«Grosse Männer sind nicht bessere Chefs»
Die Berufswelt sei geprägt von unbewussten Fehlentscheiden, sagt Gudrun Sander. Die Professorin für Betriebswirtschaft weiss, was man dagegen tun kann.
Veröffentlicht am 22. November 2019 - 17:48 Uhr
Grosse Männer halten wir unbewusst für leistungsstark, Übergewichtige für nachlässig. Und Mütter seien weniger leistungsbereit, denken wir. Woher kommen solche Vorurteile?
Gudrun Sander: Vorurteile speisen sich aus der Erfahrung, aber auch aus unserer Kultur und Sozialisierung. Da verfestigen sich Bilder über bestimmte Menschengruppen bei uns, selbst wenn wir mit der Gruppe nichts zu tun haben. Diese unbewussten Vorurteile sind ein Mechanismus unseres Gehirns, um mit der Flut von Informationen zurechtzukommen. Es macht Abkürzungen, erkennt Muster und nimmt Informationen sehr selektiv auf. Diese Vorurteile helfen uns, schnelle Entscheidungen zu treffen – sie haben entwicklungsbiologisch gesehen unser Überleben gesichert. Bei sogenannten Kampf-oder-Flucht-Entscheidungen kann ich nicht innehalten und überlegen, ob ich fliehen soll. Auch wenn vor mir ein Auto bremst, muss ich automatisiert handeln. Zack, auf die Bremse.
Es hilft also dem Gehirn, solche schnellen Kategorien zu bilden. Doch diese können schnell diskriminierend werden – wo ist da die Grenze?
Zum Beispiel: Jemand hat zwei Mütter eingestellt, die sich beide als sehr unflexibel erwiesen haben, wenn es um Arbeitszeiten ging. Danach ist das Bild da, dass Mütter mit kleinen Kindern nicht flexibel sind – obwohl es viele Mütter gibt, die sehr flexibel sind. Aus Einzelerfahrungen verallgemeinert man und überträgt das wiederum auf den Einzelfall. Das ist ungerecht. Wir machen im Berufsalltag ständig unbewusst solche Annahmen. Falls eine Frau gerade das zweite Kind bekommen hat, nimmt man an, dass sie keine Zeit für eine Weiterbildung
hat. Da sage ich: Fragt doch die Frau einfach einmal!
Unbewusste Vorurteile – der Videoreport zum Thema
Quelle: Beobachter Bewegtbild
Wo wirken sich solche Vorurteile
aus?
Eigentlich überall. Bei Personalentscheiden, bei der Verteilung von Projekten im Team, auch im Bildungsbereich gibt es viele solche unbewussten Vorurteile. Kindern mit Migrationshintergrund traut man weniger zu, man fördert sie weniger, und irgendwann bewahrheitet sich diese Annahme. In der Schweiz geht man mit den unterschiedlichen Nationalitäten allerdings souveräner um als mit Grössen wie Alter oder Geschlecht. Ausländische Männer haben zum Beispiel gleiche Zutrittschancen zum Kader wie Schweizer Männer. Ausländische Frauen haben sogar bessere Zutrittschancen als Schweizerinnen. Der Hauptgrund ist, dass Schweizerinnen mehr Teilzeit arbeiten
und in Kaderpositionen vielfach nach wie vor Vollzeit die Norm ist. Diese Vorurteile haben auch viel damit zu tun, was wir als «normal» wahrnehmen. «Sehen heisst glauben» heisst das Stichwort. Das beginnt schon damit, dass Kinder in den Schulbüchern mehr Bilder von männlichen Wissenschaftlern sehen.
Der Wille zur Veränderung wäre also da, aber die unbewussten Vorurteile sind stärker?
Das kann man so sagen. Wir meinen immer, wir könnten so rational entscheiden, rein mit dem Verstand. Dabei werden wir von völlig irrelevanten Dingen beeinflusst wie der Grösse, dem Gewicht oder der Stimme einer Person. Wenn sich jemand nicht so redegewandt ausdrücken kann, weil er nicht Muttersprachler ist, schliesst man sofort, dass die Person nicht so intelligent ist. Männer profitieren beispielsweise immer noch ein bisschen von Übergewicht, wenn es um Lohn und Aufstiegschancen geht – trotz des heutigen Bildes des fitten Managers. Frauen dagegen unterstellt man bei Übergewicht, dass sie nicht diszipliniert seien. Für beide Geschlechter gilt jedoch, dass grössere Leute eher befördert werden. Und zwar einfach, weil man ihnen mehr zutraut. Statistisch gesehen nimmt deshalb die Grösse der Führungskräfte
mit jeder Hierarchiestufe zu. Natürlich sind das nicht die besseren Führungskräfte.
