünf Jahre her ist. «Aber es war richtig, gell?», fragt sie ihre Schwester. «Absolut», stimmt diese zu. «Seit die Kinder weg von der Mutter sind, geht es ihnen viel besser.»
Die Nichte ist heute in einer psychiatrischen Klinik, die Töchter und ihr kleiner Bruder, der 2016 geboren wurde, leben in einem Kinderheim. Der aus Nigeria stammende Vater, der von der Mutter getrennt ist, kümmert sich nur sporadisch um seine Kinder. Und wenn, dann hauptsächlich um den Sohn.
«Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Studien belegen, dass angesichts der Zahl betroffener Kinder viel mehr Meldungen von Kinderärzten oder Kitas kommen müssten.»
Patrick Fassbind, Leiter Kesb Basel-Stadt
Eltern haben das Recht und die Pflicht, für ihre Kinder zu sorgen. Wenn sie es nicht können, muss der Staat einspringen. Bei dringender Gefahr kann die Kesb – als einschneidendste Massnahme – das Kind fremdplatzieren. Betroffen sind jährlich Tausende Kinder.
Nur: Wie erfährt die Kesb von problematischen Fällen? Es gibt dazu keine gesamtschweizerischen Zahlen. In der Stadt Zürich wurden 2016 gut 40 Prozent der Fälle von der Polizei gemeldet, über 30 Prozent von Sozialdiensten oder ähnlichen Institutionen. Nur etwa jede zehnte Meldung stammt von Eltern oder Verwandten. Die Zahlen aus Bern und Basel sind ähnlich.
«Wir haben täglich mit Kindern zu tun, die in absolut desolaten Verhältnissen leben», sagt Patrick Fassbind, Leiter der Kesb Basel-Stadt. Und das sei nur die Spitze des Eisbergs. «Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Studien belegen, dass angesichts der Zahl betroffener Kinder viel mehr Meldungen von Kinderärzten oder Kitas kommen müssten.» Ein grosses Problem sei, eine Gefährdung zu erkennen, bevor das Kind ins Schulalter komme. Bis dahin bemerkten nur enge Bezugspersonen die Not. Wie im Fall von Teresa Mäder und ihrer Schwester.
42'767
Kinder unterstanden Ende 2016 einer Schutzmassnahme. Bei 77 Prozent ging es um Beistandschaften, Besuchsrechtsstreitigkeiten oder Unterstützung der Eltern in Erziehungsfragen.
Deshalb forderte SP-Nationalrätin Chantal Galladé bereits vor acht Jahren mit einer parlamentarischen Initiative, dass Kinder im Vorschulalter obligatorisch zu kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen geschickt werden müssen – um Gefährdungen früh zu erkennen. Die Initiative wurde mit dem Argument abgelehnt, sie greife «unverhältnismässig stark in die Entscheidungsfreiheit der Eltern ein».
Nun werden auf Anfang 2019 die Melderechte und -pflichten erweitert (siehe Info-Box «Ab 2019 müssen mehr Leute Probleme melden» am Artikelende). Die Organisation Kinderschutz Schweiz begrüsst das, fordert aber, dass Meldepflichtige in Weiterbildungen verstärkt sensibilisiert werden. «Das ist entscheidend für einen wirksamen Kindesschutz», sagt Leiterin Xenia Schlegel.
Teresa Mäder und ihre Schwester haben es sich bei dem Entscheid nicht leichtgemacht. «Wir wollten das natürlich zuerst in der Familie regeln. Aber nach ein paar Monaten merkten wir, dass wir Hilfe brauchten.» Die Nichte sei immer mehr in ihre Wahnvorstellungen abgedriftet, habe Stimmen gehört, die ihr Befehle erteilten. Sie konnte nicht auf die Kinder aufpassen, deponierte sie tagelang bei Teresa Mäder, ohne sich zu melden. Oder sie liess sie die ganze Nacht allein zu Hause, während sie im Ausgang war.
Es sei zu beängstigenden Situationen gekommen. «Einmal spazierten wir an einer stark befahrenen Strasse. Plötzlich raste die Dreijährige auf dem Trotti an uns vorbei, gefährlich nah an der Strasse. Meine Nichte machte keine Anstalten einzugreifen. Ich rannte dem Mädchen hinterher und erwischte es gerade noch rechtzeitig, bevor es auf die Strasse stürzte.»
Es waren solche Erlebnisse, die den Ausschlag für die Meldung bei der Kesb gaben.
18'000
Kinder leben in Heimen und Pflegefamilien. Die Aufenthaltsdauer reicht von wenigen Tagen bis zu mehreren Jahren. Ein Drittel der Platzierungen haben die Behörden angeordnet.
