«Endlich», sagt Irma Frei. «Endlich werden auch wir Schaffhauser Opfer ernst genommen.» Dass Schaffhausen nun dasselbe mache wie die Stadt Zürich, sei ein Schritt in die richtige Richtung, sagt die 83-jährige Betroffene. 

Der Kanton Schaffhausen will allen Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen einen Solidaritätsbeitrag in der Höhe von 25’000 Franken bezahlen. Diesen gibt es zusätzlich zum Solidaritätsbeitrag des Bundes, der ebenfalls 25’000 Franken beträgt.

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Ungleichbehandlung der Opfer 

Schaffhausen tut damit das, was die Stadt Zürich 2023 erstmals umgesetzt hat. Weil nicht nur der Bund Schuld auf sich geladen hat, hatte die Stadt den Solidaritätsbeitrag des Staates an die Opfer auf insgesamt 50’000 Franken verdoppelt. Eine Premiere in der Schweiz, die durch Beobachter-Recherchen ausgelöst worden war.

Seither treibt Betroffene wie Irma Frei allerdings die Frage um: Sind die Stadtzürcher Opfer dem Staat doppelt so viel wert wie alle anderen? Denn nur die Stadtzürcher können insgesamt 50’000 Franken beantragen, alle anderen nur 25’000 Franken.

Schaffhausen will ab 2025 zahlen

Der Schaffhauser Regierungsrat hat darauf eine eindeutige Antwort. Er zieht mit Zürich gleich: Alle, die vor 1981 von einer schaffhausischen Behörde in ein Heim eingewiesen, in einem Gefängnis versenkt oder zu Zwangsarbeit genötigt wurden, sollen Anspruch auf den Schaffhauser Solidaritätsbeitrag haben. Ob eine kantonale Behörde oder eine Gemeindebehörde federführend war, ist dabei unerheblich. Das Geld soll ab 2025 auf Gesuch hin an Direktbetroffene ausgezahlt werden. 

So sieht es der Gesetzesentwurf vor, den der Schaffhauser Regierungsrat Ende August in die Vernehmlassung schickte. «Der Solidaritätsbeitrag soll ein Zeichen der Anerkennung des erlittenen Unrechts sowie Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität sein», schreibt der Regierungsrat. 

Betrag könne Leid nie decken

Der Beitrag solle verdeutlichen, dass die Schaffhauser Gesellschaft sich solidarisch zeige mit den Betroffenen und sie das Unrecht anerkenne, das ihnen durch kantonale und kommunale Behörden im Kanton Schaffhausen zugefügt worden sei. Die 25’000 Franken seien eine symbolische Ausgleichsleistung und könnten das entstandene Leid nie decken.

«Zehntausende von Kindern und Jugendlichen wurden bis 1981 in Heimen fremdplatziert, in landwirtschaftliche und gewerbliche Betriebe verdingt oder im Rahmen administrativer Massnahmen in geschlossene Anstalten eingewiesen. Sie erlebten dort oft physische und psychische Gewalt, wurden ausgenutzt, misshandelt oder missbraucht», schreibt der Schaffhauser Regierungsrat. Regierungsmitglied Walter Vogelsanger hatte 2019 bei den Betroffenen dafür um Entschuldigung gebeten.  

Der Gesetzesentwurf, der die Zahlung ermöglicht, geht nun in die Vernehmlassung, die bis am 28. Oktober dauert. Danach will der Kanton das Gesetz möglichst bald in Kraft setzen, idealerweise per Anfang 2025. Das sei dringend, da viele betroffene Personen sich im fortgeschrittenen Alter befänden oder teilweise gesundheitlich angeschlagen seien.

Der Kanton rechnet mit rund 100 Gesuchen. Die Kosten teilen sich Kanton und Gemeinden je hälftig. Auslöser für den Beschluss des Regierungsrats war eine Anfrage von SP-Kantonsrätin Linda De Ventura, die einen kantonalen Solidaritätsbeitrag forderte. 

«Weitere Kantone müssen folgen»

Die ehemalige «Versorgte» Irma Frei hofft, dass der Schaffhauser Solidaritätsbeitrag der Anfang von etwas Grösserem ist. «Es ist mir ein Anliegen, dass alle in der Schweiz nun zu ihrem Recht kommen. Es kann nicht sein, dass die einen Opfer mehr erhalten als die anderen. Nach Zürich und Schaffhausen müssen weitere Kantone folgen.» 

Frei wurde als Mädchen von der Amtsvormundschaft Schaffhausen fremdplatziert und später in ein Heim gesteckt, bloss weil ihre Eltern sich scheiden liessen. 1958, nach ihrer obligatorischen Schulzeit, liess die Schaffhauser Behörde sie fast drei Jahre lang im Fabrikheim des Industriellen Emil Bührle wegsperren, wo sie Zwangsarbeit leisten musste. Als Lohn gabs 50 Franken bar auf die Hand.