Die Tage werden kürzer – die Cannabisblüten dicker. Ein Bild, an das man sich im Hanfland Schweiz zur Spätsommerzeit gewöhnt hat. Egal, ob im Dorf oder in der Stadt: Es gibt kaum ein Quartier, in dem der Blick nicht zufällig auf ein Pflänzchen fällt, das verstohlen auf einem Balkon oder in einem Garten Sonne tankt und Harz produziert. Das Harz mit dem berauschenden Stoff THC, auf den so viele Leute stehen; man spricht von schweizweit 300'000 bis 500'000 Konsumenten.

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Zwar hört man allenthalben, Cannabis rauchen sei insbesondere unter Teenagern out, und aktuelle Studien zeigen in der Tat eine rückläufige Tendenz. Doch es ist – wenn denn – eine Trendwende auf hohem Niveau. Je nach Studie kifft nach wie vor jeder vierte 15-Jährige mehr oder weniger regelmässig. Bei den Mädchen ist es etwa jedes fünfte. Die möglichen Folgen sind bekannt: Jugendliche mit null Bock auf gar nichts, weder auf Schule noch auf Lehre, und Kinder, die psychisch krank sind, weil sie zu viel und vor allem zu viel hochprozentigen Cannabis geraucht haben.

Für Eltern stellt sich die Frage: Was tun, wenn das eigene Kind Cannabis raucht? Und wie sollen sie reagieren, wenn es auf dem Balkon oder im Garten Drogenhanf anbaut – oder gar im eigenen Haus, so wie Daniel (Name geändert)?

Die Schweiz: Hanf-Exportland Nummer eins

«Wer eine feine Nase hat, riecht das Gras immer noch», sagt der 15-Jährige. Dabei ist es ein Jahr her, dass Daniel bei seinem Vater zu Hause zehn Cannabispflanzen zum Blühen brachte. Eine Metalldampflampe bestrahlte sie zwölf Stunden am Tag. Die Fenster waren zugeklebt mit Reflektorfolie. Das nötige Wissen sowie Dünger, Erde, Lampe et cetera hatte sich Daniel übers Internet beschafft – alles ganz legal, ausser die Samen. Die hatte er in einem «Growshop» gekauft. Cannabissamen dürfen eigentlich nur an Volljährige verkauft werden. «Aber uns hat keiner nach einem Ausweis gefragt», sagt Daniel. Total investierte er rund 300 Franken. Selbst gekifft hat er noch nie. «Ich wusste aber, dass ich Abnehmer habe.» Und dass sich mit Gras viel Geld verdienen lässt. Sein Traum: einen «richtigen Töff» kaufen.

Bis vor fünf, sechs Jahren wäre aus Daniels Traum wohl eher ein «Töffli» geworden. Denn damals war die Konkurrenz grösser, der Heimanbau entsprechend weniger lukrativ. Überall gab es «Hanflädeli», die vom Duftsäckchen bis zur Haschgedenkmünze alles verkauften, was – vermeintlich zweckentfremdet – in Pfeife und Tabakpapier passte. Quer durchs Land wurde hektarweise Freilandcannabis angebaut, und die Blüten wurden teils ab Hof und en gros unters Volk gebracht. Die Schweiz galt als Hanf-Exportland Nummer eins in Europa. Für Jugendliche war es entsprechend leicht, an ihr Kraut zu kommen – und günstig. Selbst wer sein Gras nicht von Freunden quasi nachgeworfen bekam, zahlte kaum zehn Franken pro Gramm, also ein bis zwei Franken für einen Joint.

Cannabiskonsum in Zahlen

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Quelle: United States Fish and Wildlife Service
Quelle: United States Fish and Wildlife Service

Quellen: Schweizerisches Cannabismonitoring (1), European School Survey Project on Alcohol and Other Drugs (2, 3), www.fedpol.admin.ch (4); Infografik: beobachter/dr

Quelle: United States Fish and Wildlife Service
Wenn der Vater den Anbau duldet

Ende der neunziger Jahre und im Zuge zweier gescheiterter Vorlagen zur Cannabislegalisierung änderten Politiker und Strafverfolgungsbehörden die Marschroute und drehten mächtig an der Repressionsschraube. Bis etwa 2004 war Feld um Feld geräumt, die «Hanflädeli» waren geschlossen und die Betreiber vor Gericht gestellt. Die Betäubungsmittelstatistik des Bundesamts für Polizei spricht hierzu eine deutliche Sprache: Wurden zwischen 1975 und 1995 noch knapp 20 Tonnen Cannabis sichergestellt, waren es allein zwischen 1996 und 2006 über 116 Tonnen.

