Aargauer Gesetz macht Zwangsversorgung möglich
Die Aargauer Regierung will Empfänger von Sozialhilfe ins Heim abschieben können. So steht es in einer neuen Verordnung. Sie verstösst gegen geltendes Gesetz.
Veröffentlicht am 6. September 2019 - 15:42 Uhr
Die Schweiz arbeitet derzeit die Schande der administrativ Versorgen auf . Gleichzeitig hat der Kanton Aargau eine Verordnung erlassen, die hart an diese Zeiten erinnert.
Danach sollen Sozialhilfeempfänger dank des neuen Paragraphen «zur Umsetzung entsprechender Betreuungs- oder Integrationsmassnahmen einer Unterkunft zugewiesen werden können». Konkret: Sie dürfen nicht mehr zwingend frei wählen können, wo sie wohnen wollen, und können in ein Heim oder eine andere kantonale Unterkunft abgeschoben werden.
Am Beginn des Sündenfalls steht eine Interpellation der Aarburger Grossrätin Martina Bircher vom 9. Januar 2018. Die SVP-Politiker hatte schon vor zwei Jahren mit einer Motion versucht, die Sozialhilfe auf das Existenzminimum zu drücken .
Diesmal störte sich Bircher daran, dass vorläufig aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge den Status von Sozialhilfeempfängern haben. Damit erhielten sie automatisch die gleichen Rechte, insbesondere bei der Wahl ihrer Wohnung. Das wiederum fördere Mietzinswucher und verursache der öffentlichen Hand viel zu hohe Kosten. Bircher verlangte darum eine Anpassung der Sozialhilfe- und Präventionsverordnung: Flüchtlinge, die Sozialhilfe beziehen, sollten einer kantonalen Unterkunft zugewiesen werden können.
Der Aargauer Regierungsrat antwortete, die freie Wohnortswahl sei auch für anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge gesetzlich verankert. Dennoch verfolgte das zuständige Departement für Gesundheit und Soziales die Idee weiter. Es wurde noch von der mittlerweile in ihrer eigenen Partei in Ungnade gefallenen damaligen SVP-Regierungsrätin Franziska Roth geführt.
Die Juristen ihres Departements und des Regierungsrats beanstandeten zwar, man könne innerhalb der Verordnung keine Zweiklassengesellschaft einführen, also Flüchtlinge und Sozialhilfeempfänger unterschiedlich behandeln. Deshalb wurde der neue Paragraph kurzerhand so formuliert, dass er für alle Sozialhilfebezüger
gilt.
«Hier haben so ziemlich alle Kontrollmechanismen versagt.»
Andreas Hediger, Unabhängige Geschäftsstelle für Sozialhilferecht
Was die Regierung ignorierte: Die freie Wohnortwahl ist im Bundesgesetz verankert, das über kantonalen Gesetzen oder Verordnungen steht. Trotzdem trat der Paragraph am 1. März 2019 in Kraft, von der Öffentlichkeit und den meisten Aargauer Politikern weitgehend unbemerkt.
Mittlerweile formiert sich Widerstand dagegen. «Wir finden es unsäglich, dass eine solche Verordnung überhaupt erlassen werden konnte. Hier haben so ziemlich alle Kontrollmechanismen versagt, insbesondere die Rechtsabteilungen des Departements und des Regierungsrats. Und das, obwohl im Regierungsrat als auch an der Spitze der Aargauer Sozialdienste etliche Juristen sitzen», sagt Andreas Hediger, Geschäftsführer der Unabhängigen Geschäftsstelle für Sozialhilferecht UFS.
In Erklärungsnotstand geraten, betont der Regierungsrat jetzt, dass die Verordnung lediglich auf Flüchtlinge abziele und man keineswegs die Absicht hege, andere Sozialhilfebezüger in Heime abzuschieben . Nur ist der neue Paragraph genauso formuliert, dass die Gemeinden genau das tun können.
Betroffene hätten vor Gericht beste Chancen, gegen einen solchen Entscheid vorzugehen. Stefan Ziegler, Leiter der Sozialdienste Kanton Aargau, räumt gegenüber dem Beobachter denn auch ein: «Es gibt keine Handhabe, die Leute zu zwingen.» Das sei aber auch nicht die Absicht.