Zunächst kamen die Mädchen zwei Tage pro Woche in eine teilstationäre Kita, wo sie auch übernachteten. Das sollte die Mutter entlasten. «Wir dachten, dass sich nun endlich Fachleute um die Kinder kümmern», erzählt Mäder. Doch den Kindern und der Mutter ging es nicht besser. Den Kita-Betreuerinnen schien das aber nicht aufzufallen. Erst als die Ältere in den Kindergarten kam, änderte sich die Lage. «Im Gespräch mit der Kindergärtnerin entschlossen wir uns zu einer weiteren Meldung bei der Kesb», erzählt Teresa Mäder. Erst jetzt passierte mehr.
Die Mädchen wurden der Mutter weggenommen, seither leben sie im Kinderheim . «Wir sind sehr froh. Heute sind die beiden ganz normale Kinder, die nur ein bisschen anders aufwachsen. Sie haben wieder Spass und Freude», sagt Teresa Mäder. Aussagen der Mädchen im Jahresbericht des Heims bestätigen das.
Im Jahresbericht des Kinderheims schreiben die Mädchen:
«Wir sind wie eine grosse Familie, nur mit mehreren Kindern, die nicht alle unsere Geschwister sind. Hier leben Kinder wie wir, die nicht bei den Eltern leben können, weil sie nicht gut für uns schauen können.»
«Unsere Freundinnen kommen gern zu uns ins Heim, und wir dürfen auch zu ihnen nach Hause gehen. Natürlich müssen wir die Erwachsenen fragen.»
Die zuständige Sozialpädagogin erinnert sich, wie die beiden Schwestern im Frühling 2014 im Heim ankamen: «Ich sah sofort, dass sie vernachlässigt waren. Ihre Zähne waren schwarz, die Ältere hatte nur noch Stummel. Sie kannten keinen gewöhnlichen Tagesablauf und keine Regeln.» Verfaulte Zähne sind ein klares Zeichen von Kindsmisshandlung.
«Da hat sich jahrelang niemand richtig gekümmert oder hingeschaut», sagt auch der Heimleiter. Warum das dem Kita-Personal nicht aufgefallen war, ist ein Rätsel. «Als Fachpersonen müssten sie für solche klaren Zeichen eigentlich sensibilisiert sein», kritisiert er. «Allerdings wissen wir nicht, ob sie nicht doch etwas unternommen haben.»
Der Austausch mit Teresa Mäder und ihrer Schwester sei für das Heim und die Geschwister wertvoll, betont der Heimleiter. «Viele unserer Kinder haben keine engen familiären Vertrauenspersonen. Ich bin dankbar und habe alle Achtung vor dem, was die beiden Frauen leisten.» Dass sie eine Gefährdungsmeldung machten, bezeichnet er als bewunderswert. «Wenn die Geschwister heute diesen geschützten Rahmen hier nicht hätten – wer weiss, was aus ihnen geworden wäre.»
Lehrer, Polizisten und Sozialarbeiter müssen bei Verdacht auf eine Gefährdung des Kindswohls die Kesb
benachrichtigen.
Auf Anfang 2019 wird diese Meldepflicht erweitert:
- Nannys, Nachhilfelehrer, Mitarbeiter von Krippen und Elternberatungsstellen sowie andere Fachleute, die regelmässig beruflich mit Kindern zu tun haben, müssen eine Meldung an die Kesb machen, wenn sie dem Kind im Rahmen ihrer Tätigkeit nicht helfen können.
- Pfadileiter, ehrenamtliche Sporttrainer und andere Personen, die nur in der Freizeit mit Kindern arbeiten, haben zwar weiterhin keine Meldepflicht, aber – wie alle anderen auch – natürlich ein Melderecht.
- Ärzte, Psychologen oder Anwälte haben neu das Recht, eine Meldung zu machen – ohne sich zuvor vom Berufsgeheimnis entbinden zu lassen.
* Name geändert
Bezüglich der Kompetenzen und Aufgaben der Kesb existieren zuweilen viele falsche Annahmen. Dabei ist der Auftrag der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde per Gesetz festgelegt. Beobachter-Mitglieder erhalten in der Checkliste «Aufgaben der Kesb» eine Aufstellung darüber, in welchen Fällen die Behörde aktiv ist.
Wissen Sie, dass ein Kind oder eine hilfsbedürftige Person vernachlässigt wird und in ihrem gesundheitlichen Zustand gefährdet ist, sollten Sie die Behörden einschalten. Beobachter-Mitglieder erfahren in der Mustervorlage «Wie verfasst man eine Gefährdungsmeldung?», welche Punkte Sie schriftlich zur Information der Kesb festhalten sollten.
2 Kommentare