Mehr als Kosmetik
Rahel Waehry bildet ehemalige Prostituierte und Gefängnisinsassinnen, Asylsuchende und Gewaltopfer zu Kosmetikerinnen aus. Für die Frauen ist das mehr als eine Ausbildung.
Veröffentlicht am 18. Dezember 2020 - 11:23 Uhr
Analicia González* und Liridona Aliu* hätten nur die Türe aufmachen müssen und sie wären frei gewesen. Doch so einfach war das nicht. Wohin hätten sie gehen können? Analicia stammt aus Südamerika. Als Kind wurde sie von ihrem Vater vergewaltigt, sie suchte ein besseres Leben in Europa.
Ohne Ausbildung in der Schweiz angekommen, blieb ihr trotzdem nur, ihren Körper zu verkaufen. Die Bordellchefin gab vor, ihr helfen zu wollen und besorgte ihr Aufenthaltspapiere. In Wahrheit war dies ein Trick, damit Analicia illegale Verträge unterzeichnete: Die Frau nötigte sie, zu jeder Tages- und Nachtzeit Freier zu empfangen, das Bordell durfte sie nur eine Stunde am Tag verlassen.
Liridona Aliu wurde von ihrem Vater an einen Mann in der Schweiz verheiratet, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Immer wieder wurde der Mann extrem gewalttätig. Bis die 32-Jährige, übersät mit blauen Flecken, den Mut hatte, mit ihrer Tochter ins Berner Frauenhaus zu flüchten . «Ich habe alles verloren, mein Zuhause, meine Familie und am Ende auch meine Hoffnung, ich war psychisch total am Boden.»
Jelena Lukics* Türen hingegen waren eine Zeit lang von aussen verschlossen, die Fenster im Frauengefängnis Hindelbank vergittert. Sie spricht sieben Sprachen und hat vor ihrer Zeit im Gefängnis eine höhere Fachschule besucht. Aber nach ihrer Freilassung dort weitermachen, wo sie aufgehört hatte, ging wegen psychischen Problemen nicht.
Der Schlüsselmoment im Leben dieser drei und 21 weiterer Frauen war, dass sie Rahel Waehry kennengelernt haben. Die 35-jährige ehemalige Primarlehrerin führt einen Kosmetiksalon in Bern und besucht seit zehn Jahren als Freiwillige Frauen am Rand der Gesellschaft, in Bordellen oder Asylzentren. Sie redet mit ihnen, hört ihnen zu, feilt ihre Nägel oder hilft, wenn der Antrag für die Aufenthaltsbewilligung eine unüberwindbare Hürde ist.
Gerade Sexworkerinnen fielen durch alle Netze, sagt sie. Weil keine Behörde sich richtig zuständig fühle für sie. «Die Würde dieser Frauen wurde angetastet und sie haben keine Möglichkeit, der Situation zu entkommen.» Ein Ausstieg aus dem Rotlichtmilieu ist extrem schwierig, denn ohne Ausbildung haben sie kaum Chancen auf eine andere Arbeit. Diese Frauen hätten oft jede Hoffnung verloren.
Langsam reift in Rahel Waehrys Kopf ein Plan. «Mein Traum war es, diesen Frauen die Türe in ein neues Leben zu öffnen und ihnen Sicherheit und Selbstachtung zurückzugeben», sagt die dreifache Mutter. 2016 bildet sie erstmals vier Frauen zu Kosmetikerinnen aus. 12'000 Franken kostet der siebenmonatige Lehrgang für alle vier zusammen. Bei einigen kümmert sich das Sozialamt um die Finanzierung, andere können dank Spenden den Kurs besuchen – für den Rest kommt Waehry auf. «Diese Frauen haben so viel durchgemacht, sie sollen sich um die Ausbildungskosten nicht auch noch sorgen müssen.» Heute versucht ihr neu gegründeter Verein «Neue Würde», die Fehlbeträge über Spenden zu begleichen. Die Stiftung SOS Beobachter und weitere Institutionen unterstützen den Verein.
