Kann ein Opfer seinem Täter verzeihen?
Ist Vergeben möglich, wenn man Opfer eines brutalen Überfalls wurde? Posthalter Paul Steiger und Posträuber Rudolf Szabo haben es versucht.
Veröffentlicht am 24. November 2017 - 10:00 Uhr,
aktualisiert am 24. November 2017 - 10:00 Uhr
Das Grauen dringt durch die Hintertür ein. Es ist wenige Minuten nach 18 Uhr, als Jacqueline Steiger die Pakete der Post Hittnau ZH mit einem Handwagen zum Lieferwagen bringt, der hinter der Post steht. Ihre fünfjährige Tochter hilft ihr, sie trägt ein Paket. Der eineinhalbjährige Sohn tapst hinter der Mutter her.
Als sie alles verladen haben, fährt die Mutter die Kleinen auf dem Wägeli zurück in die Post. Das lieben sie. Hinter ihnen fällt die Tür langsam ins Schloss. Da preschen zwei maskierte Männer aus einer Wandnische und schlüpfen in den Postlagerraum. Die Mutter erstarrt. In panischer Angst ruft sie ihre Tochter, die bereits vom Wagen gehüpft ist, zu sich.
Später wird der Bankräuber Rudolf Szabo über diesen Moment sagen: «Als ich die Kinder sah, erschrak ich. Aber da war es schon zu spät zum Umkehren.» Posthalter Paul Steiger wird sagen: «Was heisst zu spät? Man kann immer umkehren.»
Vorerst nehmen die Dinge ihren Lauf. Vorn im Schalterraum hört Pöstler Steiger Schreie. Der Bub wird sich den Finger eingeklemmt haben, denkt er und geht nachschauen. Da sieht er die schwarz angezogenen Gestalten, der eine gross und stark, der andere kleiner, aber gut trainiert. Sturmmasken. Der eine hält seiner Tochter einen Revolver an den Kopf, der andere seiner Frau, die den kleinen Jungen an sich drückt. Trotzdem glaubt Steiger im ersten Moment noch an einen Scherz. So unvorstellbar ist alles.
Als er begreift, weist er seine Frau an, sich mit den Kindern gegen die Wand zu drehen. Damit sie wegsehen. Wenn wir ihnen das Geld geben, hofft er, überleben wir das. Der eine Räuber nimmt seine Frau, die Kinder und eine Mitarbeiterin als Geiseln, der zweite schlägt ihn brutal in die Magengrube. Dann hält er ihm die Pistole in den Nacken und zwingt ihn, den Tresorraum zu öffnen. Nach fünf Minuten fliehen die Täter mit 100'000 Franken.
Steiger löst den Alarm aus. Nimmt seine Frau in den Arm, tröstet die verstörten Kinder. Eigentlich hätte Jaqueline Steiger, die Teilzeit in der Post arbeitet, freigehabt an diesem 1. Dezember 1995. Doch ihr Mann fragte sie um 17.20 Uhr, ob sie kurz aushelfen könne.
Nur langsam findet die Familie in den Alltag zurück. Der Kleine fängt jedes Mal an zu weinen, wenn er einen Mann mit Helm oder Sturmmütze sieht. Die Tochter arbeitet das Trauma beim Kinderpsychiater auf. Weil sie Fortschritte zu machen scheint, wird die Behandlung nach einem Jahr abgeschlossen. Vielleicht zu früh, denn plötzlich verweigert die Sechsjährige alle feste Nahrung. Es dauert Monate, bis sie wieder etwas anderes als Brei isst. Mit 16 wird die Essstörung dann mit voller Wucht zurückkommen. Anorexie. Das Mädchen wird so dünn sein, dass es zuerst in die Klinik und dann zur Therapie in eine betreute Wohngemeinschaft muss. Zunehmen, abnehmen, ein stetes Auf und Ab.
Irgendwann wird sie so stabil sein, dass sie ihren Traumberuf erlernen und ausüben kann, Polizistin. «Aber es ist nicht vorbei», sagt Jacqueline Steiger. «Die Krankheit wird sie ein Leben lang begleiten.» Natürlich kann niemand mit Sicherheit sagen, ob die Magersucht eine Folge des Überfalls ist. Aber warum sonst sollte die Sechsjährige eine Essstörung entwickeln?
