Die Hälfte der Kita-Betreuerinnen hat keine Ausbildung
In Kitas und Spielgruppen fehlt das Geld, um Fachpersonal anzustellen. Das kann negative Folgen für die Entwicklung der Kinder haben.
Veröffentlicht am 5. September 2023 - 06:00 Uhr
Irgend etwas stört mich in dieser Kita. Es ist ein Gefühl, das ich im ersten Moment nicht benennen kann: Die Räume sind sauber, die Spielecken aufgeräumt – vielleicht zu aufgeräumt. Nur ein Punkt ist offensichtlich etwas seltsam. Als die Leiterin sagt, sie könne über das Betreuungskonzept nur wenig sagen, bin ich irritiert. Sie sei erst seit zwei Wochen da, und es habe sie niemand mehr einführen können.
Als ich mich später mit einer Sozialpädagogin über die Eindrücke austausche, erfahre ich, dass mich mein Gefühl nicht täuschte. Es war richtig, mein Kind nicht dorthin zu schicken: Obwohl sich die Kita um eine gute Betreuung der Kinder bemüht, fehlt ein pädagogisches Konzept, das Personal wechselt häufig. Oft absolvieren die jungen Mitarbeiterinnen ein Praktikum und ziehen nachher beruflich weiter. Ich beobachte, wie sie mit einer grossen Kinderschar allein durchs Dorf spazieren.
Gutes Kita-Personal ist schwer zu finden
Die Beobachtungen, die ich als Mutter gemacht habe, liegen sieben Jahre zurück und sind zum Schutz der Institution leicht verfremdet. Denn es geht hier nicht um den Einzelfall. Die Probleme sind Ausdruck eines strukturellen Problems , wie eine neue Studie der Hochschule Luzern zeigt.
Die Mitarbeiterinnen in Kitas, Spielgruppen und Hausbesuchsprogrammen arbeiten in einer sehr lärmigen und stressigen Umgebung. Die Löhne sind tief, gut qualifiziertes Personal ist schwer zu finden. Aus Geld- und Fachkräftemangel stellen die Institutionen häufig Personen ein, die keine fachlichen Qualifikationen haben. So kommt es, dass Praktikantinnen, Lernende und Ungelernte wegen Engpässen teilweise über mehrere Stunden alleine für eine Gruppe von Kindern verantwortlich sind. Stress und Überforderung sind programmiert.
Teils fehlten Richtlinien komplett
Das hat Folgen. Wenn die fachlichen Kompetenzen fehlen, reagieren die Betreuungspersonen nicht angemessen auf die Bedürfnisse der Kleinen. Eine qualitativ gute frühkindliche Betreuung trägt aber gemäss Co-Studienautor Martin Hafen dazu bei, dass die Kinder wichtige Lebenskompetenzen entwickeln. Der Soziologe der Hochschule Luzern führt ins Feld, dass die eigenen Lebenserfahrungen und das Bauchgefühl nicht reichen, um zu beurteilen, was ein Kind braucht. Dazu sei neben einer guten Beobachtungsgabe und Feingefühl auch das Bewusstsein nötig, dass man die eigenen Erlebnisse mit wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Neurobiologie abgleichen muss.
Für die Studie füllten Kita-Leiterinnen, Verantwortliche von Spielgruppen und Hausbesuchsprogrammen einen Onlinefragebogen aus. Zudem führten die Autoren Interviews mit 20 formal nicht qualifizierten Mitarbeitenden. Die Ergebnisse zeigten, dass in den Institutionen teils nur ein rudimentäres Qualitätsbewusstsein vorhanden ist. «Wenn Betreuerinnen sagen, dass ein Tag dann gut war, wenn die Kinder nicht zu viel gestritten haben und die Eltern bei der Übergabe zufrieden sind, hat das wenig mit pädagogischer Qualität zu tun», sagt Hafen. Vielerorts fehlt ein Regelwerk, wie die Betreuungspersonen mit schwierigen Situationen umgehen sollen.
Stress bei Kindern und Mitarbeitern
«Es ist wissenschaftlich breit belegt, dass solche Stresssituationen im Kleinkindalter einen negativen Einfluss auf die weitere Entwicklung haben», sagt Hafen. Bei einer ungünstigen Entwicklung kommt es zu Defiziten beim Spracherwerb, es folgen schlechtere Schulnoten und ein erschwerter Einstieg ins Berufsleben. Die Gefahr steigt, dass es zu einer Abhängigkeit vom Sozialstaat kommt – was sich oft negativ auf die Gesundheit auswirkt. Besonders gefährdet sind Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen.
