Er hatte einen gut bezahlten Job. Doch die morgendliche Dreiviertelstunde Stau vor dem Gubristtunnel war zu viel. Daher begann David Prechtls Tag früh. Den Automotor startete er meist schon um 5.15 Uhr, so kam er in vernünftiger Zeit in die Schreinerei. Dort trank er dann 45 Minuten lang Kaffee, bis die Arbeit um 7 Uhr losging.

Nach eineinhalb Jahren kündigte Prechtl. Heute pendelt der 34-Jährige nicht mehr vom aargauischen Reusstal durch den Gubristtunnel nach Schwerzenbach ZH. Er wohnt und arbeitet jetzt in Biel.

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Nur wenige Pendler suchen allerdings wie David Prechtl einen neuen Job, weil sie genug vom Stau haben. Die meisten ärgern sich – und fahren weiterhin mit dem Auto zur Arbeit. Weil das schneller ist, bequemer oder günstiger. Und stehen dann jeden Tag im Stau.

«Schon 2030 erreicht das Schweizer Schienennetz bereits wieder die Kapazitätsgrenze.»


Bundesamt für Verkehr

24'066 Staustunden zählte das Bundesamt für Strassen 2016 – doppelt so viele wie sieben Jahre davor. Am Zürcher Gubrist-Autobahntunnel ist der Verkehr gerade mal an elf Tagen im Jahr flüssig. 

Am schlimmsten verstopft sind die Strassen rund um Genf. Dort steht jeder Erwachsene im Durchschnitt 146 Stunden pro Jahr im Stau. 

Gemäss einer Umfrage von 2015 ist für gut zwei Drittel der Leute Stau ein «grosses Problem». Am ärgerlichsten seien der Zeitverlust und daraus resultierende Verspätungen, der höhere Treibstoffverbrauch und die volkswirtschaftlichen Kosten. Sie belaufen sich mittlerweile auf 1,6 Milliarden Franken pro Jahr. Gut zwei Drittel davon sind Arbeitsausfälle.

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Nicht viel besser ist die Situation im öffentlichen Verkehr. Dort steht man ebenfalls, aber immerhin kommt man vorwärts. In den Zügen drängen sich mittlerweile täglich 1,25 Millionen Menschen. So viele wie noch nie. 

«In Stosszeiten gehören überfüllte Züge und Busse zum Alltag, und wir haben auf unseren Strassen jedes Jahr mehr Staustunden zu beklagen», schreibt der Bundesrat. Und die Zukunft ist düster: Bis 2040 wird der öffentliche Verkehr um 51 Prozent zunehmen, der Autoverkehr um 18 Prozent, so die offiziellen Schätzungen. Für den Genfersee und die Region Zürich gehen die Prognostiker des Bundesamts für Raumentwicklung gar von einer Verdoppelung aus.

Eine Finanzspritze nach der anderen

Der Bund reagiert mit Milliardenprogrammen. In den Bahnausbau investiert er derzeit jährlich 1,8 Milliarden Franken. Bis 2025 wird er dafür so viel Geld ausgegeben haben wie für den gesamten Gotthard-Basistunnel. 

Gewonnen ist damit wenig. Trotz der Investition «erreicht das Schweizer Schienennetz 2030 bereits wieder die Kapazitätsgrenze», rechnet das zuständige Bundesamt vor. Deshalb will der Bundesrat in den nächsten 15 Jahren weitere 11,5 Milliarden Franken in den Bahnausbau einschiessen.

Rund um die Stadt Zürich wird das innere S-Bahn-Netz umgebaut. Dank einstöckigem Rollmaterial mit weniger Sitzplätzen und mehr Türen, dichterem Fahrplan und ein paar neuen Bauten soll die S-Bahn ab 2035 doppelt so viele Leute transportieren.

5 Zukunftsvisionen für den Verkehr

Welche Zukunftsvisionen gibt es für den Schienen- und Strassenverkehr? Eine Analyse mit den beiden Experten Thomas Sauter-Servaes (ZHAW) und Peter de Haan (ETH) finden Sie am Ende des Artikels.

Selbstfahrendes Auto
Quelle: PD

Der Verkehr nimmt auch auf der Strasse so rasant zu, dass man beim Bund bereits über eine vierte Autobahnröhre durch den Baregg nachdenkt – 14 Jahre nach der Eröffnung der dritten. Der Ausbauschritt gehört zum 28,5 Milliarden Franken teuren «Strategischen Entwicklungsprogramm Nationalstrassen», das in den nächsten 25 Jahren realisiert werden soll. Ohne Ausbau wäre 2040 ein Fünftel der Nationalstrassen regelmässig überlastet, warnte Bundesrätin Doris Leuthard kürzlich.

