«Weit unter dem Existenzminimum» – Uri bricht Sozialhilfe-Tabu
Der Kanton Uri will das Sozialhilfegesetz verschärfen und ritzt am verfassungsmässigen Recht auf Hilfe in Not. Sozialhilfe-Experte Christophe Roulin ist alarmiert und befürchtet Nachahmer.
Veröffentlicht am 11. April 2025 - 14:55 Uhr
Christophe Roulin: «Es darf keine Rolle spielen, ob eine Notlage von einer Behörde als selbst verschuldet betrachtet wird.»
Am 18. Mai stimmt der Kanton Uri über die Revision des Sozialhilfegesetzes ab. Die Vorlage enthält Bestimmungen, die in Fachkreisen umstritten sind. Namentlich der Artikel 26 hat es in sich: Neu soll ein sogenannter Vermögensverzicht innerhalb der letzten zehn Jahre als Einkommen angerechnet werden. Wer aus Sicht der Behörden in dieser Zeit zu viel Geld ausgegeben hat, dem kann in der Folge die Sozialhilfe gekürzt werden.
Eine solche Praxis widerspreche dem in der Bundesverfassung verankerten Anspruch auf Hilfe in Not, kritisiert Christophe Roulin von der Fachhochschule Nordwestschweiz, der auf Sozialhilfe spezialisiert ist. Für den Beobachter ordnet er die Urner Pläne ein.
Christophe Roulin, der Kanton Uri schreibt zur Abstimmungsvorlage, «das revidierte Gesetz soll das Sozialhilfesystem aktuell abbilden». Mit Blick auf die Bestimmung zum Vermögensverzicht: Wie kommt diese Einschätzung bei Ihnen an?
Sie hat für mich eine zynische Note. Denn diese Vorlage zeigt in einem traurigen Sinn das aktuelle Verständnis von Sozialhilfe. Es hat sich zunehmend ein negatives Menschenbild etabliert: Sozialhilfebeziehende werden als Leute angesehen, die in erster Linie vom Staat profitieren wollen. Und die man folglich mit immer repressiveren Bestimmungen kontrollieren muss. Das Einrechnen eines Vermögensverzichts ist ein Ausdruck davon.
Gegen welche Prinzipien der Sozialhilfe verstösst eine solche Regelung?
Die Sozialhilfe ist das letzte Auffangnetz für Personen, die in eine finanzielle Notlage geraten sind. In dieser Situation haben sie Anspruch auf Hilfe, das steht so in der Bundesverfassung. Da darf es keine Rolle spielen, ob diese Not von einer Behörde als selbst verschuldet betrachtet wird oder nicht. Dieses sogenannte Finalprinzip kann nur bei Rechtsmissbrauch durchbrochen werden. Das hat unlängst das Bundesgericht bestätigt. Man spricht auch von Ursachenunabhängigkeit: Ein Amt darf den Zugang zur Sozialhilfe nicht danach beurteilen, ob jemand würdig ist, diese zu erhalten.
Zur Person
Das Gegenargument in Uri lautet: Man soll sein eigenes Geld nicht einfach verschleudern können, um nachher vom Staat unterstützt zu werden. Bei den Ergänzungsleistungen (EL) wird das ja auch so gehandhabt.
Es gibt einen Unterschied: Ergänzungsleistungen werden in den meisten Fällen zusätzlich zu einer Sozialversicherung wie der AHV oder der IV ausbezahlt. Wenn es da wegen Vermögensverzicht zu finanziellen Kürzungen kommt, sind die Auswirkungen deutlich geringer. Dazu kommt: Wer schon auf Stufe EL sanktioniert wird, wird später bei der Sozialhilfe für denselben Sachverhalt ein zweites Mal abgestraft. Das ist nicht tragbar. Wenn weder die EL noch die Sozialhilfe für die Existenzsicherung aufkommt – wer dann? Aus Sicht der betroffenen Menschen sind das düstere Aussichten: Ihr Fehlverhalten, so denn überhaupt eines vorliegt, wird ihnen nie mehr und von keiner Behörde jemals verziehen.
Wozu kann die Einrechnung von Vermögensverzicht im Extremfall führen?
Dazu, dass die Sozialhilfe ganz gestrichen und nur noch Nothilfe ausbezahlt wird. Das sind 8 bis 10 Franken für den täglichen Gebrauch.
Unter dem Existenzminimum.
Weit darunter. Und hier sind wir beim Prinzip der Menschenwürde, wie es auch in den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) festgehalten ist. Wenn Personen dauerhaft unter dem von der Skos definierten sozialen Existenzminimum leben müssen, ist dieses Prinzip aus meiner Sicht klar verletzt. Sprich: Die Menschen werden vom Staat gezwungen, in menschenunwürdigen Verhältnissen zu leben.
«Da öffnet sich ein zu grosses Feld an Ungewissheit und Willkür.»
Christophe Roulin, Fachhochschule Nordwestschweiz
Der «freiwillige Vermögensverzicht», um den es hier geht, ist ein schwammiger Begriff. Wie wird er definiert?
Allgemein versteht man unter Vermögensverzicht, dass jemand durch hohe Ausgaben oder Übertragungen an andere Personen sein eigenes Vermögen bewusst reduziert. Salopp gesagt: dass jemand auf zu grossem Fuss lebt. Aber wie will man auf Jahre zurück feststellen, ob diese Person gutgläubig oder mutwillig gehandelt hat? Da öffnet sich meines Erachtens ein zu grosses Feld an Ungewissheit und Willkür.
