Die Schweizer Krankenkassen haben per Anfang Monat die Spielregeln für Versicherungsbroker geändert. Mit der neuen «Branchenvereinbarung Vermittler» haben sie kurzerhand die Möglichkeit abgeschafft, Versicherungen zu sanktionieren, die sogenannte Kaltakquise betreiben – also Werbeanrufe tätigen, ohne dass die Angerufenen Interesse daran bekundet hätten. Oder die Verträge von externen Vermittlern annehmen, die dank aufdringlicher Telefonanrufe zustande gekommen sind. Das Werbeanruf-Verbot gilt zwar nach wie vor – doch ohne Sanktionsmöglichkeiten dürfte die neue Branchenvereinbarung schwarze Schafe kaum davon abhalten, zum Telefon zu greifen. 

Partnerinhalte
 
 
 
 

Heisst: Der Telefonterror hat wieder freie Bahn. Denn gleichzeitig haben die Verbände Santésuisse und Curafutura die Obergrenze aufgehoben, wie viel ein Versicherungsvermittler beim Abschlusss einer Zusatzversicherung verdienen darf. Der Konsumentenschutz befürchtet, dass die Vermittler diesen Herbst in diesem Bereich besonders aktiv werden, weil sie mit hohen Provisionen viel verdienen können.

Krankenkassen heben unabhängige Aufsichtsstelle auf

Rückblende: Im Januar 2021 hatten sich die meisten Krankenkassen einer Branchenvereinbarung angeschlossen, worin sie sich auf ein Werbeanruf-Verbot einigten. Dieses galt, wenn seit über drei Jahren keine Kundenbeziehung zur Versicherung mehr besteht. Das sollte den lästigen Telefonanrufen ein Ende setzen Krankenkassen Vorsicht vor unseriösen Maklern! , die für die Bevölkerung zum ständigen Ärgernis geworden waren.

Wenn ein Vermittler gegen diese Vereinbarung verstiess Krankenkassenvermittler Swiss Home Finance Mit Fake-Unterschrift zum Kassenwechsel , riskierte der Versicherer eine Strafe durch die unabhängige Aufsichtskommission Fair-mittler.ch, wenn er einen auf diese Weise entstandenen Vertrag akzeptierte. Bei der Grundversicherung drohte eine Strafe von bis zu 100’000 Franken, bei Zusatzversicherungen bis zu 500’000 Franken. 109 Meldungen hat die Aufsichtskommission letztes Jahr erhalten, in acht Fällen hat sie Strafen verhängt. Die höchste lag bei 20’000 Franken.

Damit ist nun Schluss. Die neue Branchenvereinbarung ist seit Anfang September in Kraft und hat das Aufsichtsgremium per sofort von seinen Aufgaben entbunden. Laufende Verfahren müssen bis März 2024 abgeschlossen sein, neue Fälle werden seit Anfang September nicht mehr entgegengenommen. Ob das Aufsichtsgremium und dessen Geschäftsstelle aufgehoben werden, ist unklar. 

«Wir wollen vermeiden, dass ein Verstoss von der Aufsichtskommission und der staatlichen Behörde geahndet wird.»

Branchenverband Curafutura

Die Versicherungsverbände wollen stattdessen eine eigene Meldestelle ins Leben rufen. Diese soll sich bemühen, «Missverständnisse zwischen Versicherten und Versicherern zu beheben und bei Meinungsverschiedenheiten zu vermitteln». Krankenkassen, die sich nicht an die Regeln halten, müssen von der neuen Meldestelle nichts befürchten: Sanktionen wird sie nicht verhängen. 

Fehlverhalten wird Behörden nicht gemeldet

Das sei Aufgabe des Staates, der im Versicherungsaufsichtsrecht Sanktionen bei Fehlverhalten vorsieht, schreiben die Branchenverbände. «Wir wollen vermeiden, dass ein Verstoss von der Aufsichtskommission und der staatlichen Behörde geahndet wird», so die Begründung. Unklar ist, warum die Versicherungen dieses doppelte Strafsystem plötzlich stossend finden. Die behördlichen Sanktionsmöglichkeiten waren bereits im Gesetz verankert, als die Branchenverbände die alte Vereinbarung abschlossen, die noch Sanktionen zuliess. 

Doch nicht nur das: Die Meldestelle gibt den Aufsichtsbehörden auch keine Informationen über fehlbare Vermittler weiter. Aufgrund des Datenschutzes dürfe man das nicht, meinen die Branchenverbände. Ob die Krankenkassen transparent machen werden, wer in ihrem Kontrollgremium sitzt und ob es dem Öffentlichkeitsprinzip unterstehen wird – dass also alle Einblick in ihre Tätigkeiten und Entscheide verlangen können –, ist unklar. Curafutura und Santésuisse schreiben dazu auf Anfrage nur: «Wir sind daran, die Meldestelle aufzubauen.»