Dass der Bund so reagiert, verwundert Thomas Sauter-Servaes nicht. Verkehrsplaner seien oft ehemalige Bauingenieure, sagt der Mobilitätsforscher an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). «Und wenn Ingenieure Engpässe erkennen, bauen sie aus.» Damit verursachen sie laufend Folgekosten und verbrauchen immer mehr Raum. Und produzieren immer mehr Verkehr.

Neue Ideen braucht das Land

Der Ausbau dauere «sehr lange, viel zu lange», moniert Auto-Schweiz, der Verband der Autoimporteure. Man stosse «zunehmend an die räumlichen, ökologischen, gesellschaftlichen und systemischen Grenzen», schreibt der Bundesrat und fordert «dringend neue, intelligente Ansätze». 

Genau hier hapert es. Der Landesregierung fehlen patente Rezepte. Ihr Liebkind ist Mobility-Pricing, die Verteuerung von Schiene und Strasse zu Stosszeiten. Doch die Akzeptanz bei der Bevölkerung ist gering, ÖV-Anbieter wollen das Projekt nicht weiterverfolgen. «Ich halte nichts davon, die Mobilität der Leute einzuschränken. Das schmälert die Lebensqualität und ist nicht gut für den Arbeitsmarkt, der mobile Arbeitnehmer verlangt», sagt SBB-Konzernchef Andreas Meyer im Beobachter-Interview.

«Statt ein Ausbauprogramm auf das nächste folgen zu lassen, braucht es einen Schritt zurück und eine neue Strategie», fordert Paul Schneeberger. Der Raumplaner und «NZZ»-Verkehrsjournalist arbeitet an einem Buch mit dem Titel «Ein Plan für die Bahn». Darin will er zeigen, dass das verbaute Geld weniger bewirkt, als es könnte.

Seit Strasse und Schiene über je ein sprudelndes Geldbrünneli in Form eines Fonds verfügen, fehle der Druck, kreativ zu werden, so Schneeberger weiter. «Es stellt sich niemand mehr die Frage, ob es intelligentere Lösungen gibt, als alle zehn Jahre Milliarden auszugeben, um Engpässe zu beseitigen.» Er fordert deshalb, dass der Bund eine «Ideenkonkurrenz» ausschreibt – einen Wettbewerb für eine Testplanung, mit der sich der Verkehr effizienter abwickeln lässt.

Ein möglicher Teilnehmer ist ein Oldtimer: Werner Wildener. Der 69-Jährige kennt sich aus mit verkehrstechnischen Revolutionen. Eine hat er bereits geplant und durchgezogen. 2005, mit «Bahn 2000». Das war für das Schweizer Bahnsystem ein Quantensprung, der wenig Geld kostete, aber viel Grips benötigte. 

20 Jahre lang arbeitete Wildener an seinem grossen Fahrplanwurf. Der einstige SBB-Fahrplanchef machte das Schienennetz mit der «Bahn 2000» zum dichtestbefahrenen der Welt. Sein Trick: Er verkürzte die Abstände zwischen den Zügen von drei auf zwei Minuten und erhöhte damit die Netzkapazität explosionsartig um 30 Prozent – ganz ohne Beton.

Rückbesinnung auf «Bahn 2000»

Das Schweizer Bahnnetz sei heute eine ausgepresste Zitrone, sagt Wildener. «Punktuell mehr Züge fahren zu lassen geht nicht mehr.» Trotzdem müsse man etwas tun: «Jetzt muss ein Paukenschlag kommen. Ein grosser Wurf ist überfällig. Nur so ist eine Kapazitätssteigerung noch möglich.» Die Betonausbauten seien ja gut und recht. Doch um das Passagierwachstum zu schlucken, brauche es noch kürzere Zugsabstände, glaubt der Berner. Das gehe nur mit ferngesteuerten Zügen. Genau das wollen die SBB realisieren, allerdings erst ab 2040.