Die restriktive Cannabispolitik blieb nicht ohne Wirkung: Das Gras, bis dahin im Überfluss vorhanden, wurde plötzlich rar, gut einen Drittel teurer und war dadurch für Jugendliche nicht mehr so leicht zu beschaffen. Einige profitierten aber auch davon: Teenager wie Daniel zum Beispiel mit zu viel krimineller Energie und zu wenig Skrupeln – und mit Eltern, die entweder nichts vom illegalen Treiben ihres Kindes wussten oder nichts wissen wollten. Daniels Mutter hatte ihrem Sohn den Anbau zwar verboten. Der Vater aber, der getrennt von der Familie wohnt und kaum Kontakt zu seiner Exfrau pflegt, gestattete es. Er habe sich auf den Standpunkt gestellt: Wenn Daniel schon so viel Geld investiert habe, könne er mit dem Verkauf wenigstens etwas zurückholen, bevor er die Kleinplantage aufgebe, so der 15-Jährige. Er habe seinen Vater sogar beauftragt, die Pflanzen zu giessen, wenn er selbst keine Zeit dafür gehabt habe, sagt Daniel.

Dass Teenager zu Hause Gras züchten, sei selten, sagt Gianni Tiloca, Sozialpädagoge bei der Integrierten Suchthilfe Winterthur. Den meisten fehle dafür die nötige Infrastruktur, da Eltern den Anbau normalerweise unterbinden. Generell stammt das Marihuana, das Kiffer heute konsumieren, aber wieder mehrheitlich aus professionellen Indooranlagen. Auch dies eine Folge der restriktiveren Cannabispolitik. Denn während die Ernte aus dem Schweizer Freilandanbau in Kehrichtverbrennungsöfen in Rauch aufging, zogen sich die Anbauer zurück in den Untergrund. Der dort gezüchtete Cannabis ist im Durchschnitt jedoch stärker, sein Konsum gefährlicher; im Vergleich zum konventionellen Cannabis mit einem THC-Gehalt von 3 bis 15 Prozent hat Indoormarihuana einen von 18 bis 25 Prozent.

«Nicht mehr das Kraut von früher»

Dies haben auch Tests am diesjährigen Open Air St. Gallen belegt, wo Besucher kostenlos und legal ihre Drogen analysieren lassen konnten. Zudem ist der Anbau in Kellern und Industriehallen heikel; entsprechend hoch ist der Einsatz von teils giftigen Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmitteln. «Das ist nicht mehr das Kraut von früher», resümiert Jürg Niggli, Leiter der Suchthilfe St. Gallen, die die Tests am Open Air durchführen liess. Entsprechend riskant sei der Konsum dieses hochgezüchteten Stoffs.

Das Marihuana von Daniel ist gleichwohl gut angekommen. Von der ersten Aussaat konnte er vier Pflanzen verwerten und erntete dabei rund 50 Gramm. «Ich war ziemlich nervös, weil ich selbst nicht rauchte und keine Ahnung hatte, wie gut mein Produkt war», sagt er. Also liess er sein Gras von einem Kollegen testen. Er bekam grünes Licht, und innert zweier Tage war er es los, verkauft im erweiterten Freundeskreis für 600 Franken. Er kaufte sich Sportartikel, legte etwas beiseite und ging «ganz fett» in den Ausgang. Der «Töff» konnte warten, der Heimanbau sollte keine einmalige Sache bleiben, wie er seinem Vater ursprünglich versprochen hatte.

