«Julian Assange zeigt typische Foltersymptome»
Wikileaks-Gründer Julian Assange sitzt in London in Auslieferungshaft. Der Schweizer Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter über Folter, sieht Assanges Leben in Gefahr – und den Rechtsstaat.
Veröffentlicht am 14. Februar 2020 - 16:10 Uhr
Julian Assange, Gründer von Wikileaks, befindet sich derzeit in London in Haft. Davor hielt er sich sieben Jahre lang im Asyl in der ecuadorianischen Botschaft auf, um der Auslieferung an die USA via Schweden zu entgehen. Die US-Regierung verfolgt ihn wegen der Veröffentlichung von geheimen Akten, die Kriegsverbrechen dokumentieren. Nachdem Ecuador Assanges Asylstatus aufgehoben hatte, wurde er im letzten April von der britischen Polizei verhaftet. Im November stellte Schweden die Ermittlungen wegen Vergewaltigung gegen ihn ein. Derzeit läuft das Auslieferungsbegehren der USA.
Beobachter: Sie sagen, Julian Assanges Leben sei in Gefahr. Ist das nicht etwas übertrieben?
Nils Melzer: Nein. Assanges Situation ist kritisch. Er hat schwerste Verbrechen ans Licht gebracht – Kriegsverbrechen, Mord, Folter. Jene, die diese Verbrechen begangen haben, wurden nicht verfolgt. Stattdessen wird Assange gefoltert und soll den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen.
Das klingt nach Verschwörungstheorie
.
Ganz ehrlich, ich hielt es zuerst gar nicht für möglich, dass Schweden oder Grossbritannien die Menschenrechte derart missachten. Aber wenn es ums Eingemachte geht, funktioniert der Rechtsstaat auch bei uns in Europa nicht mehr.
Warum sind Sie in Assanges Fall überhaupt aktiv geworden?
Seine Anwälte haben im Dezember 2018 mein Büro kontaktiert, doch ich winkte zunächst ab. Ich stand damals unter dem Eindruck, dass Assange irgendwie schuldig sei, ein Hacker, ein Vergewaltiger, ein Spion. Als sich die Gerüchte seiner Ausweisung aus der Botschaft verdichteten, gelangten seine Anwälte nochmals an mich – diesmal mit überzeugenden Beweismitteln. Ich mahnte die ecuadorianische Regierung offiziell zur Zurückhaltung und kündigte eine Untersuchung an. Wenige Tage später entzog sie Assange das Asyl und liess ihn durch die Briten verhaften – ohne rechtsstaatliches Verfahren.
Sie konnten ihn im Mai im Gefängnis besuchen.
Weil es sich um einen sehr politisierten Fall handelt, wollte ich eine objektive medizinische Basis für meine Schlussfolgerungen haben. Deshalb nahm ich zwei unabhängige Ärzte mit, einen Psychiater und einen Forensiker, die beide seit Jahrzehnten mit Folteropfern arbeiten und international Gutachten für Gerichte erstellen.
Was haben die Ärzte festgestellt?
Assange zeigte typische Symptome anhaltender psychischer Folter, einschliesslich messbarer kognitiver und neurologischer Beeinträchtigungen. Ursächlich war damals noch die Situation in der Botschaft, die über die Jahre immer traumatischer
geworden war. Die Haftbedingungen verschärften diese Symptome.
Was für Symptome?
Es geht vor allem um konstante, extreme Angst- und Stresszustände. Natürlich ist jeder Häftling bis zu einem gewissen Grad gestresst und deprimiert. Aber bei Folteropfern verursachen diese Symptome schwere seelische Leiden. Das kommt einem ununterbrochenen Panikzustand gleich und führt irgendwann zum Zusammenbruch.
Ende Jahr schlugen Sie Alarm.
Bereits zehn Tage nach meinem Besuch musste Assange in die Krankenabteilung verlegt werden und konnte nicht mehr an Verhandlungen teilnehmen. Im Herbst erschien er wieder vor Gericht, konnte aber kaum mehr sein Geburtsdatum und seinen Namen richtig wiedergeben.
«Solche Vorgehensweisen kennt man sonst nur von Diktaturen.»
Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter über Folter
Ist Assanges Leben bedroht?
Im Einzelfall ist das schwierig vorauszusehen, aber ein typischer Verlauf wäre, dass der Betroffene sich geistig und emotional aufreibt, bis er einen Nervenzusammenbruch hat oder sogar an einem Herzinfarkt stirbt. In der Krankenabteilung wurde Assange zwar medikamentös stabilisiert, die Ursachen seiner Angstzustände wurden aber nicht angegangen – im Gegenteil.
Wie meinen Sie das?
Assange wurde täglich 22 bis 23 Stunden in einer Einzelzelle überwacht. Das wurde mit Suizidgefahr gerechtfertigt, verstärkte aber sein Trauma.
Wie sieht sein Haftregime heute aus?
Meines Wissens ist er wieder in einer Einzelzelle in der allgemeinen Abteilung, wo er einige Stunden am Tag Kontakt mit anderen Insassen hat. Doch er ist immer noch in einem Hochsicherheitsgefängnis, wo sonst Terroristen und Mörder einsitzen. Assange ist aber in Auslieferungshaft, es geht nur um Fluchtverhinderung. Das könnte man genauso gut mit Hausarrest erreichen.