Doch wie schaffte es die Interpellation von Martina Bircher überhaupt, unbemerkt durch die Vernehmlassung zu kommen? Verordnungen abzuändern liegt in der Kompetenz des Regierungsrats, sagt CVP-Grossrat Andre Rotzetter. Er habe zwar sicher über die Änderung informiert. «Milizpolitikern fehlt aber oft die Zeit, um die jeweils sehr grossen Menge an Traktanden, Infos und Berichte vertieft zu prüfen.»Meist studiere man aus den wöchentlich über 300 Seiten jene Geschäfte, für die man zuständig sei. «Beim Rest verschafft man sich nur einen Überblick», so Rotzetter.
CVP, SP, Grüne und EVP wollen jetzt gemeinsam gegen den Paragraphen vorgehen. Die Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht UFS sammelt per Online-Petition Unterschriften.
4 Kommentare
"Hier haben so ziemlich alle Kontrollmechanismen versagt". Hier irrt Hr. Hedinger, den ich sehr schätze, gewaltig! Wenn soviele Zuständige sich eben nicht zuständig fühlen gehören sie fristlos entlassen - nein, es ist ein abgekartetes amtliches Polit-Spielchen des Wegsehens welches man auch hier in ZH erleben kann (z.B. Gammelhäuser, verdecktes sparen auf Kosten des Klientels mit abstrusen Begründungen nicht SKOS-konform, hätte als Ex-Betroffener x-belegte Beispiele!). Man stellt sich unwissend, überlastet und lösungsorientiert hin und wartet ab, ob die betroffenen Kreise etwas tun. Wenn nicht wird es stillschweigend intransparent eingeführt. Es nachher wieder umzuändern braucht dann wieder einen laaangen Polit-Prozess bei dem viel passieren kann! So gewinnt man immer Zeit, Geld und Macht!
Das schlimmste Übel der Welt, und auch in der Schweiz, ist jede Form von Gewalt, welche sich jenseits von Notwehr befindet. Dazu kommt oft noch das Fehlen der Weisheit darüber, was denn Notwehr, von Marshall Rosenberg "Schützende Macht" genannt, überhaupt ist, und wie diese an zu wenden sei. Ich empfehle denjenigen, welche Sozialhilfebezüger in Heime versorgen möchten, mal Marshall Rosenbergs Non-Violence Arbeiten (US Berufspsychologe, promoviert, heute universitärer Standard wie Schulz von Thun) zu studieren. Denn es kann jeden treffen, auch Berufspolitiker können plötzlich vor dem Sozialamt stehen. Als ehrenamtlich Engagierter im Sozialbereich sehe ich mit Schrecken eine Verhärtung der Gesellschaft und eine Zunahme der Form von Gewalt, welche sich jenseits von Notwehr befindet. Dies darf so nicht weiter gehen, sonst haben wir bald Verhältnisse wie in Johannesburg. Der Graben zwischen den Behörden und der Bevölkerung darf nicht noch grösser werden. In Gebieten mit überwiegend vielen Delikten mit Migrationshintergrund wären integrative Sozialarbeiter mit Erfahrung und Kompetenz, in Zusammenarbeit mit den lokalen Police Community's ein begehbarer Lösungsweg sowie eine gute Prävention.
Von uns Arbeitenden verlangt man lebenslange Weiterbildung! Die Schweiz als Staat ist davon ausgenommen. Die neuen Verding- bzw. "Fürsorgerischen" Opfer der Behörden sind u.a. immer mehr Mitschweizer die 30 Jahre im Lande gearbeitet/gesteuert und gespart haben und vom Arbeitsmarkt verschmäht in der Sozialhilfe stranden und dort derart vertrampelt und gedemütigt ihren "Karriereabschluss" und das Alter in Armut verbringen dürfen. Ständig gebosst und gemobbt durch die zunehmende Behördenwillkür (Datenschutz, Überwachung, Leistungskürzungen u.v.m.). Unterschreibt Die Liste dazu ist in der Site von Avenir50plus !
Klar, ist schon von meiner Frau und mir UNTERSCHRIEBEN.
Irgendwie muss die Vernunft vor den willkürlichen Entscheidungen der schweizerischen Regierungen siegen. Viele Politiker haben das Gefühl, sie seien nur dazu da den Wohlstand der Reichen zu schützen. Irgendwie kommen so Gedanken auf, dass Korruption in der Schweizerischen Eidgenossenschaft grossgeschrieben wird.