Kokain kostet nicht mehr als ein Longdrink

Dass Teenager ihr Marihuana von Kollegen beziehen, ist die Regel und hat in letzter Zeit sogar noch zugenommen – Repression hin oder her (siehe Grafik). Die härtere Gangart hat aber dazu geführt, dass Jugendliche vermehrt auch dubiose Quellen anzapfen, sprich: ihre Drogen auf der Gasse besorgen. Von 2004 bis 2007 hat sich ihr Anteil mehr als verdoppelt; von 5,7 auf 13 Prozent. Dies zeigt eine neue Studie der Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA). Zugleich hat man festgestellt, dass die Betroffenen mehr cannabisbezogene Probleme, etwa Konzentrations- oder Erinnerungsschwächen, haben als jene Jugendlichen, die den Cannabis über andere Kanäle besorgen.

Die Verschiebung der Bezugsquelle vom Laden auf die Gasse ist auch aus einem weiteren Grund bedenklich. Wer Cannabis kaufen will, möchte meist keine andere, womöglich härtere Droge. Gleichwohl «kann die Vermischung mit anderen Drogenmärkten, etwa für Kokain, beim Cannabisbezug auf der Gasse nicht ausgeschlossen werden», räumt die SFA ein. Zudem ist gerade Kokain derzeit zum Spottpreis auf dem Markt. Kostete ein Gramm vor zehn Jahren noch bis zu 400 Franken, ist die gleiche Menge heute ab 80 Franken zu haben. Eine Dosis Koks ist damit in etwa so teuer wie ein Longdrink in einer Bar. Heroin gibt es bereits ab 20 Franken. Und aus Sicht von Donald Ganci, dem Betriebsleiter der Stadtzürcher Jugendberatung Streetwork, hat der Preis durchaus einen Einfluss auf die Drogenwahl.

Laut der letzten repräsentativen Schülerbefragung aus dem Jahr 2007 haben gut drei Prozent der 15-Jährigen in der Schweiz schon einmal Kokain genommen. Dieser Wert ist laut SFA auf tiefem Niveau. Der Konsum von Lifestyledrogen, zu denen neben Kokain auch Substanzen wie GHB («Liquid Ecstasy») und LSD zählen, steigt aber. «Diese Entwicklung bereitet uns Sorgen», verlautet die SFA. «Gerade Kokain scheint zum heutigen Lebensstil zu passen, wo Leistung eine wichtige Rolle spielt.» Engagiert, erfolgreich, immer gut drauf: So präsentiere sich die Jugend gern, meint auch Herbert Willmann, Leiter der Fachstelle für Suchtprävention DFI Luzern. «Da passen diese synthetischen Aufputschdrogen eben besser ins Bild als die ‹Biodroge› Cannabis, die eher mit Herumhängen statt mit Erfolg in Verbindung steht.»

Der Cannabis ist stärker geworden, der Konsum riskanter, und die Jugendlichen besorgen sich das Gras häufiger beim Dealer auf der Strasse, wo es zum Discountpreis auch harte Drogen gibt: Haben die Repression gegen den Hanfhandel und die jahrelange Jagd auf die Konsumenten die Cannabisproblematik also eher angeheizt? Jürg Niggli, Leiter der Suchthilfe St. Gallen, meint ja. Er zog gegenüber der «Rundschau» des Schweizer Fernsehens ein ernüchterndes Fazit: «Wir haben in den letzten Jahren keine Erfolge erzielt in der Prävention.» Andere Experten sehen die Sache differenzierter. Laut SFA etwa hat die Schliessung der Hanfläden zum Rückgang des Konsums beigetragen. Denn: «Je leichter der Zugang, desto eher wird konsumiert.» Zudem sei durch die politische Diskussion über die Cannabisfrage heute allen klar, dass Kiffen sanktioniert werde. «Mit der geänderten Wahrnehmung der Risiken ist es für Eltern und Lehrkräfte heute einfacher, Grenzen zu setzen», so die SFA.

Jugendliche sind heute besser aufgeklärt

Donald Ganci von Streetwork Zürich sieht ebenfalls eine Entspannung. Die negativen Folgen von chronischem und exzessivem Kiffen hätten bei Jugendlichen minimiert werden können, betont er, bezweifelt aber, dass dies der verstärkten Repression zu verdanken ist. Er hat eine andere Erklärung: «Bis vor einigen Jahren war die öffentliche Diskussion sehr polarisiert. Dies führte auf der einen Seite zur Verharmlosung, auf der anderen Seite zu übertriebener und unglaubwürdiger Verteufelung des Cannabis.» Beides habe eine sachliche Aufklärung verhindert. «Heute jedoch weiss jeder 16-jährige Kiffer, dass es ein grosser Unterschied ist, ob nur am Wochenende oder täglich gekifft wird, dass Cannabis Psychosen auslösen kann und bei exzessivem Konsum die Desintegration fördert.»

