Scharfe Kritik an Bundesrat und Parlament
Behindertenrechtsorganisationen kritisieren den Entwurf zum revidierten Gleichstellungsgesetz: Dieser sei reine Kosmetik.
Veröffentlicht am 26. November 2024 - 17:55 Uhr
«Islam, fahr doch, wir haben noch einen Termin», hört man eine Frau auf einem Video feixen. Die Szene zeigt Islam Alijaj , Behindertenrechtsaktivist und Nationalrat, dessen Rollstuhlräder auf dem verschneiten Gehweg durchdrehen.
Man möchte als Betrachter gern lachen, und gleichzeitig bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Denn das Video zeigt, wofür Alijaj und diverse Organisationen kämpfen: dass Menschen mit Beeinträchtigungen noch immer häufig vergessen werden im gesellschaftlichen Leben.
Ein offener Brief
Der Verein für eine inklusive Schweiz hat deshalb einen Appell an den Bundesrat und das Parlament verfasst. Im offenen Brief kritisiert der Verein, der Gesetzgeber ignoriere bei der laufenden Überarbeitung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) die Anliegen der Betroffenen.
Der aktuelle Entwurf übergehe zentrale Anliegen der Betroffenen, etwa das Recht auf selbständiges Wohnen oder auf persönliche Assistenz.
Behindertengleichstellungsgesetz überarbeiten reicht nicht
Um eine gesetzliche Verankerung dieser Bedürfnisse zu erreichen, haben rund 1300 Menschen und Betroffenenorganisationen im September die Volksinitiative «Für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen » bei der Bundeskanzlei eingereicht. Die Inklusionsinitiative fordert, dass Menschen mit und ohne Behinderungen in allen Lebensbereichen gleichgestellt werden.
«Es reicht nicht, husch, husch das BehiG oberflächlich zu revidieren – denn was die Initiative verlangt, muss in verschiedenen Gesetzen angepasst und koordiniert werden.»
Caroline Hess-Klein, Inclusion Handicap
Caroline Hess-Klein, Juristin und Abteilungsleiterin Gleichstellung bei Inclusion Handicap, erklärt gegenüber dem Beobachter, Bundesrat und Parlament müssten dringend nochmals über die Bücher, bevor die Änderung des bestehenden BehiG verabschiedet werde: «Es reicht nicht, husch, husch das BehiG oberflächlich zu revidieren – denn was die Initiative verlangt, muss in verschiedenen Gesetzen angepasst und koordiniert werden.»
So ist die Frage der Assistenz heute im Invalidenversicherungsgesetz geregelt, die Wohnfrage für Menschen mit Behinderung im Bundesgesetz über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen.
Gesellschaft behindert Menschen mit Beeinträchtigung
Hess-Klein erinnert daran, dass die Schweiz die Uno-Behindertenrechtskonvention ratifiziert hat, die davon ausgeht, dass die Gesellschaft Menschen mit Behinderung Entscheidungsfreiheit und die Teilnahme am regulären Leben ermöglicht.
«In der Schweiz werden aber nach wie vor viele Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrer persönlichen Entwicklung behindert, weil sie nicht die nötige Assistenz erhalten, weil sie nicht wohnen, arbeiten oder sich ausbilden lassen können, wie sie es wollen – weil wir kein System haben, das ihre Bedürfnisse berücksichtigt», sagt Hess-Klein.
«Die Strukturen in Heimen können dazu führen, dass ein 18-jähriger Mann mit einer Körperbeeinträchtigung nicht selbst über seine Schlafenszeit entscheiden kann.»
Caroline Hess-Klein, Inclusion Handicap
Wenn Kinder mit Beeinträchtigungen Sonderschulen besuchen, können sie später häufig nur im geschützten Rahmen arbeiten und wohnen in Heimen. «Die Strukturen in Heimen können dazu führen, dass ein 18-jähriger Mann mit einer Körperbeeinträchtigung nicht selbst über seine Schlafenszeit entscheiden kann. Das ist ein krasser Eingriff in die persönliche Freiheit.»