Martin Hafen betont, schuld an der Situation in den Kitas und Spielgruppen seien nicht die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. «Sie reiben sich richtiggehend auf und wollen nur das Beste für die Kinder.» Gerade für Leute ohne Fachausbildung ist es schwierig, eine akzeptabel bezahlte Stelle zu finden. Sie halten sich mit Kleinstpensen über Wasser, was dazu führt, dass sie keine Pensionskassenbeiträge einzahlen können. Diese Mitarbeiterinnen laufen Gefahr, im Alter in die Armut abzurutschen. Durch die zerstückelten Arbeitseinsätze ist es ihnen zudem oft nicht möglich, die Ausbildung nachzuholen.
Gleichzeitig könne man auch den Betreuungsinstitutionen nicht die Schuld an der Situation geben, findet Hafen. Gemäss der Studie haben die Kitas aktuell nicht die Möglichkeit , den Betrieb so zu organisieren, dass ausreichend Personalressourcen vorhanden sind und eine Qualitätssicherung möglich ist. «Der Staat muss darum dafür sorgen, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Private gute Bildung anbieten können.»
«Die eigenen Lebenserfahrungen und das Bauchgefühl reichen nicht, um zu beurteilen, was ein Kind braucht.»
Martin Hafen, Soziologe an der Hochschule Luzern
Aktuell verhandelt das Parlament über ein Finanzierungspaket von 700 Millionen Franken für familienergänzende Betreuung. Das Geld ist laut Hafen dringend notwendig – aber nicht nur, um Familien finanziell zu entlasten . Das Geld müsse auch in die Ausbildung im frühkindlichen Bereich fliessen. «Erziehung ist Familiensache. Aber wenn ich mein Kind in eine Kita bringe, erwarte ich, dass dort Leute sind, die wissen, warum sie wie handeln.» Die Haltung, dass jeder Kinder erziehen könne und man selbst ja auch gut rausgekommen ist, sei fehl am Platz.
Um die Rahmenbedingungen zu verbessern, brauche es dringend Weiterbildungsmöglichkeiten für bislang unqualifizierte Mitarbeitende. «Für sie müssen wir niederschwellige Ausbildungsmöglichkeiten anbieten, damit sie die Qualifikationen nachträglich erwerben können», sagt Hafen. Sie sind im aktuellen System wichtige Stützen, da ohne sie vielerorts der Betrieb zum Erliegen käme.
Martin Hafen beobachtet seit Jahren, dass in der Schweiz immer noch die Meinung vorherrscht, dass das Kind erst mit zunehmendem Alter besser ausgebildete Bildungs- und Betreuungspersonen brauche. Im europäischen Ausland dagegen habe sich die wissenschaftlich gestützte Erkenntnis durchgesetzt, dass genau das Gegenteil der Fall sei.
Die Phase von null bis vier Jahren ist gemäss Hafen eine hochsensible, und es gebe keinen Grund, hier weniger zu investieren als in der späteren Schulkarriere. «Wir würden uns auch wundern, wenn am Gymi lauter Pensionäre eingesetzt würden, die als Freiwillige auf der Basis ihrer Lebenserfahrungen ein bisschen unterrichten.»
4 Kommentare
Frage: Haben alle Mütter eine Ausbildung, wenn nicht dürften sie auch keine Kinder haben!
Heute muss man für jeden "Scheiss" ein Papier vorweisen, Guter Menschenverstand und können ist nicht mehr gefragt.
Es ist ja schon skandalös, dass Person*innen ohne Fachausbildung überhaupt schwanger werden und Kinder in die Welt setzen dürfen. Wo kommen wir denn da hin, wenn Frauen ohne Hochschulabschluss Kinder beaufsichtigen? Haben wir denn aus den vergangenen Jahrhunderten nicht gelernt, dass dies zu schweren Entwicklungsstörungen bei unseren Kleinsten führen muss?
Schade, dass KITAS von zukünftigen Lehrlingen und Lehrtöchtern bei uns in der Ostschweiz immer ein Jahr Praktikum verlangen, bevor sie eine Lehrstelle vergeben. Ich kenne keine vergleichbare Ausbildung, die ähnliches verlangt. Ein Schelm ist, der den KITAS unterstellt, so zu billigen Hilfskräfte zu kommen. Ich bin gerne so ein Schelm. Dies ist ein absolutes No go und gehört abgestellt. Eine seriöse Lehrlingsauswahl geht anders.
Stefan Gantenbein
pensionierter Schulleiter und Berufswahlcoach
Aus eigener Erfahrung weiss ich dass alles stimmt was in diesem Artikel steht. Kita's können ihre Betriebe nur aufrechterhalten indem sie PraktikantInnen anstellen, die weniger Kosten.Es ist wichtig, dass Kita's mit Steuergelder unterstützt werden. So wie die Agrarwirtschaft oder die Armee.