Gleichwohl fordern Drogenexperten wie etwa der Psychiater Daniel Meili ein radikales Umdenken. Bis 2007 war er Chefarzt der Arbeitsgemeinschaft für risikoarmen Umgang mit Drogen. Statt Prohibition fordert er lizenzierte Cannabis-Verkaufsshops, um den Hanfmarkt zu kontrollieren. «Dort wären die Verkaufskonditionen klar geregelt, die Preise abgestimmt, die Qualität überprüft.» Denn es sei erwiesen, so Meili, dass die Illegalität enorm viele Probleme schafft: «Das Verbotene weckt Interesse, die Illegalität macht die Substanzen unrein und dadurch gefährlicher.» Doch er weiss: «Bei der jetzigen, eher restriktiven Politik ist meine Forderung unrealistisch.» Der Vorschlag der Gesundheitskommission des Nationalrats hat mehr Chancen. Diese will das Kiffen zwar weiterhin verbieten, aber nur noch im Ordnungsbussenverfahren ahnden. Meili befürwortet die Stossrichtung. Denn die heute geltende Strafverfolgung wirke nicht abschreckend und halte potentielle Konsumenten nicht vom Rauchen eines Joints ab.

In vier Tagen waren die «Bratwürste» weg

Dem 15-jährigen Daniel ist diese Diskussion egal. Einerseits nimmt er nach wie vor keine Drogen. Und die, die er selber angebaut hat, hat er mittlerweile für gutes Geld verkauft. Bei der zweiten Ernte hatte er rund 200 Gramm gewonnen. Danach hätten ihn jeden Abend mindestens 20 Käufer angerufen und verschlüsselt ihre Bestellungen aufgegeben. Ein solches Verkaufsgespräch lief zum Beispiel so ab: «Hast du noch einen Grill zu verkaufen?» – «Ja, für wie viele Bratwürste?» Nach vier Tagen seien alle «Bratwürste» verkauft gewesen, meint Daniel. Gut 2500 Franken hat er verdient. «Ich war selbst überrascht, wie schnell so viel Geld zusammengekommen ist», sagt er. Schlimm findet er nicht, was er getan hat: «Irgendwoher muss das Zeug ja kommen.»

Zusammen mit einem Batzen von der Grossmutter reichte der Ertrag für den erträumten «Töff» – allerdings für einen gebrauchten. Weitermachen mit dem Hanfanbau will er dennoch nicht, zumindest in nächster Zeit nicht. Er hat eine Lehrstelle, die er nicht aufs Spiel setzen möchte: «Wenn die halbe Dorfjugend weiss, dass ich Gras anbaue, ist das Risiko zu gross, von der Polizei erwischt zu werden.»

Hilfe, mein Kind kifft und baut Gras an!

Wie sollen Eltern reagieren, wenn ihr Kind Cannabis anbaut?
«Das können Eltern nicht tolerieren», meint die Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA). Der Anbau zeige, dass der Konsum einen grossen Stellenwert habe. Es sei wichtig, das Gespräch zu suchen und klar Stellung zu beziehen. «Das Ziel sollte Abstinenz sein.» Sei dies nicht möglich, dürfe «der Konsum Schulleistungen, Familienleben und Freizeitgestaltung nicht beeinträchtigen».

Donald Ganci von Streetwork Zürich bevorzugt einen liberaleren Weg. «Nicht panisch reagieren! Im Gespräch können Eltern herausfinden, ob sich das Kind der Risiken und Gefahren bewusst ist und sich Grenzen gesetzt hat.» Bei Wissenslücken sollen die Eltern das Kind aufklären, vielleicht über eine Beratungsstelle. Tolerieren sie den Konsum, sollen sie Vereinbarungen treffen: wo, wie oft und wann. Und Ganci warnt: Ein Verbot kann kontraproduktiv wirken.

Ein Leitfaden der SFA fasst zusammen, wie Eltern mit Jugendlichen über Cannabis sprechen sollten: Leitfaden herunterladen (PDF).