Bund und ETH drängen jetzt mit einer neuen Initiative in die gleiche Richtung wie Werner Wildener vor 20 Jahren. Am WEF in Davos kündigten sie an, in den kommenden Jahren 100 Millionen in die Forschung zu intelligenten Verkehrssystemen investieren zu wollen. Ziel ist eine bessere Nutzung der Infrastruktur durch eine systematische Auswertung aller verfügbaren Daten. Das Rezept ist das von Wildener: Grips statt Beton.

Wildeners «Bahn 2000» war visionär, weil er von der Frage ausging, was Pendler brauchen: planbare Anschlüsse. Was selbstverständlich klingt, hat in der heutigen Verkehrsplanung eher Seltenheitswert: der Fokus auf Kundenbedürfnisse. «Wir sind extrem technologiegetrieben. Die technische Machbarkeit treibt uns gewissermassen vor sich her», sagt Mobilitätsforscher Sauter-Servaes. Man überlegt, was technisch machbar ist, und nicht, was wir künftig brauchen werden.

Diese Frage müsste die Politik beantworten. Doch neue Ideen kommen inzwischen mehrheitlich aus dem Ausland. Etwa von Johann Jungwirth. Der deutsche Ingenieur und Elektrotechniker ging 2014 ins Silicon Valley und arbeitete dort am iCar-Projekt mit. Seither heisst er JJ. 

2015 kehrte er nach Deutschland zurück, heute arbeitet der 44-Jährige als Chief Digital Officer bei VW. Damit der Paradigmenwechsel zur Mobilität der Zukunft stattfinden könne, müsse man «die drei grossen Achsen der Disruption ernst nehmen»: den Wechsel vom Verbrennungsmotor zum Elektroantrieb, den Wechsel zum autonomen Fahren und den Wechsel vom Eigentum zu Shared Mobility.

Die Schweiz scheint dafür noch nicht bereit. Carsharing etwa wird kaum akzeptiert. Dass 2018 zum ersten Mal mindestens jedes zweite neu verkaufte Auto einen Vierradantrieb haben wird, zeigt, dass Autos für Schweizer und Schweizerinnen mehr sind als ein profanes Fortbewegungsmittel – sie sind noch immer ein Statussymbol.

Teile – und profitiere dadurch

Dass die eigenen vier Räder nach wie vor eine so grosse Bedeutung haben, sei der Hauptgrund, warum der Verkehr weiter zunehme, sagt denn auch Verkehrsexperte Peter de Haan. Der ETH-Dozent räumt dem Carsharing deshalb nur geringe Chancen ein. «Die Leute wollen nicht auf ihr eigenes Fahrzeug verzichten. Die Bereitschaft, zu teilen, ist gering, das zeigen unsere Umfragen immer wieder. Der Wert der jederzeitigen Verfügbarkeit des eigenen Autos ist sehr hoch.» Daran werde auch die Automatisierung nichts ändern.

Damit Carsharing wirklich eine Chance habe, müsste sich der Bund «zu einer Politik von Zuckerbrot und Peitsche durchringen», sagt Mobilitätsforscher Sauter-Servaes. Für Autos, in denen mehrere Personen sitzen, müsste es nach amerikanischem Vorbild echte Vorteile geben, zum Beispiel eigene Spuren. Damit würde man für das Teilen mit einem spürbaren Zeitgewinn belohnt. Gleichzeitig müsse der Verkehr für den Einzelnen merklich teurer werden. «Aber Politiker mögen es nicht, den Stimmbürgern weh zu tun.» So hat der Bundesrat kürzlich die Verteuerung des Benzins erneut verschoben.

Packen könne man die Leute allenfalls bei der Bequemlichkeit, glaubt Experte Sauter-Servaes. «Convenience wird ein ganz entscheidender Punkt. Es geht nicht primär darum, wie die Autos der Zukunft aussehen, sondern dass sie den Leuten Zeit schenken. Private Zeit.»

Selbstfahrende Autos also. Doch die Akzeptanz solcher Fahrzeuge sei in der Schweiz gering, sagt Verkehrsfachmann de Haan. Nur gerade jeder Vierte halte vollautomatisierte Autos für sinnvoll, zeigte seine jüngste Umfrage letzten Sommer. «Selbstfahrende Autos sind derzeit so unpopulär wie Benzinpreiserhöhungen.»

China setzt auf Elektromobilität

Und doch glauben 52 Prozent der Schweizer, dass autonome Fahrzeuge Staus reduzieren würden. Sicher ist das nicht, sagt de Haan: «Autonome Fahrzeuge führen nicht ins Paradies. Mit der Automatisierung der Mobilität wird der Stau nicht verschwinden. Meiner Meinung nach wird es mit selbstfahrenden Fahrzeugen mehr Verkehr und mehr Staus geben.»