Was sagt die britische Regierung?
Gar nichts, das ist genau das Problem. Ich habe offiziell durch die diplomatischen Kanäle protestiert und die Briten zu einer Stellungnahme aufgefordert. Sie haben mir fünf Monate später in einem einseitigen Brief erklärt, dass sie die Foltervorwürfe bestritten. Auf Einzelheiten gingen sie gar nicht erst ein.
Wurden seine Verteidigungsrechte beschnitten?
Bis im Oktober hatte er offenbar keinerlei Zugang zu seinen Unterlagen. Er sollte zu einer Anklage Stellung nehmen, die er gar nicht gelesen hatte. Solche Vorgehensweisen kennt man sonst nur von Diktaturen. Ein weiteres Beispiel: Assange hatte einen schwedischen Anwalt, der für eine zweistündige Sitzung aus Stockholm anreiste. Man brachte Assange aber mit eindreiviertel Stunden Verspätung zur Besprechung. In den verbleibenden 15 Minuten hätte man ihm ein 300-seitiges Dokument übersetzen sollen, durfte ihm aber keine Übersetzung aushändigen, die er später hätte lesen können. Dass so etwas in Grossbritannien möglich ist, war für mich bis vor kurzem unvorstellbar.
Das Verfahren in Schweden ist abgeschlossen.
Ja, nachdem ich die schwedische Regierung in einem Brief auf rund 50 zum Teil schwerste Verfahrensverletzungen hingewiesen hatte.
Wie hat Schweden reagiert?
Die Schweden schrieben, dass sie zu meinen Fragen nicht Stellung nehmen wollten. Diese Reaktion ist sehr untypisch und ein klares Indiz dafür, dass es in diesem Verfahren nicht wirklich um die Aufklärung möglicher Sexualdelikte ging.
Sondern?
Es ging darum, den Fokus von den Verbrechen, die Wikileaks aufgedeckt hat, wegzunehmen und Assange als Schreckgespenst ins Zentrum zu rücken. Man hat ihn zu einem Aussätzigen gemacht, mit dem sich niemand mehr identifizieren kann. Seine legitimen Argumente werden nicht mehr gehört.
Wieso dieses Vorgehen?
Man will die Methoden von Wikileaks abwürgen, die es Whistleblowern ermöglichen, anonym grosse Mengen geheimer Daten zu veröffentlichen. Bei 17 der 18 Anklagepunkte, die Assange in den USA vorgeworfen werden, handelt es sich um alltägliche journalistische Aktivitäten: Recherche und Veröffentlichung von Beweisen für staatlichen Machtmissbrauch. Assange selbst hatte nie eine Geheimnispflicht. Er ist ein Journalist oder Publizist, der Informationen erhalten und veröffentlicht hat. Das ist keine Straftat. Wenn er dafür als Spion verurteilt würde, könnte künftig weltweit allen investigativen Journalisten dasselbe drohen. Das wäre das Ende der demokratischen Überwachung der Staatsgewalt.
Worum geht es beim 18. Anklagepunkt?
Assange soll versucht haben, seinem Informanten zu helfen, ein Passwort zu knacken
– erfolglos. Es war ein Versuch, im System die Spuren des Informanten zu verwischen. Objektiv gesehen ist das ein
Bagatelldelikt, das kein Auslieferungsverfahren mit Präventivhaft rechtfertigt.
Ende Februar beginnt die Anhörung.
Ich bin zuversichtlich, nicht zuletzt, weil die Öffentlichkeit langsam erwacht. Zudem darf nach englischem Recht niemand wegen eines politischen Delikts ausgeliefert werden. Spionage ist per Definition politisch. Nicht zuletzt verbietet das Völkerrecht jede Auslieferung in ein Land, in dem Folter
droht. Dies ist in den USA bei Spionageanklagen leider so. Wie auch immer der Entscheid ausfällt, es wird fast sicher
Berufung geben. Der Fall wird uns voraussichtlich noch einige Zeit beschäftigen.
1 Kommentar
Julian Assange geht uns alle an. Sollte er ausgeliefert werden, können wir unsere sogenannte Demokratie endgültig in den Müll treten. Gut, dass der Beobachter den Mut aufbringt, über dieses Thema zu berichten. Es ist eine Schande, dass Assange nicht mehr Solidarität von Seiten anderer Medien erfährt. Ich lese in den Zeitungen kaum noch mehr als die nationalen und lokalen Nachrichten. Inernationale politische Themen sind dermassen "uniformiert", dass ich mich darüber nur noch über freie Journalisten in Internet informiere. Ich hoffe auf einen Aufstand gegen die Auslieferung von Assange an die USA von Seiten der Journalisten und allen, denen an einer wahren Demokratie gelegen ist, dass Druck gemacht wird, damit er endlich frei kommt. Er hat mit seinen Veröffentlichungen der Menschheit einen Dienst erwiesen. Wir alle haben ein Recht darauf zu wissen, was in der Welt an Übel vorgeht. Wenn wir erlauben, dass Assange ein weiteres Opfer der Verantwortlichen dieser Verbrechen wird, unterwerfen auch wir uns der Willkür derer, die meinen, sich über alle und alles erheben zu dürfen.