Frühstgeborene – ein Tabuthema
Michel Huissoud kennt Bundesbern wie kaum ein Zweiter. Für den Beobachter wirft der ehemalige Direktor der Eidgenössischen Finanzkontrolle kritische Blicke auf Politik und Wirtschaft.
Veröffentlicht am 21. September 2023 - 14:52 Uhr
1987 kam das erste Frühgeborene mit einem Gewicht von weniger als 500 Gramm auf die Welt. 2020 wogen in der Schweiz bereits 123 Babys bei der Geburt weniger als ein halbes Kilo.
Dank dem medizinischen Fortschritt überleben heute sehr junge Frühgeborene. Aber unter welchen Bedingungen? Und ist das wirklich ein Fortschritt? Frühstgeborene verbringen oft mehrere Monate auf der Intensivstation in einem Inkubator. Viele bleiben ihr Leben lang beeinträchtigt. Die Liste der Risiken ist lang. Direkt gefährdet sind die Gehirnmotorik, die intellektuellen Fähigkeiten und das Verhalten der Kinder.
Die Empfehlung der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie ist daher eindeutig: «Auf der Grundlage der derzeit verfügbaren Daten zur langfristigen Mortalität und Morbidität wird sich die Betreuung von Frühgeborenen mit einem Gestationsalter von weniger als 24 Wochen (weniger als 600 Gramm) in der Regel auf palliative Massnahmen beschränken müssen.» Es geht also primär darum, die Eltern zu begleiten und sicherzustellen, dass ihr Neugeborenes ohne Schmerzen sterben darf.
Warum also immer mehr extrem früh Geborene? Aus ökonomischer Sicht, sagen wir es offen, ist das fragwürdig. Die Geburt von Kindern in diesem frühen Entwicklungsstadium verursacht hohe Kosten – bei oft geringen Überlebenschancen oder relativ kurzer Lebensdauer. Hinzu kommen Ausgaben für körperliche und/oder geistige Beeinträchtigungen, an denen viele von ihnen ein Leben lang leiden werden. Neonatologie-Experten warnen daher vor dem unnötigen Einsatz von Ressourcen für die Behandlung von Frühstgeborenen, die kaum lebensfähig sind oder eine sehr ungünstige Gesundheitsprognose haben.
Das Thema ist aus einem weiteren Grund delikat. Bei sogenannten Geburtsgebrechen tragen nicht die Krankenversicherungen oder die Kantone die Kosten, sondern die Invalidenversicherung. Obwohl die medizinischen Massnahmen eigentlich keine invalide Person betreffen, sondern – schlimmstenfalls – zu einem neuen Invalidenfall beitragen.
Aber es geht nicht nur um Geld. Ich frage mich auch, warum Eltern bereit sind, für ihr Kind ein solches Risiko einzugehen. Sind sie sich der Folgen ihrer Entscheidung insbesondere für ihr Neugeborenes, für dessen Geschwister, für ihr eigenes Leben und nicht zuletzt auch für die Gesellschaft wirklich bewusst? Wer verleitet sie dazu, diese Risiken einzugehen? Sind sie ausreichend aufgeklärt? Ich meine, die Krankenhäuser müssten diese Aufklärungsarbeit besser wahrnehmen.
Und ich frage mich: Wer von der Invalidenversicherung oder vom Eidgenössischen Departement des Innern wird den Mut haben, die von der Wissenschaft empfohlene Untergrenze bei Frühgeburten auf 24 Wochen festzuschreiben? Um Eltern und Ärzteteams von dieser unmöglichen Entscheidung zu befreien, über Leben oder Tod der Kinder befinden zu müssen.