«Glutenfrei ist nicht zwingend gesünder»
Wer sein kulinarisches Spektrum einschränkt, riskiert Mangelerscheinungen, sagt Präventivmediziner David Fäh. Deshalb sei es wichtig, für Abwechslung zu sorgen.
Veröffentlicht am 8. Oktober 2020 - 18:38 Uhr
Immer häufiger erzählen Bekannte, sie litten unter einer Glutenunverträglichkeit. Was ist das überhaupt?
Genau weiss das niemand. Dass Personen ohne Zöliakie einen Nutzen vom Glutenverzicht haben könnten, ist eine junge Erkenntnis. Entsprechend fehlen Studienresultate, die es erlauben würden, eine saubere Diagnose zu stellen. Tatsache ist, dass sich viele besser fühlen, wenn sie auf glutenhaltige Lebensmittel verzichten
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Immer mehr Lebensmittel sind als glutenfrei ausgezeichnet. Sind Glutenunverträglichkeit und Zöliakie Modeerscheinungen?
Die beiden Begriffe sollten nicht in einen Topf geworfen werden. Für Zöliakie gibt es klare Diagnosekriterien. Zöliakiebetroffene müssen zwingend auf Gluten verzichten, weil sie sonst Symptome und eventuell sogar längerfristige Gesundheitsprobleme befürchten müssen. Bei Heranwachsenden drohen sogar Entwicklungsstörungen. Die Toleranzschwelle ist dabei niedrig.
Und bei einer Glutenunverträglichkeit?
Da liegt die Toleranzgrenze höher. Es sind auch keine Folgeerscheinungen bekannt, wenn trotzdem Gluten eingenommen wird.
Gibt es wirklich immer mehr Betroffene?
Für beide Erscheinungen fehlen uns solide Daten, die es erlauben würden, Trends seriös abzuschätzen. Es kann schlichtweg sein, dass mehr Zöliakiebetroffene erfasst werden, weil mehr getestet wird.
«Viele glutenfreie Fertigprodukte sind stark verarbeitet und deshalb nur bedingt empfehlenswert.»
David Fäh, Präventivmediziner und Ernährungswissenschaftler
Wann lohnt es sich, einen Test auf Zöliakie machen zu lassen?
Bei anhaltenden und unerklärbaren Darmbeschwerden wie Bauchschmerzen, Durchfall oder Verstopfung, Blähungen, Übelkeit und Appetitlosigkeit, insbesondere wenn diese im Zusammenhang mit dem Konsum glutenhaltiger Lebensmittel stehen.
Kann man auch ohne Symptome an Zöliakie leiden?
Ja, zumindest ohne solche, die gleich an Zöliakie denken lassen würden. Dann können unspezifische Gesundheitsprobleme einen Hinweis liefern, etwa Blutarmut, Eisenmangel, Aphthen, Kopfschmerzen, neurologische Symptome und Depressionen oder gar ein unerfüllter Kinderwunsch.
Ist es gesund, sich ohne Zöliakie glutenfrei zu ernähren?
Es ist nicht grundsätzlich gesünder. Viele glutenfreie Fertigprodukte sind stark verarbeitet und deshalb nur bedingt empfehlenswert. Und wer sein kulinarisches Spektrum einschränkt, erhöht automatisch das Risiko für Mangelerscheinungen oder -symptome. So sind etwa wenig verarbeitete, glutenhaltige Produkte oft gute Quellen für Nahrungsfasern. Wenn man die weglässt, muss man auf andere Faserquellen zurückgreifen.
Glutenfreie Lebensmittel sind oft teurer als herkömmliche Produkte. Übernehmen die Krankenkassen die Mehrkosten?
In der Schweiz übernimmt die Krankenkasse diese Kosten nicht. In den ersten 20 Lebensjahren zahlt aber die Invalidenversicherung einen altersabhängigen Betrag, und bei den Steuern ist ein einkommensabhängiger Pauschalbetrag abziehbar.
Ihre Co-Autorin Veronika Studer präsentiert im Buch 50 Rezepte. Welches ist Ihr Lieblingsrezept?
Ich liebe den Schokoladenkuchen, am liebsten noch leicht warm.
David Fäh lehrt und forscht an der Berner Fachhochschule und der Universität Zürich und doziert zudem an der ETH Zürich. Der Präventivmediziner und Gesundheitswissenschaftler beschäftigt sich mit den Ursachen, den Folgen und der Vermeidung von Übergewicht und ist Autor zahlreicher Publikationen.