«Kurzfristige finanzielle Anreizsysteme können zu problematischen Situationen führen.»

Tobias Lux, Mediensprecher Finma

Ein zweiter Punkt, der sich negativ auf die Versicherten auswirken könnte: Die Provisionsobergrenze bei Zusatzversicherungen wird aufgehoben. Gemäss der bisherigen Vereinbarung dürfen die Vermittlungsgebühren in der Zusatzversicherung bei maximal zwölf Monatsprämien liegen. Diese Limite wurde in der neuen Vereinbarung ersatzlos gestrichen. Einzige Auflage: Die Entschädigung müsse «insgesamt betriebswirtschaftlich sein». 

Was ist unter dieser Wirtschaftlichkeit zu verstehen? Das ist unklar. Curafutura schreibt: «Die Vergütung muss in einem vernünftigen Verhältnis zu den vermittelten Produkten stehen.» Dieser Ansatz sei flexibel. Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht (Finma) soll überprüfen, dass keine überrissenen Provisionen bezahlt werden. Die Finma sagt, sie verfolge die Entwicklung bei der Vermittlung von Krankenkassen aufmerksam. «Klar ist: Kurzfristige finanzielle Anreizsysteme können zu problematischen Situationen führen», so Tobias Lux, Mediensprecher der Finma.

«Diese überhastete Aufweichung der Branchenvereinbarung ist nicht zufällig. Denn diesen Herbst ist mit grossen Krankenkassenprämien-Aufschlägen zu rechnen.»

Nadine Masshardt, Präsidentin Konsumentenschutz

Am Abschluss einer Grundversicherung verdienen die Vermittler maximal 70 Franken. Wirklich lukrativ ist also das Geschäft mit den Zusatzversicherungen: Dank der neuen Regeln können Vermittler bei einem Abschluss statt bislang rund 1000 Franken nun deutlich mehr verdienen.

Strengere Regeln sollten bald für alle gelten

Der Konsumentenschutz verurteilt das Vorgehen der Versicherungen scharf. «Diese überhastete Aufweichung der Branchenvereinbarung ist nicht zufällig, da diesen Herbst mit grossen Krankenkassenprämien-Aufschlägen zu rechnen ist», sagt Präsidentin Nadine Masshardt. Das Vermittlergeschäft werde diesen Herbst vermutlich auf Hochtouren laufen. «Die Regulierung der Krankenkassenvermittler auf die Grundversicherung zu beschränken, ist absurd und steht in totalem Widerspruch zu den demokratischen Entscheiden von Nationalrat, Ständerat und Bundesrat», sagt Masshardt. 

Die Änderung der Branchenvereinbarung erfolgt just in dem Moment, in dem der Bundesrat verbindliche Regeln für das Akquise-Geschäft der Versicherungen festlegen wollte: Er schickte die bisherige Branchenvereinbarung diesen Sommer in die Vernehmlassung, um sie für allgemeinverbindlich zu erklären. Damit sollten die früheren Bestimmungen per 1. Januar 2024 auch für jene Versicherungen gelten, die bisher der Vereinbarung nicht beigetreten waren.

Krankenkassen haben bei den Regeln das letzte Wort

Wenn es den Branchenverbänden Santésuisse und Curafutura gelingt, Versicherungen für die neuen Regeln zu gewinnen, die mehr als 66 Prozent der Versicherten abdecken, so können sie beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) ein Gesuch einreichen, dass die neuen, weniger strengen Regeln für alle gelten. Der Bundesrat werde dazu keine erneute Vernehmlassung durchführen. Bei Curafutura sind die vier grossen Versicherer CSS, Helsana, Sanitas und KPT Mitglied, bei Santésuisse sind unter anderem die Assura, Groupe Mutuel, Visana und die Swica. 

Die Branchenverbände haben die Anpassung beschlossen, ohne das BAG und die Finanzmarktaufsicht zu konsultieren. Nun stellt sich die Frage, ob diese Änderung überhaupt zulässig ist, wenn die Vernehmlassungsparteien sich nur zur alten Verordnung geäussert hatten. Das BAG schreibt, das Parlament sei sich bewusst gewesen, dass die Vereinbarung ein Vertrag ist, den die Vertragsparteien ändern oder kündigen können. Mit anderen Worten: Die Versicherungen haben ohnehin das letzte Wort. 

Klar ist: Dass die strengeren bisherigen Regeln künftig für alle Krankenkassen gelten, haben die Branchenverbände durch die Anpassung der Branchenvereinbarung vorerst verhindert. Um dem Telefonterror wirksam ein Ende zu setzen, ist also wieder die Politik gefragt.