Am 18. Mai stimmt der Kanton Uri über die Revision des Sozialhilfegesetzes ab. Die Vorlage enthält Bestimmungen, die in Fachkreisen umstritten sind. Namentlich der Artikel 26 hat es in sich: Neu soll ein sogenannter Vermögensverzicht innerhalb der letzten zehn Jahre als Einkommen angerechnet werden. Wer aus Sicht der Behörden in dieser Zeit zu viel Geld ausgegeben hat, dem kann in der Folge die Sozialhilfe gekürzt werden.

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Eine solche Praxis widerspreche dem in der Bundesverfassung verankerten Anspruch auf Hilfe in Not, kritisiert Christophe Roulin von der Fachhochschule Nordwestschweiz, der auf Sozialhilfe spezialisiert ist. Für den Beobachter ordnet er die Urner Pläne ein.

Christophe Roulin, der Kanton Uri schreibt zur Abstimmungsvorlage, «das revidierte Gesetz soll das Sozialhilfesystem aktuell abbilden». Mit Blick auf die Bestimmung zum Vermögensverzicht: Wie kommt diese Einschätzung bei Ihnen an?
Sie hat für mich eine zynische Note. Denn diese Vorlage zeigt in einem traurigen Sinn das aktuelle Verständnis von Sozialhilfe. Es hat sich zunehmend ein negatives Menschenbild etabliert: Sozialhilfebeziehende werden als Leute angesehen, die in erster Linie vom Staat profitieren wollen. Und die man folglich mit immer repressiveren Bestimmungen kontrollieren muss. Das Einrechnen eines Vermögensverzichts ist ein Ausdruck davon.

Gegen welche Prinzipien der Sozialhilfe verstösst eine solche Regelung?
Die Sozialhilfe ist das letzte Auffangnetz für Personen, die in eine finanzielle Notlage geraten sind. In dieser Situation haben sie Anspruch auf Hilfe, das steht so in der Bundesverfassung. Da darf es keine Rolle spielen, ob diese Not von einer Behörde als selbst verschuldet betrachtet wird oder nicht. Dieses sogenannte Finalprinzip kann nur bei Rechtsmissbrauch durchbrochen werden. Das hat unlängst das Bundesgericht bestätigt. Man spricht auch von Ursachenunabhängigkeit: Ein Amt darf den Zugang zur Sozialhilfe nicht danach beurteilen, ob jemand würdig ist, diese zu erhalten.

Zur Person

Das Gegenargument in Uri lautet: Man soll sein eigenes Geld nicht einfach verschleudern können, um nachher vom Staat unterstützt zu werden. Bei den Ergänzungsleistungen (EL) wird das ja auch so gehandhabt.
Es gibt einen Unterschied: Ergänzungsleistungen werden in den meisten Fällen zusätzlich zu einer Sozialversicherung wie der AHV oder der IV ausbezahlt. Wenn es da wegen Vermögensverzicht zu finanziellen Kürzungen kommt, sind die Auswirkungen deutlich geringer. Dazu kommt: Wer schon auf Stufe EL sanktioniert wird, wird später bei der Sozialhilfe für denselben Sachverhalt ein zweites Mal abgestraft. Das ist nicht tragbar. Wenn weder die EL noch die Sozialhilfe für die Existenzsicherung aufkommt – wer dann? Aus Sicht der betroffenen Menschen sind das düstere Aussichten: Ihr Fehlverhalten, so denn überhaupt eines vorliegt, wird ihnen nie mehr und von keiner Behörde jemals verziehen.

Wozu kann die Einrechnung von Vermögensverzicht im Extremfall führen?
Dazu, dass die Sozialhilfe ganz gestrichen und nur noch Nothilfe ausbezahlt wird. Das sind 8 bis 10 Franken für den täglichen Gebrauch.

Unter dem Existenzminimum.
Weit darunter. Und hier sind wir beim Prinzip der Menschenwürde, wie es auch in den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) festgehalten ist. Wenn Personen dauerhaft unter dem von der Skos definierten sozialen Existenzminimum leben müssen, ist dieses Prinzip aus meiner Sicht klar verletzt. Sprich: Die Menschen werden vom Staat gezwungen, in menschenunwürdigen Verhältnissen zu leben.

«Da öffnet sich ein zu grosses Feld an Ungewissheit und Willkür.»

Christophe Roulin, Fachhochschule Nordwestschweiz

Der «freiwillige Vermögensverzicht», um den es hier geht, ist ein schwammiger Begriff. Wie wird er definiert?
Allgemein versteht man unter Vermögensverzicht, dass jemand durch hohe Ausgaben oder Übertragungen an andere Personen sein eigenes Vermögen bewusst reduziert. Salopp gesagt: dass jemand auf zu grossem Fuss lebt. Aber wie will man auf Jahre zurück feststellen, ob diese Person gutgläubig oder mutwillig gehandelt hat? Da öffnet sich meines Erachtens ein zu grosses Feld an Ungewissheit und Willkür.

Können Sie die Bandbreite mit konkreten Beispielen abstecken?
Ein häufiger Fall dürfte sein, dass Eltern ihren Kindern Haus und Vermögen vererben und später ins Pflegeheim müssen, dieses dann aber nicht mehr selbst bezahlen können. Oder beispielsweise, wenn sie Opfer von Kryptobetrügern geworden sind; der Beobachter hat ein solches Schicksal eindrücklich beschrieben. Ebenfalls könnte in der Sozialhilfe sanktioniert werden, wer seine Liegenschaft unter Marktwert veräussert, einer Enkelin eine Weiterbildung mitfinanziert oder einen Teil seines Vermögens für wohltätige Zwecke spendet – ohne zu erahnen, dass er Jahre später in eine finanzielle Notlage geraten würde.

Aber wenn jemand sein gesamtes Vermögen vererbt, um anschliessend Sozialhilfe zu beantragen, können die Behörden diesen Missstand bereits heute durch die Pflicht zur Verwandtenunterstützung korrigieren. Dazu braucht es keine neue Regelung.

Könnte Uri ein Muster für andere Kantone vorgeben?
Ich befürchte es. Solche Entscheide strahlen aus, auch wenn sie aus einem kleinen Kanton kommen. Tatsächlich sieht der Kanton Bern aktuell ebenfalls vor, in seiner Revision des Sozialhilfegesetzes einen Vermögensverzicht einzurechnen. Und im Wallis und in Luzern werden ähnliche Bestimmungen bereits angewandt, wenn auch in abgeschwächter Form. Wenn in der Sozialhilfe ein Tabu erst einmal gebrochen ist, wird das schnell salonfähig.

Hinweis: Dieser Artikel wurde erstmals am 7. April veröffentlicht.

Quellen