«Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.» Der Satz steht nicht irgendwo, er ist Teil der Präambel der Bundesverfassung. Der Satz mag pathetisch klingen, aber das macht ihn nicht weniger richtig. Wie wir mit den Schwächsten umgehen, sagt viel über uns und unsere Gesellschaft aus.

Am 19. Mai stimmen die Bernerinnen und Berner darüber ab, wie sie mit den Schwächsten umgehen wollen – genauer: wie wenig Sozialhilfe sie Bedürftigen in Zukunft noch gewähren wollen. Nach dem Vorschlag der Kantonsregierung soll der Grundbedarf Existenzminimum Was muss zum Leben reichen? gekürzt werden: 8 Prozent weniger für alle, 15 Prozent weniger für alle 18- bis 25-Jährigen, 30 Prozent für jene 18- bis 25- Jährigen, die nicht genug tun, um sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, 30 Prozent weniger für alle, die sechs Monate nach Beginn der Sozialhilfeunterstützung keine Berner Amtssprache sprechen, also weder Deutsch noch Französisch. 

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Die Höhe der Sozialhilfe nach den Sprachkenntnissen zu bemessen, klingt verlockend, falls man die Zuwanderung in das Sozialsystem beschränken will. Die Regelung wäre aber – um es vorsichtig zu formulieren – verwegen. Warum, zeigt ein Beispiel: Wer aus einem nordafrikanischen Land stammt, in dem Französisch gesprochen wird, und eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz Einreise in die Schweiz Welche Aufenthaltsbewilligung benötigen EU-Bürger? hat, erhält womöglich mehr Sozialhilfe als eine Tessinerin oder ein Tessiner, die nur Italienisch sprechen. Das ist absurd. Und verstösst gegen das Prinzip der Gleichbehandlung. Ein anderer Grundsatz, der in der Bundesverfassung verankert ist.

Eine regelrechte Abbau-Vorlage

Heute erhält eine erwachsene Person im Kanton Bern pro Monat 977 Franken. Für Essen und Trinken, Kleider und Schuhe, Energie, Waschen und Reinigen, Gesundheits- und Körperpflege, Verkehr, Telefon, Unterhaltung und Bildung, Spielsachen, Schreibmaterial und kleine Geschenke. Das ist schon neun Franken weniger als in den meisten anderen Kantonen. Für den zuständigen SVP-Regierungsrat Pierre-Alain Schnegg, den Vater der Abbau-Vorlage, sind diese 977 Franken aber noch immer zu viel. Das sei eine Einladung zum Nichtstun. Wer so grosszügig unterstützt werde, dem vergehe die Lust aufs Arbeiten. Man könne sich mit dem Tausender gemütlich in der sozialen Hängematte einrichten. Wie er auf diese Idee kommt, ist sein Geheimnis. Der Grundbedarf ist schon heute sehr knapp bemessen Sparpläne bei der Sozialhilfe «Ein Armutszeugnis für eines der reichsten Länder»

Pierre-Alain Schnegg sagt auch, ohne mit der Wimper zu zucken: Wenn ein 23-Jähriger so viel Geld erhält, verspüre er keine Lust, sich einen Job zu suchen oder eine Ausbildung zu beginnen. Nach der Schnegg-Logik haben junge Menschen offenbar sehr bescheidene Ansprüche ans Leben.

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Checklisten zu Sozialhilfe

Welche Ausgaben werden noch in den Grundbedarf gerechnet? Beobachter-Mitglieder erhalten unter «Für was muss der Grundbedarf in der Sozialhilfe ausreichen?» eine detaillierte Aufstellung. Die Checkliste «Maximale Kürzungen in der Sozialhilfe» zeigt überdies, welche Kantone sich nicht an die Richtlinien und Empfehlungen der Skos halten.

Grundbedarf bereits drastisch gekürzt

Sicher, wie viel Sozialhilfe der Staat zahlt Hotline-Frage Wie viel Sozialhilfe steht mir zu? , ist keine feste Grösse und auch nicht in Stein gemeisselt. Wenn aber nun jeder Kanton nach eigenem Gutdünken und seinen aktuellen finanziellen Bedürfnissen den Grundbedarf festlegt, öffnet man der staatlichen Willkür Tür und Tor. Wie hoch der Grundbedarf bemessen sein soll, war deshalb aus guten Gründen keine politische Grösse, sondern wurde nach festen Kriterien ermittelt. Bis 2005 orientierte er sich an jenen 20 Prozent der Bevölkerung, die am wenigsten verdienen, seither nur an den einkommensschwächsten 10 Prozent. Seither wurde er aber noch einmal gekürzt. Denn gemäss Bundesamt für Statistik lag das durchschnittliche Einkommen dieser Gruppe schon vor zehn Jahren bei 1076 Franken. Das zeigt: Der Grundbedarf wurde in den vergangenen Jahren bereits drastisch gekürzt. 

Auch in Ländern wie Deutschland und Grossbritannien wird der Grundbedarf nach diesem Schlüssel berechnet. Was die Berner Regierung will, wäre dort nicht möglich. Es wäre ein Verstoss gegen die Verfassung. 

