Männer prügeln ungestraft
Täglich schlagen Männer zu. Die Polizei muss eingreifen, doch viele Frauen stoppen das Verfahren. Ein neues Gesetz soll helfen – Fachleute zweifeln.
Veröffentlicht am 31. Januar 2019 - 18:16 Uhr,
aktualisiert am 31. Januar 2019 - 11:39 Uhr
«Ich bringe dich um!» Der Satz geht Daniela Moser* durch Mark und Bein. Ihr Mann ist wieder mal betrunken nach Hause gekommen. Kaum ist die Tür zu, zettelt er Streit an. Er unterstellt ihr, sie gehe fremd, betrüge ihn, lüge ihn an. Den Worten folgen Schläge. Er boxt sie ins Gesicht, packt sie an den Schultern, wirft sie zu Boden. Dann droht er, er werde sie töten.
Als er endlich von ihr ablässt, flüchtet Daniela Moser und ruft die Polizei an. Eine Streife fährt vor, klingelt. Der Mann öffnet ahnungslos und wird nach der Befragung aus der Wohnung gewiesen. Die Polizei ordnet ein 14-tägiges Kontakt- und Rayonverbot an – er muss sich von seiner Frau fernhalten. Mit dem Ziel, dass er zur Vernunft kommt.
«Leider sind solche Fälle alltäglich», sagt Pia Allemann, Co-Leiterin der Zürcher Beratungsstelle für Frauen (BIF). Sie könnte viele solche Geschichten wie jene von Daniela Moser erzählen, sitzt täglich Frauen gegenüber, die verzweifelt einen Ausweg suchen. Viele durchleben seit Jahren die Hölle. Zu Hause. Ausgerechnet dort, wo sie sich eigentlich sicher fühlen sollten.
Nach dem Polizeieinsatz beginnt gegen Daniela Mosers Mann ein Strafverfahren zu laufen. Denn seit 15 Jahren ist häusliche Gewalt ein Offizialdelikt. Ermittelt wird von Amtes wegen, auch ohne Anzeige. Daniela Moser kennt das. Ihr Mann wurde schon einmal abgeführt. Ohne Folgen, denn sie verweigerte die Zeugenaussage. Sie fürchtete sich und hoffte, ihr Mann würde sich ändern. Auf ihren Wunsch sistierte die Staatsanwaltschaft das Verfahren, nach sechs Monaten wurde es ganz eingestellt .
Nun überlegt Daniela Moser, ob sie wieder gleich vorgehen soll. Sie hat Angst, dass ihr Mann ins Gefängnis muss. «Er ist der Vater meiner Kinder. Ich kann ihn doch nicht hinter Gitter bringen», sagt sie.
«Opfer wollen, dass die Gewalt aufhört. An einer Strafe sind sie in der Regel nicht interessiert.»
Pia Allemann, Co-Leiterin der Zürcher Beratungsstelle für Frauen (BIF)
Falls Daniela Moser auch das neue Verfahren sistieren lässt, wird ihr Mann auch diesmal ohne Strafe davonkommen. Gut möglich, dass er rückfällig wird und wieder zuschlägt. Vielleicht noch härter. Das ist ein Muster, das Fachfrau Pia Allemann nur allzu gut kennt. «Nur wenige Täter werden zur Verantwortung gezogen», sagt sie. «Häusliche Gewalt
ist eines der häufigsten Delikte. Sanktionen aber sind selten.»
Ein Grund dafür liegt ausgerechnet in der Haltung der Opfer. Viele verlangen eine Sistierung und verzichten damit faktisch auf die Bestrafung des Täters. Pia Allemann erklärt: «Sie wollen, dass die Gewalt aufhört. An einer Strafe sind sie in der Regel nicht interessiert.» Manche haben Angst, sie müssten dann noch mehr Schläge einstecken. Andere fürchten, eine Busse würde die Finanzen der Familie zu sehr belasten.
Die Polizei erfasst in der Schweiz jährlich rund 17'000 Fälle von häuslicher Gewalt. Drei Viertel der Beschuldigten sind Männer. Und kulturelle Prägungen erhöhen das Risiko. Untersuchungen in Zürich (2012) und Bern (2016) zeigen übereinstimmend, dass gut die Hälfte der Opfer, aber auch der Täter Ausländer sind. Finanzielle Probleme, enge Wohnverhältnisse und teils auch Gewalterfahrungen im Herkunftsland erhöhen das Risiko, dass Männer handgreiflich werden. Es gibt auch männliche Opfer , doch sie sind in der Minderzahl.