«Nur einer trägt die Verantwortung für das, was ich getan habe: ich selbst.»
Rudolf Szabo, Täter
Drei Monate nach dem Überfall wird Szabo gefasst. Er gesteht sieben bewaffnete Raubüberfälle. Noch aus der Untersuchungshaft schreibt er den ersten Brief an Jacqueline und Paul Steiger. Er habe selbst fünf Kinder, steht da in geschwungener Handschrift. Seine Situation sei ihm nach der Scheidung und einem Konkurs ausweglos erschienen. «Ich möchte mich bei Ihnen für das, was ich Ihnen angetan habe, in aller Form entschuldigen.»
«Was glaubt der Schafseckel eigentlich?», entfährt es Paul Steiger, als er die Zeilen liest. Wütend zerknüllt er den Brief. Seine Frau Jacqueline streicht ihn wieder glatt, schreibt eine kurze Antwort. Für die Kinder sei es schwierig, teilt sie dem Mann mit, der ihrer Familie Alpträume beschert. Und fügt an: Dass Szabo ebenfalls in Schwierigkeiten stecke, tue ihr leid.
Steiger tritt vor Gericht als Zivilkläger auf. Als sein Gesuch um unentgeltlichen Rechtsbeistand abgelehnt wird, platzt ihm der Kragen. «Die klauen wie die Raben und erhalten gratis einen Rechtsbeistand? Die Opfer aber müssen den Anwalt selbst bezahlen?»
Als er am 19. August 1998 bei der Gerichtsverhandlung in St. Gallen die Gelegenheit bekommt, sich zu äussern, versagt seine Stimme. Er fühlt nur noch Ohnmacht. Dass dem Täter der prominente Anwalt und Nationalrat Paul Rechsteiner als Pflichtverteidiger zur Seite gestellt wird, passt für ihn ins Bild: Für die Täter sorgt das Rechtssystem bestens, die Opfer müssen selber schauen.
Im August 1998 wird Szabo zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt. Wegen Hausfriedensbruchs, Freiheitsberaubung, Geiselnahme und mehrfachen Raubs. Steiger ist enttäuscht, er weiss: Wenn sich Szabo im Gefängnis «einigermassen normal» verhält, wird er nach sechs Jahren draussen sein. Der Komplize, ein ehemaliger Angestellter von Szabo, ist erst 18, er «darf» in einer Erziehungsanstalt eine Lehre machen. Ginge es ihm besser, wenn die Strafen höher ausgefallen wären? Steiger hat auch Jahre später keine Antwort auf diese Frage.
«Es ist mir gelungen, in ihm etwas Gutes zu sehen. Das hat auch mir geholfen.»
Paul Steiger, Opfer
Szabo wird nach dem Prozess in die Strafanstalt Saxerriet bei St. Gallen verlegt. Wie lebt man weiter, wenn man weiss, dass zur gleichen Zeit Bankangestellte, Kassiererinnen und ganze Familien die Traumata zu überwinden versuchen, die man ihnen zugefügt hat? Szabo plagen Schuldgefühle. Auch gegenüber seinen eigenen Kindern, die in der Schule gemobbt werden, weil ihr Vater im Gefängnis sitzt. Er findet Trost beim Gefängnispfarrer. Und zu Gott. Wenn er nur etwas wiedergutmachen könnte, denkt er, wäre das doch schon etwas. Er bietet Steigers an, ihnen jeden Monat 100 Franken zu überweisen, für die laufenden Therapiekosten. Obwohl Steigers der Meinung sind, dass man mit Geld nichts wiedergutmachen kann, gehen sie auf den Vorschlag ein. Das Geld wollen sie später den Kindern geben. Doch schon nach wenigen Monaten versiegen die Zahlungen, Szabo ist pleite.
2001 schreibt Szabo den Steigers, dass er demnächst Hafturlaub habe und sie treffen wolle, um sich ihre «berechtigten Vorwürfe» anzuhören und sie persönlich «in aller Form um Entschuldigung zu bitten». «Jetzt hat der Kerl auch noch Urlaub!», sagt Steiger. Dann fährt er aber doch nach Wetzikon, wo sie sich in einem Migros-Café verabredet haben. Gleich zu Beginn stellt er klar, dass er nach einer Stunde aufstehen und rausgehen werde.
