Gib mer Nuss und Bire – aber nicht mehr
Der Samichlaus bereitet sich auf seinen diesjährigen Einsatz vor. Was soll er bei den Kindern tun und was besser lassen? Beobachter-Rechtsberater Walter Noser schreibt ihm einen Brief.
Veröffentlicht am 25. November 2019 - 16:15 Uhr
Lieber Samichlaus
Als Kind musste ich meiner Mutter immer in der Küche helfen. Weil ich wusste, dass du unartige Kinder manchmal in den Sack steckst, drückte ich mich nur selten vor dieser Aufgabe. Eines Tages – meine Mutter machte den Abwasch, ich musste abtrocknen – sagte sie ohne Vorwarnung, dass es den Osterhasen nicht gibt. Und das Christkind auch nicht. Nicht einmal dich, lieber Samichlaus.
Vor Schreck zerbrach ich das Glas in meiner Hand. Das Trocknungstuch und meine Hände waren voller Blut. Mutter tröstete mich, legte mir einen Druckverband an und erklärte mir, dass nur kleine Kinder an den Osterhasen, ans Christkind und an dich glauben. Das machte die Sache halbwegs wieder gut, gehörte ich doch fortan zu den Grossen. Doch die Narbe, die ich davontrug, erinnerte mich noch lange daran, dass das Erkennen der Realität ein schmerzhafter Prozess sein kann.
Ab da glaubte ich, dass du bloss ein verkleideter Mann seist. Meistens bist du das ja auch. Neuerdings verkleiden sich sogar Frauen als Samichläuse – allen Gender-Diskussionen zum Trotz ist das ein No-Go, wenn du mich fragst. Doch so ändern sich die Zeiten.
Heute verwechseln dich auch immer mehr Leute mit dem Weihnachtsmann, der nicht wie du einen roten Mantel trägt, sondern Hosen, die er in Stiefel steckt. Zudem ist dein Kollege nicht mit dem Esel, sondern mit einem Rentiergespann unterwegs. Anders als du ist er ein cleverer Geschäftsmann, der für grosse Konzerne arbeitet und das Weihnachtsgeschäft Jahr für Jahr schon nach den Herbstferien ankurbelt.
Du hingegen versteckst dich an 364 Tagen im Jahr tief im Wald und zeigst dich nur am 6. Dezember. Schätzungen zufolge besuchst du dann 1,5 Millionen Kinder in einer Million Haushalten. Wie du das schaffst, ohne gegen die Gesetze der Physik zu verstossen, berechnete das «Magazin» des Tages-Anzeigers vor einem guten Jahr: Dein Energieverbrauch wird von Sonnenkollektoren produziert, die so gross sind wie der Kanton Tessin. Zur Speicherung der Energie heizt man das Innere der Berge auf und gewinnt sie mit Wärmepumpen zurück. Irgendwie so. Ich muss ehrlich sagen, dass ich die Berechnung zwar lustig fand, aber nicht ganz verstanden habe.
Das spielte aber auch keine Rolle mehr, als du im letzten Winter erstmals nach einem halben Jahrhundert wieder leibhaftig vor mir standest. Ich war erfreut, dass du mehr Zeit als die Zehntelsekunde zur Verfügung hattest, die dir gemäss «Magazin» pro Haushalt bleibt, um dein Tages-Soll am 6. Dezember zu absolvieren. Du bist sicher eine gute halbe Stunde bei mir geblieben. In all den Jahren hast du dich kaum verändert. Nicht einmal älter bist du geworden, denn alt warst du schon, als ich noch klein war.
Trotzdem: Die gesellschaftlichen Veränderungen sind nicht spurlos an dir und an deinem Tun vorübergegangen. Zum Glück, würde ich sagen. Mir hast du früher unter dem Gejohle der Erwachsenen noch mit Gewalt den Nuggi weggenommen – heute würde ein solcher Akt als Kindswohlgefährdung angesehen. Einen meiner Kindergartenfreunde hast du sogar einmal tatsächlich in den Sack gesteckt, anderen mit der Rute den Hintern versohlt. Heute würde dir deswegen zu Recht eine Anzeige in dein Samichlaushüüsli flattern, wo immer das auch steht. Mit GPS könnte man dich orten.
Aber nicht nur du hast dich verändert. Auch die Eltern. Eltern, die ihren Kindern ständig mit dir drohen, müsste die Kesb einen Erziehungsbeistand stellen.
So standest du also vor mir, und in deinem grossen goldenen Buch stand über alle Anwesenden etwas – auch über mich. Auch das ist neu: Früher hast du bloss mit Kindern gesprochen. Nun hast du mir vorgelesen, was ich im Leben gut mache, und hast mich daran erinnert, was nicht so gut läuft. Ich will das an dieser Stelle nicht wiederholen, denn vielleicht hast du es ja vergessen. Jedenfalls gelobte ich mit hochroten Ohren Besserung. Als ich dann auch noch ein Sprüchli aufsagen sollte, stockte mir der Atem, und ich fühlte mich wieder wie der Walterli von damals.
Ansonsten ging es mir wie allen anderen: Ich hatte grossen Respekt vor dir, merkte aber schnell, dass du ein herzensguter und sehr weiser Mann bist. Du hast dich sogar auf Gespräche eingelassen, schliesslich sind wir jetzt im Kommunikationszeitalter. Ein Kind fragte, wo denn der Schmutzli und der Esel seien. Du hast geantwortet, dass dein Eseli ein Junges bekommt und der Schmutzli deshalb bei ihm bleiben muss. Ein anderes Kind fragte, wer denn eigentlich all die anderen Chläuse seien, die es tagsüber gesehen hat. Doch du liessest dich nicht auf Diskussionen ein. Du sagtest mit deiner tiefen Stimme einfach, dass du jedenfalls der für ihn zuständige Samichlaus seist. Damit war alles klar, schön und gut.
Dennoch habe ich eine Bitte an dich: Überlass das mit den Geschenken – den materiellen, die richtig Geld kosten – doch dem Weihnachtsmann oder dem anderen himmlischen Boten, dem Christkindli. Weisst du noch, wie ich dich vor einem halben Jahrhundert strahlend anschaute, als du mir ein Chlaussäckli gabst? Ich glaube, ich hatte später an ein paar Nüssen nie mehr eine solche Freude. Soll diese Seligkeit heutigen Kindern nicht gegönnt sein?
Doch nun will ich diesen Brief beenden und das Versli üben, von dem ich letztes Jahr nur noch den Anfang wusste.
Dein Walter