17'000 Fälle von häuslicher Gewalt erfasst die Polizei in der Schweiz pro Jahr.
Wie oft es zu Bestrafungen kommt, wird nicht erfasst. Ein Indiz liefert aber eine Zahl aus dem Kanton Zürich: Hier werden zwei Drittel der Verfahren auf Antrag des Opfers gestoppt und später eingestellt, wie die zuständige Staatsanwältin Claudia Wiederkehr sagt. «In den anderen Kantonen dürfte der Anteil ähnlich hoch sein.» Die häufigste Begründung der Frauen: Sie seien wieder mit dem Täter zusammen, die Situation habe sich entspannt. Oder sie teilen mit, die Trennung oder die Scheidung stehe bevor . Eine Bestrafung bringe nun auch nichts mehr.
«Die Situation ist unbefriedigend. Wir würden gern mehr Verfahren zu Ende führen», sagt Staatsanwältin Claudia Wiederkehr. «Doch häufig sind uns die Hände gebunden.» Bei häuslicher Gewalt handle es sich in der Regel um ein Vier-Augen-Delikt – ohne Zeugen und ohne Beweise. «Aussage steht gegen Aussage. Wenn sich das Opfer weigert, gegen den Täter auszusagen, sind wir machtlos.»
Nun soll ein neues Gesetz die Opfer besser schützen. Es wurde vom Parlament Ende 2018 verabschiedet. Ob ein Strafverfahren eingestellt wird, hängt nun nicht mehr ausschliesslich vom Willen des Opfers ab – weil es unter Druck gesetzt werden kann. Über die Einstellung entscheiden die Strafbehörden. Sie müssen neben dem Willen des Opfers auch das Verhalten der beschuldigten Person berücksichtigen.
Wenn der Verdacht besteht, dass es sich um einen Wiederholungstäter handelt oder es zu einer schweren Straftat wie einer Vergewaltigung
kam, darf das Verfahren nicht mehr sistiert werden. Zudem sind die Strafbehörden verpflichtet, die Lage abschliessend zu beurteilen – nur wenn sich die Situation des Opfers zumindest stabilisiert hat, können sie das Verfahren aufheben.
«Ich befürchte, das neue Gesetz bleibt ein zahnloser Tiger.»
Susanne Nielen Gangwisch, Leiterin der Beratungsstelle Opferhilfe Aargau Solothurn
Was bringt das neue Gesetz? Im Kanton Zürich würden Opfer schon heute zu einem Gespräch eingeladen, sagt Staatsanwältin Claudia Wiederkehr. Dort versuche man zu klären, ob der Antrag auf Sistierung dem freien Willen entspreche. Doch: «Es ist extrem schwierig, herauszufinden, ob jemand unter Druck gesetzt wurde. Und ein Dilemma bleibt: Wir brauchen belastende Aussagen des Opfers.»
Pia Allemann von der Frauenberatungsstelle BIF in Zürich weist auf einen weiteren Punkt im Gesetz hin. Die Staatsanwaltschaft oder das Gericht kann einen Täter zu einem sogenannten Lernprogramm gegen Gewalt verpflichten. Dabei lernen die Männer, ihr Verhalten zu verstehen und zu verändern. Diese Programme gibt es seit fast 20 Jahren. Nur: «Genutzt wurden sie bisher viel zu wenig», so Allemann. «Hier hoffe ich auf eine Veränderung.»
«Die gesetzlichen Anpassungen sind grundsätzlich gut», sagt Susanne Nielen Gangwisch, Leiterin der Beratungsstelle Opferhilfe Aargau Solothurn. Doch sie sei skeptisch, ob sie überall konsequent angewandt würden. «Ich befürchte, das neue Gesetz bleibt ein zahnloser Tiger.»
*Name geändert
Wer Opfer einer Straftat geworden ist, hat ein Recht auf Opferhilfe. Doch was heisst das konkret und wohin können sich Betroffene wenden? Erfahren Sie als Beobachter-Mitglied unter anderem, welche Schutzmassnahmen Ihnen bei einem Verfahren zustehen und welche Bedingungen für eine finanzielle Entschädigung erfüllt sein müssen.
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