Szabo beginnt zu erzählen. Vom Konkurs und von der Exfrau, die fremdgegangen sei. «Eines Tages kam ich von der Arbeit nach Hause und fand ein leeres Haus vor. Meine Familie war weg. Ich hätte 6200 Franken Alimente zahlen sollen, wusste aber nicht wie.» Innert dreier Monate musste er einen Kredit über 100'000 Franken an die Bank zurückzahlen. Dabei konnte er nicht mal seine Angestellten bezahlen.
Die Abwärtsspirale drehte sich immer schneller. Irgendwann legte er sich zurecht: «Wenn Bankchefs einen kleinen Bauunternehmer vernichten können – warum nicht den Spiess umdrehen und das Geld einfach wieder bei ihnen holen?»
Philosophie: Wann gelingt es, zu verzeihen?
Vergeben, versöhnen, verzeihen: Das gelingt, wenn wir der Spirale aus Schuld und Sühne entkommen, erklärt die Philosophin Svenja Flasspöhler.
Unterdessen habe er eingesehen, dass dies Rechtfertigungsstrategien seien, versichert er Steiger. Er habe hart an sich gearbeitet und sich verändert. So sehr, dass er jetzt Sozialarbeiter werden wolle. Steiger verschlägt es fast die Sprache. «Sind Sie sicher? Sie sitzen ja noch in der Chischte!» – «Ja, ich habe einen Fehler gemacht. Jetzt will ich jungen Tätern zeigen, was das bedeutet», sagt Szabo. Und fügt an: «Vor allem für die Opfer.»
Aus einer Stunde werden zwei. «Wie soll ich sagen?», überlegt Steiger später. «Es hat mich dann doch interessiert.» Als er das Café verlässt, denkt er: «Der ist ja auch ein armer Siech.» Szabo ist nach der Begegnung aufgewühlt. Immerzu denkt er an Steigers Kinder, die im selben Alter wie seine eigenen sind.
Reicht Betroffenheit, damit einer nicht rückfällig, vielleicht sogar ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft wird? Nein, dafür braucht es auch Menschen wie Elisabeth Moser, die eine solch radikale Veränderung provozieren und begleiten.
Seine Tat sei das Resultat einer Verkettung unglücklicher Zufälle? Er selbst ein Opfer? Frauen liederliche Schlampen? Nichts lässt ihm die resolute Gefängnistherapeutin durchgehen. Sie schimpft ihn einen Feigling, weil der ausgebildete Kampfsportler, Grenadier und Scharfschütze mit einer geladenen Waffe auf Kleinkinder gezielt hat. Und als er darauf wutentbrannt ihr Büro verlässt, ruft sie ihm nach: «Und dann laufen Sie auch noch davon!»
Moser macht ihm klar, was ein Aggressions- und Minderwertigkeitsproblem ist. Und was das mit Szabos Vater zu tun hat, der seinen Jungen schlug, sogar als dieser wehrlos am Boden lag. Szabo lernt, dass dies sein gewalttätiges Verhalten bis zu einem gewissen Grad zu erklären, niemals aber zu entschuldigen vermag. Irgendwann gesteht er sich ein: «Nur einer trägt die Verantwortung für das, was ich getan habe: ich selbst.»
Sein obskures Frauenbild kuriert unterdessen der Gefängnispfarrer. Szabo erzählt ihm, eine Zuhälterclique habe ihm für die Heirat mit einer polnischen Prostituierten 40'000 Franken geboten. Nach zwei Jahren hätte er sich scheiden lassen und die nächste heiraten können. «So hätte ich mich bis zu meiner Entlassung finanziell saniert und erst noch gratis Sex bekommen.»
Es gebe keine Liebe, sagen die Zuhälter. Liebe sei bloss eine Illusion, mit der die Frauen die Männer von sich abhängig machten. Szabo ist gern bereit, dies zu glauben – bis der Gefängnispfarrer fragt: «Und was ist das, was dich mit deinen Kindern verbindet?»