«In Orchestern konnte man die Frauenquote allein dadurch steigern, dass bei der Bewerbung alle hinter einem Vorhang vorspielen.»
Gudrun Sander, Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen
Was kann man überhaupt gegen unbewusste Vorurteile tun?
Es hilft, wenn man seine Muster und Schubladen kennt. Das ist der erste Schritt. Dann müssen Prozesse so verändert werden, dass ich gar nicht reinfallen kann. Zum Beispiel, indem man auf den Bewerbungsdossiers irrelevante Informationen wie Name, Alter, Zivilstand oder das Foto schwärzt, bevor man sich für eine Person entscheidet. Darum gibt es ja auch diese «Blind Auditions» bei Sendungen wie «Voice of Switzerland». Da sieht man die Leute nicht und konzentriert sich auf das Wesentliche. In Orchestern konnte man die Frauenquote allein dadurch steigern, dass bei der Bewerbung alle hinter einem Vorhang vorspielen
.
Und doch kommt irgendwann der Moment, in dem diese Vorurteile wieder ins Spiel kommen.
Natürlich stelle ich niemanden aufgrund des Lebenslaufs ein, aber so kommen andere Personen in die nächste Runde. Darunter können Talente sein, die ich sonst übersehen hätte. Die mit der Endung -ic im Namen werden nicht sofort aussortiert, auch nicht die 55-Jährige, die sehr motiviert und dynamisch sein kann. Zudem braucht es klare Kriterien für die Beurteilung. Dazu gibt es eine Studie, in der Leute gefragt wurden, ob Frauen oder Männer besser fürs Finanzcontrolling geeignet seien. Assoziativ kommt da immer der Mann. Wenn man jedoch die Kompetenzen für diese Funktion einzeln aufzählt – sehr exaktes Arbeiten zum Beispiel – und fragt, ob eher Männer oder Frauen über solche Kompetenzen verfügen, schneiden Frauen besser ab.
Soll man denn versuchen, das Bauchgefühl
ganz auszuschalten?
Nein, aber man muss es kritisch hinterfragen. Wenn ich unter Druck schnell eine Entscheidung treffen muss, steigt die Gefahr, dass Vorurteile durchschlagen. Es geht also darum, Tempo rauszunehmen. So erkenne ich vielleicht, dass dieser «tolle Typ» allen anderen im Team sehr ähnlich ist. Beim Rekrutieren versuche ich unbewusst Risiko zu minimieren, weil Fehlentscheide teuer sind. Eine Strategie ist, sich auf Altbewährtes zu verlassen oder Leute zu rekrutieren, die ähnlich ticken wie ich, die also an der gleichen Uni studiert haben und ein ähnliches Hobby haben. Dagegen helfen auch Brückenangebote, die ein risikofreies Kennenlernen ermöglichen. Ein Beispiel ist unser «Women Back to Business»-Programm, in dem Frauen nach längeren Berufspausen Praktika in Firmen absolvieren.
Sie und Ihr Team bieten Kurse gegen solche Vorurteile an, sogenannte Unconscious-Bias-Trainings. Was bringen die?
In der Feedbackrunde sagen viele Teilnehmende, dass sie zuvor glaubten, sie hätten diese Vorurteile nicht. Wenn wir jedoch Beispiele anschauen, nicken alle. Und wenn ich Statistiken zeige, etwa dazu, dass wir die Leistung automatisch besser bewerten, je höher eine Person in der Hierarchie ist, beginnen sie nachzudenken. Wir alle haben solche Vorurteile und reproduzieren sie, übrigens auch die, die negativ betroffen sind: Auch wir Frauen trauen Frauen weniger zu als Männern. Das ist kein Problem der weissen Führungsmänner.
Zur Person
Wurden Sie bei der Arbeit schon aufgrund Ihres Geschlechts, Ihrer Herkunft oder wegen Ihrer familiären Situation diskriminiert? Meinungsverschiedenheiten und Konflikte am Arbeitsplatz können vorkommen, doch eine Diskriminierung müssen Sie nicht hinnehmen. Erfahren Sie als Beobachter-Mitglied, wie Sie sich wehren können und was Ihre Rechte sind.
1 Kommentar
Wer kommt auf die abstruse Idee, dass Männer, vor allem grosse Männer, bessere Vorgesetzte sein könnten? Was hat Körpergrösse mit effektiver Intelligenz, Fähigkeiten, Führungsqualitäten zu tun?