Mit Assistenz könnten Kosten gespart werden
Zudem würden heute Betroffene in den Institutionen auch Unterstützungsleistungen in Anspruch nehmen, die sie zu Hause nicht bräuchten. Wenn sie selbstbestimmt mit einer Assistenz leben könnten, könnten punktuell Kosten gespart werden.
«Weil man diesen Personen aufgrund ihres Behinderungsgrads aber eine Assistenz verweigert, sind sie teils gezwungen, im Heim zu leben – was zu Mehrkosten für die Gesellschaft führt», sagt Hess-Klein zum Beobachter.
«Schnellschuss-Revision» stoppen
Die umfassende Umsetzung der Inklusionsinitiative sei ein Generationenprojekt für die nächsten 20 bis 25 Jahre. «Es ist möglich, dass in einer Übergangsphase vom jetzigen, separativen System auf einen neuen Ansatz durch Doppelspurigkeiten Mehrkosten entstehen.»
Doch es sei zu berücksichtigen, dass seit langem ein gesellschaftlicher Konsens bestehe, Menschen mit Behinderungen zu unterstützen. Entsprechend werde bereits heute Geld investiert. «Seit der Einführung des Behindertengleichstellungsgesetzes vor 20 Jahren hat ein Wandel stattgefunden, die neue Generation der Menschen mit Behinderungen ist sich ihrer Rechte mehr bewusst und ist nicht bereit, ihren Ausschluss aus der Gesellschaft weiter zu akzeptieren.»
Hess-Klein hofft, dass der offene Brief den Bundesrat dazu bringt, die «Schnellschuss-Revision» zu stoppen. «Menschen haben eine Beeinträchtigung. Ob sie behindert werden, entscheidet die Gesellschaft – und entscheidet sich auch in dieser Revision.»
Für diesen Text wurden folgende Quellen verwendet
- Appell an Bundesrat und Parlament des Vereins für eine inklusive Schweiz
- Vernehmlassung für die Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG)
- Volksinitiative «Für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen»
- Bundesgesetz über die Institutionen zur Förderung der Eingliederung von invaliden Personen (IFEG)
- Übereinkommen der Uno über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
- Merkblatt der AHV zum Assistenzbeitrag der IV
1 Kommentar
Menschen mit einer Behinderung können nichts dafür, sei es wegen eines Geburtsfehlers, Unfalls oder krankheitsbedingt.
Deshalb sollten sie genau die Hilfe, welche sie unterstützt, um sich möglichst schnell und gut zu integrieren, auch jederzeit erhalten. Gewisse Menschen ohne solche Einschränkungen, und ich spreche hier insbesondere die Politiker an, scheinen das nicht zu sehen.
Kapitalistische Entscheidungen vom Bundesrat und Parlament sind ethisch zu hinterfragen. Insbesondere die Sparmaßnahmen der IV, welche auf Kosten der Schwächsten geht, verfälschte Pmeda oder Medas Gutachten die Behinderte gesund schreiben sind ein Armutszeugnis für diesen Staat.
Es ist unverständlich, wie der Bundesrat und das Parlament auf Kosten der Schwächsten in unserer Gesellschaft sparen können. Diese Menschen sind auf Unterstützung angewiesen, um ein würdiges und selbstbestimmtes Leben führen zu können. Anstatt ihnen die notwendige Hilfe zu gewähren, werden sie durch Sparmaßnahmen weiter benachteiligt.
Die Entscheidungsträger sollten sich bewusst machen, dass soziale Gerechtigkeit und Solidarität die Grundpfeiler einer funktionierenden Gesellschaft sind. Es ist ihre Pflicht, für alle Bürgerinnen und Bürger einzustehen, insbesondere für diejenigen, die sich nicht selbst helfen können. Die aktuellen Maßnahmen zeigen jedoch, dass wirtschaftliche Interessen über das Wohl der Menschen gestellt werden.
Es ist höchste Zeit, dass der Bundesrat und das Parlament ihre Prioritäten überdenken und den Fokus auf die Unterstützung der Schwächsten legen. Nur so kann eine gerechte und humane Gesellschaft gewährleistet werden.