Das klingt, als wäre am Ende doch die Bahn im Vorteil. Wird sie im gleichen Ausmass beliebter, wie die Staus auf der Strasse zunehmen? Thomas Sauter-Servaes ist skeptisch. Denn: «Im Moment wird zu 99 Prozent in die Strasse investiert.» 

Die Zukunft des Autos wird aber nicht in der kleinen Schweiz entschieden. «Grosse Länder wie China, das politisch völlig andere Strukturen hat, haben sich für Elektromobilität entschieden. Und das mit sehr kurzfristigen Zielen.» 25 Millionen von 85 Millionen weltweit produzierten Neuwagen werden in China verkauft. VW produziert zu 40 Prozent für den chinesischen Markt. Da ist die Schweiz eine vernachlässigbare Grösse. 

5 Zukunftsvisionen für den Verkehr

Welche Zukunftsvisionen gibt es für den Schienen- und Strassenverkehr? Eine Einschätzung der beiden Experten Thomas Sauter-Servaes von der ZHAW und Peter de Haan von der ETH.

Selbstfahrendes Auto
Quelle: PD
  1. Strasse und Schienen werden ein Team

    «Die Bahn wird nicht so schnell verschwinden», sagt Mobilitätsforscher Thomas Sauter-Servaes. «Gerade auf stark genutzten Verkehrsachsen ist sie zu Stosszeiten jeder Art von Individualverkehr in der Flächeneffizienz haushoch überlegen.» Die Bahn bewältigt viel Verkehr auf kleinstem Raum. Neue Angebote werden auf Nebengleisen entstehen. So testet man etwa in Sitten VS seit anderthalb Jahren selbstfahrende Postautos. Die Betreiber ziehen eine positive Zwischenbilanz.

     
  2. Ein Miniauto besitzen, grosse Wagen mit anderen teilen

    «Das Auto, das man für alles brauchen kann, das Stauraum hat, eine grosse Reichweite und Vierradantrieb, mit dem einzelne Leute dann täglich zur Arbeit pendeln, ist reine Ressourcenverschwendung», sagt Thomas Sauter-Servaes. Vielleicht werde man eines Tages ein Miniauto für den Alltag besitzen und grössere Fahrzeuge mit mehr Stauraum, grösserer Reichweite oder anderen Features teilen. Allerdings warnt Mobilitätsexperte Peter de Haan: «Nicht jeder soll ein Roboterauto kaufen können. Sonst gibt es für jedes Kind ein kleines Roboterauto. Für Buben ein blaues, für Mädchen ein pinkes. Und der Verkehr wird explodieren.»

     
  3. Das Taxi der Zukunft ist ein selbstfahrendes Elektromobil

    Via App kommt es zum Passagier und bringt ihn ans Ziel. Das ist sinnvoll mit Sammeltaxis, besonders wenn keine Leerfahrten verursacht werden. Mobilitätsexperte Peter de Haan warnt aber vor zu hohen Erwartungen: «Es wird auch mit einer App nicht so sein, dass innert 30 Sekunden ein Auto vor der Tür steht.»

     
  4. Langfristig wird sich der Frachtverkehr von der Schiene auf die Strasse verlagern

    Das glaubt Experte Thomas Sauter-Servaes. Denn die Strasse wird im Verhältnis zur Bahn immer günstiger. Daimler erforscht in den USA intensiv das Platooning. Ziel: Lastwagen fahren damit viel näher hintereinander – und das bei grösserer Sicherheit.

     
  5. Im autonom fahrenden Auto die Zeitung lesen oder arbeiten

    «Grössere Autos, die autonom fahren, sind ein weiteres Konzept mit Zukunft», sagt Experte Sauter-Servaes. «Solche Fahrzeuge werden nicht mehr von aussen nach innen geplant, sondern umgekehrt.» Damit werde das Auto zu einem Third Place, neben Zuhause und Arbeitsplatz –ähnlich wie es heute die Starbucks-Filiale ist. So könne man während der Fahrt lesen, relaxen und fernsehen. Oder arbeiten, falls der Arbeitgeber «Road-Office» erlaubt. Der Nachteil: Es sind noch mehr und noch grössere Autos auf der Strasse.
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Christian Gmür, Content-Manager Ratgeber
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