Vorlage bekämpft nicht Armut, sondern die Armen

Kritiker der Sozialhilfe behaupten gern, dass die heutigen Regelungen falsche Anreize schaffen und dass man Faulheit belohne, statt sie zu bestrafen. Die Fleissigen belohnen, das klingt selbstverständlich immer gut. Nur, sticht das Argument überhaupt? 

Ein Blick in die Statistik lässt Zweifel aufkommen. Ein Drittel der Menschen, die Sozialhilfe beziehen, sind Kinder und Jugendliche. Viele 50- bis 64-Jährige – jene Gruppe der Sozialhilfeempfänger, die in den vergangenen Jahren deutlich wuchs – können sich anstrengen, wie sie wollen. Nur wenige Ausgesteuerte finden wieder einen Job Ausgesteuert Wenn kein Arbeitslosengeld mehr kommt – wie weiter? . Die Zahlen des Bundesamts für Statistik offenbaren noch etwas: 51 Prozent beziehen weniger lang als ein Jahr Sozialhilfe. Mit der Kürzung der Sozialhilfe wolle man die Faulen bestrafen und die Fleissigen belohnen – das ist leider ein zweifelhaftes Argument. Man bestraft neben den Kindern und Jugendlichen auch die vielen Menschen, die alles unternehmen, wieder auf die eigenen Beine zu kommen. Diese Vorlage bekämpft nicht Armut, sondern die Armen. 

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Checkliste «Höhe des Grundbedarfs in den Kantonen»

Wie hoch ist der Grundbedarf in der Sozialhilfe in Ihrem Wohnkanton? Die Checkliste «So viel Geld gibt es in den Kantonen» zeigt es ausführlich für Beobachter-Mitglieder.

Anreiz- und Sanktionsmöglichkeiten sind vorhanden

Wenn man die steigenden Sozialausgaben nachhaltig senken will, gibt es bessere Mittel. Zum Beispiel, indem man in die Sozialhilfe investiert. Wie das geht, hat die Stadt Winterthur vorgemacht. Sie hat auf dem Sozialamt zusätzliche Stellen geschaffen, um die Sozialhilfeempfänger besser zu betreuen. Das zahlt sich aus. Es haben Menschen den Weg zurück in die Arbeitswelt gefunden, und die Sozialausgaben der Stadt sind – die Zusatzkosten für die neuen Stellen mit eingerechnet – gesunken. Das heisst umgekehrt: Wer am falschen Ort spart Sozialämter Die Sozialhilfe spart ohne Plan , produziert letztlich höhere Sozialausgaben.

Die Kritiker der Sozialhilfe behaupten, dass es heute fast unmöglich sei, Sozialhilfeempfänger zu bestrafen, die sich nicht an die Spielregeln halten. Das stimmt schlicht und einfach nicht. Wir vom Beobachter beraten täglich Menschen, deren Sozialhilfe bis zu 30 Prozent gekürzt wurde. Kürzungen durchzusetzen ist kein Problem, bestätigen auch die Sozialämter. Sie werden heute täglich ausgesprochen. Zudem wissen alle, die sich wirklich mit der Sozialhilfe auseinandersetzen: In den vergangenen Jahren wurden bereits verschiedene neue Anreiz- und Sanktionsmöglichkeiten eingeführt. Und jüngeren Bezügern zwischen 18 und 25 Jahren werden längst strengere Auflagen gemacht als noch vor ein paar Jahren. Auch eine Auflage, die in Deutschland oder England nicht erlaubt wäre.

Bern könnte Flächenbrand auslösen

Bisher war es in der Schweiz so, dass wir allen Menschen eine menschenwürdige Existenz garantieren. Wenn die Bernerinnen und Berner so radikale Kürzungen vornehmen, wie das ihre Kantonsregierung möchte, ist dieser Grundsatz mehr als geritzt. Man nimmt in Kauf, dass Bedürftige systematisch vom sozialen Leben ausgeschlossen werden. Diese Vorlage ist ein Frontalangriff auf unsere Grundwerte. 

Ihre Befürworter erhoffen sich von der Abstimmung eine Signalwirkung für die ganze Schweiz. In anderen Kantonen gibt es bereits ähnliche Abbaupläne, in Basel-Land, im Aargau und in Zürich. Wenn die Bernerinnen und Berner Ja sagen – so ihre Hoffnung – werden sie einen Flächenbrand auslösen. Das darf nicht passieren.

Die Stärke einer Gesellschaft bemisst sich danach, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Diesen Grundsatz dürfen wir nicht leichtfertig aufgeben, um die Staatsausgaben etwas zu senken. In der Präambel unserer Bundesverfassung steht nicht per Zufall der Satz:

«Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.»

Präambel der Bundesverfassung

 

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Mehr zu Sozialhilfe

Wer Sozialhilfe beantragt, hat sowohl Rechte als auch Pflichten. Beobachter-Mitglieder erhalten darüber Auskunft, ob Sozialhilfe später zurückerstattet werden muss. Musterbriefe liefern zudem Unterstützung, wenn Beschwerde gegen einen Entscheid eingelegt wird.

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Martin Vetterli, stv. Chefredaktor
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