«Für mich spielt es keine Rolle, welchen Hintergrund jemand hat. Jede Frau ist für mich mit ihrem ganzen Wesen eine Bereicherung.»
Rahel Waehry, Ausbildnerin und Präsidentin des Vereins «Neue Würde»
Waehrys Plan geht auf. Nach und nach fassen Sozialarbeiter und Kesb-Stellen Vertrauen in ihr Konzept und schicken Frauen aus schwierigen Umständen zu ihr zum Vorstellungsgespräch. Auch Liridona Aliu erfährt im Frauenhaus mitten im Lockdown von der Ausbildung. Doch sich vorzustellen fällt ihr schwer. «Was hatte ich zu bieten? Ich hatte keine Ausbildung, keine feste Wohnadresse und Schulden . Ich habe mich so geschämt.» Aber Waehry habe sie mit einem warmen Lächeln empfangen und ihr gezeigt, dass sie nicht alleine sei. «Für mich spielt es keine Rolle, welchen Hintergrund jemand hat. Jede Frau ist für mich mit ihrem ganzen Wesen eine Bereicherung», sagt Waehry.
Wichtig sei ihr nur die Motivation und dass die Frauen im Kurs präsent sind. Wer mehr als zwei Mal fehlt, muss die Ausbildung verlassen. Das sei schon vorgekommen. «Das sind keine leichten Entscheide.» Diese Disziplin schulde sie aber den anderen Kursteilnehmerinnen.
«Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dass ich überhaupt noch etwas schaffe.»
Jelena Lukic*, Ex-Gefängnisinsassin
Für Analicia González und ihren kleinen Sohn war die Kosmetikausbildung der Start in ein neues Leben. «Mein Leben lang wurde ich gedemütigt, frei war ich nie. Dank Rahel habe ich wieder Vertrauen in mich gefasst und fühle mich heute stark.»
Liridona Aliu und Jelena Lukic haben im Oktober die Ausbildung mit Bravour bestanden. «Viele können das nicht nachvollziehen, aber dieses Diplom ist für mich viel mehr wert als all die anderen zuvor», sagt Lukic. Denn sie habe nicht mehr daran geglaubt, überhaupt noch etwas zu schaffen. «Es zeigt mir, dass ich nicht wertlos bin.»
Aliu hat nun endlich ein Papier, mit dem sie in Zukunft die Zügel selbst in der Hand hält. «Ich habe wieder Mut und Ziele im Leben – das alles verdanke ich Rahel.» Sie weint. «Sie ist so anständig und bescheiden – dabei ist sie eine Heldin!»
*Namen geändert
1 Kommentar
Durch mein - inzwischen zurückliegendes - Berufsfeld als Berufsbeistand, konnte ich nur mit Respekt den Bericht über Rahel Waehry und ihre Studentinnen oder Lehrlinge verfolgen. Während vieler Jahre sind mir immer wieder Frauen und Mütter begegnet, die sich aus Beziehungen gelöst, befreit haben oder ausgebrochen sind. Die angebotenen strukturellen Hilfen u.a. Sozialhilfe und/oder Kindesschutzmassnahmen und Unterstützung bei der Suche nach geeigneter psychologischer Unterstützung hatten und haben ihre Wichtigkeit. Aber jede Rückkehr dieser Frauen resp. Mütter zu einer neuen Lebens-normalität ist - leider - nur dann geglückt, wenn zu den geleisteten Hilfen eine berufliche Integration/evtl. Ausbildung angegangen wurde oder geglückt ist. Der erste Lohn, das frisch erworbene Diplom als "Lebensmut-macher" ist durch nichts zu ersetzen. Das schliesst auch weitgehend Jobs, Beschäftigungen aus, weil die Abhängigkeiten nur auf eine andere Ebene - evtl. Sozialhilfe - verlagert wird. Die Frage ist, wie lerne ich mein eigenes soziales und wirtschaftliches Leben leben, wenn ich zu Zeiten aussen vor gelassen wurden?