Szabo bemüht sich. Er macht zuerst eine Ausbildung zum Reporter, nach seiner Entlassung 2002 bildet er sich im sozialen Bereich weiter. Während eines Praktikums arbeitet er zum ersten Mal mit gewalttätigen Jugendlichen. Als er merkt, dass sein Einfluss auf sie gerade wegen seiner Vergangenheit gross ist, sieht er seine künftige Rolle immer klarer.
Ob ihm Steiger verziehen habe, hat sich der geläuterte Bankräuber nie zu fragen getraut. «Das steht mir als Täter nicht zu», sagt er in Liestal BL. Dort, im Jugendsozialwerk des Blauen Kreuzes, coacht er heute Jugendliche mit einer schwierigen Vergangenheit und erzählt ihnen seine Geschichte. Szabo spricht reflektiert, redet von «patriarchalischen Denkstrukturen», warnt vor einer «Retraumatisierung der Opfer». Ein Musterschüler, dem das psychologische Vokabular in Fleisch und Blut übergegangen ist. Jetzt seufzt er: «Aber ja, natürlich habe ich diese Sehnsucht nach Vergebung.»
Verzeihen? Steiger schüttelt den Kopf. «Wären die Kinder nicht involviert gewesen, könnte ich es.» Er ist jetzt pensioniert. Seine Frau Jacqueline hat bis vor einem Jahr in der Post Kollbrunn ZH gearbeitet, die in dieser Zeit zweimal überfallen wurde. Zum Glück hatte sie an beiden Tagen frei. Steiger wirkt gefestigt – ausser wenn die Wut hochkommt. Dann wird der Boden brüchig. Bleibt man ein Leben lang Opfer, wenn man nicht verzeihen kann? Steiger bejaht. Immerhin sei es ihm gelungen, auch in Szabo etwas Gutes zu sehen. «Das hat auch mir geholfen.» Er hat grossen Respekt vor dessen Wandlung. «Wie er das durchgezogen hat, ist sensationell.»
Szabo lächelt, als er davon hört. «Ja, die Sturheit, die mich damals in der Postfiliale nicht umkehren liess, hat sich in eine Stärke verwandelt. Ohne sie hätte ich diesen weiten Weg nicht geschafft.» Seit Jahren setzt er sich für Opfer ein. Im Mai 2005 fragt er Steiger, ob er mit ihm in einer TV-Sendung und einem Dokfilm zum Thema Opfer und Täter reden würde. «Mein Wunsch ist es, dass wir diese Aktivitäten gemeinsam durchziehen», hat Steiger geantwortet. Obwohl er weiss, dass dann alles wieder hochkommt. «Wenn ich nur einen einzigen Straftäter vor einem Rückfall bewahren kann», sagt er, «hat es sich gelohnt.»
Und Szabo? Hat er sich wenigstens selbst verziehen? Er habe es lange nicht gekonnt, sagt er. Und als er es dann endlich getan habe, sei ihm die Schuld wie eine Tonne von den Schultern gefallen. «Von diesem Moment an konnte auf dem Riesenmist, den ich gebaut hatte, etwas wachsen.»
Paul Steiger und Rudolf Szabo setzen sich heute gemeinsam für Gespräche zwischen Opfern und Tätern ein – im Rahmen eines für die Schweiz bisher einzigartigen Projekts der sogenannt restaurativen Justiz: In einem Gefängnis treffen sich Opfer und verurteilte Straftäter vergleichbarer Verbrechen während acht Wochen.
In einer herkömmlichen Täter-Opfer-Mediation geht es vor allem darum, eine einvernehmliche Regelung zwischen Beschuldigtem und Geschädigten zu finden. Hier dagegen steht die Aufarbeitung der Tat im Mittelpunkt, im besten Fall wird dadurch eine Versöhnung in Gang gebracht. Es sind «nur» indirekte Dialoge, die Täter werden also nicht mit «ihren» Opfern konfrontiert.
Dennoch können die Dialoge etwas auslösen, sagt Initiatorin Claudia Christen. «Opfer können danach besser mit dem Erlebten abschliessen», so die Expertin für restaurative Justiz und Mediatorin. «Sie führen den Tätern die Auswirkungen ihrer Taten vor Augen. Die Täter entwickeln Opfer-Empathie und lernen, Verantwortung zu übernehmen. So werden Rückfälle reduziert. Damit hat man schon in über 30 Ländern sehr gute Erfahrungen gemacht.»
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