Können Sie die Bandbreite mit konkreten Beispielen abstecken?
Ein häufiger Fall dürfte sein, dass Eltern ihren Kindern Haus und Vermögen vererben und später ins Pflegeheim müssen, dieses dann aber nicht mehr selbst bezahlen können. Oder beispielsweise, wenn sie Opfer von Kryptobetrügern geworden sind; der Beobachter hat ein solches Schicksal eindrücklich beschrieben. Ebenfalls könnte in der Sozialhilfe sanktioniert werden, wer seine Liegenschaft unter Marktwert veräussert, einer Enkelin eine Weiterbildung mitfinanziert oder einen Teil seines Vermögens für wohltätige Zwecke spendet – ohne zu erahnen, dass er Jahre später in eine finanzielle Notlage geraten würde.
Aber wenn jemand sein gesamtes Vermögen vererbt, um anschliessend Sozialhilfe zu beantragen, können die Behörden diesen Missstand bereits heute durch die Pflicht zur Verwandtenunterstützung korrigieren. Dazu braucht es keine neue Regelung.
Könnte Uri ein Muster für andere Kantone vorgeben?
Ich befürchte es. Solche Entscheide strahlen aus, auch wenn sie aus einem kleinen Kanton kommen. Tatsächlich sieht der Kanton Bern aktuell ebenfalls vor, in seiner Revision des Sozialhilfegesetzes einen Vermögensverzicht einzurechnen. Und im Wallis und in Luzern werden ähnliche Bestimmungen bereits angewandt, wenn auch in abgeschwächter Form. Wenn in der Sozialhilfe ein Tabu erst einmal gebrochen ist, wird das schnell salonfähig.
Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 7. April veröffentlicht.
- Kanton Uri: Erläuternder Bericht über die Revision des Sozialhilfegesetzes
- Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos): Rechtsgrundlagen für die Sozialhilfe
10 Kommentare
Es ist traurig, wie wenig die reiche Schweiz für die Menschlichkeit übrig hat!
Ich bin mir sicher die Anzahl der Fälle ist überschaubar aber trotzdem sind das die Anfänge einer menschenverachtenden Kultur, wie sie sich mehr und mehr auf der Welt ausbreitet. Sozialhilfe ist schon kein Zuckerschlecken und wird nicht einfach verschenkt. Diese dann noch ganz abzulehnen und die Menschen auf die Strasse zu schicken ist herzlos, egal warum. Ein Sozialstaat muss das vertragen können, auch mal missbraucht zu werden, denn sonst gibt es diesen nicht mehr. Jeder kann Heute in Not geraten, ein Unfall, eine Krankheit… schnell ist es oft unverschuldet passiert. Halten wir mehr zusammen in der Schweiz!
Sehr traurig, dass die reiche Schweiz solche Maßnahmen umsetzen will. Das führt zu nichts Gutem.
Leider ist den Menschen die für solche Massnahmen sind, nicht klar, dass auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, absolut nichts ist das man anstreben möchte. Mit den aktuellen Beiträgen, ist es schon schwer überhaupt seine Rechnungen zu zahlen. Persönliche Bedürfnisse, wie ein Zug Abonoment/Ticket für z.B. Arzt oder Therapeuten Besuche liegen schon nicht drin. Elektrizität kaum zahlbar. Ausflüge, Soziale treffen sind nicht möglich sobald diese etwas kosten. Viele leute haben meiner Meinung immernoch das Gefühl, da könnte man ein "gutes Leben" davon haben. Ist leider nicht so, es ist eine Nothilfe und nicht mehr.
Viele denken das wird nur von Migranten und geflüchteten genutzt. In der Realität sieht es aber anders aus. Es sind viele Kranke, die von der IV abgelehnt wurden, die trotz allem eine solch schwere Krankheit/Verletzung/Beeinträchtigung haben, dass sie im Arbeitsmarkt nicht mehr angenommen werden können. Auch viele Leute bei denen die IV wegen überlastung zu lange hat bis, die Abklärungen überhaupt stattfinden. Dies geht oft mehr als 3 Jahre bis diese überhaupt starten, bis dahin ist das Krankentaggeld der Arbeitsversicherung schon längst ausgelaufen. Ich wage es zu Behaupten, dass mehr als 95% die Sozialhife beziehen, lieber in der Lage wären auf dem normalen Arbeitsmakt zu Arbeiten, als in dieser Situation zu sein.
Ich verstehe wirklich nicht, weshalb so ein Neid auf andere besteht, denen es noch schlechter geht als einem selbst. Die meisten wissen ja gar nicht, wie gut das es Ihnen im Vergleich zu vielen anderen geht. Hauptsache nach unten Treten, damit man sich selbst besser fühlt. Verstehe ich wirklich nicht.
Das ist bei uns in Reinach AG auch passiert. Als meine Tochter ( im Std. Tätig) von einem Tag zum andern keine Aufträge mehr bekam, schikane vom Arbeitgeber, musste sie auch kurz zur Sozialhilfe. 1300.- bekam sie. Und die auflage, sie müsse umziehen. Die Wohnung 1200.- : 2 ( weil sie Whg. Mit dem Bruder teilt) also 600.- wäre zu teuer🙈. Und meine Tochter ist Schweizerin seit Geburt. Und falls sie Arbeit findet, wo sie das Auto braucht, gäbe es 10 Rp!!!! Km geld. Jenseits von gut und bös…..