Emotionen können das Herz tatsächlich «brechen» lassen
Stress, Trauer, aber auch überbordende Freude können das Herz «brechen» lassen. Was passiert dabei? Und wie gefährlich ist es?
Veröffentlicht am 8. Dezember 2022 - 14:00 Uhr
Todesangst und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden: Der bisher schönste Moment im Leben von Samanta Widmer* (Name geändert) entwickelt sich zum Albtraum.
Soeben war ihr Sohn per Kaiserschnitt entbunden worden. Beim Zusammennähen gibt es Komplikationen – harmlose, wie sich später herausstellt. Doch Widmer überkommt Panik. Sie spürt einen Druck auf der Brust, steigert sich in das Gefühl hinein.
«In den meisten Fällen erlebten Betroffene vorher eine gefühlsmässig grosse oder schmerzhafte Belastung.»
Christian Templin, leitender Arzt Kardiologie am Universitätsspital Zürich
«Eine Operation bei Bewusstsein ist ein enormer Stress für Psyche und Körper. Dazu kam die plötzliche Angst. Es war traumatisch», sagt sie.
Was sie damals nicht wusste: Der Vorfall hat das Takotsubo-Syndrom – auch bekannt als Broken-Heart-Syndrom – ausgelöst. Für Christian Templin ist das keine Überraschung. Der leitende Arzt Kardiologie am Universitätsspital Zürich sagt: «In den meisten Fällen erlebten Betroffene vorher eine gefühlsmässig grosse oder schmerzhafte Belastung.»
Beim Takotsubo-Syndrom gerät das Herz von der einen auf die andere Sekunde in Schockstarre – und verändert dadurch sogar seine Form. Das Organ erinnert dann an einen Tonkrug mit engem Hals und bauchigem Körper; ähnlich den japanischen Tintenfischfallen, daher auch der Name Takotsubo.
Symptome wie bei einem Infarkt
Während des Schockzustands sinkt die Herzleistung von normalen 55 bis 60 auf 30 bis 40 Prozent. Das kann eine schwere Herzschwäche nach sich ziehen.
Oft wird das Broken-Heart-Syndrom zuerst für einen Herzinfarkt gehalten. Grund dafür sind Symptome wie Brustschmerzen oder Atemnot sowie praktisch identische Labor- und EKG-Werte.
«Ursprünglich wurde angenommen, dass nur extreme Stresssituationen wie der Tod eines geliebten Menschen Auslöser sind.»
Christian Templin
Als Widmer nach dem traumatischen Kaiserschnitt im Spitalbett lag, fühlte sie sich beschwerdefrei. Doch ein Test ergab einen zu hohen Blutdruck und zeigte: Mit dem Herz stimmt etwas nicht. Es folgten verschiedene Untersuchungen, und nach einer MRT gab es zwei Verdachtsdiagnosen. Weitere Tests bestätigten eine davon: Samanta Widmers Herz war gebrochen. «Die Diagnose war ein Schock», sagt sie.
Pro Jahr gibt es in der Schweiz rund 500 Fälle des Takotsubo-Syndroms, am Universitätsspital Zürich sind es zirka 40, Tendenz steigend. Jedoch nicht wegen eines immer grösser werdenden Alltagstresses.
Laut Christian Templin ist die Erkrankung früher von niemandem richtig wahrgenommen worden. Widmer gehörte mit ihren damals 37 Jahren eher zu den jüngeren Betroffenen. Das Broken-Heart-Syndrom tritt häufig bei Frauen zwischen 50 und 80 Jahren auf.
«Ursprünglich wurde angenommen, dass nur extreme Stresssituationen wie der Tod eines geliebten Menschen Auslöser sind.» Wahrscheinlich sei der Name Broken-Heart-Syndrom wegen dieser Verbindung entstanden. «Doch auch physische Belastungen wie ein Asthmaanfall, eine Narkose oder körperliche Anstrengung sowie neurologische Erkrankungen wie ein epileptischer Anfall können Ursachen sein», so Templin.
Gute Prognose
Aber auch Glücksgefühle können dem Herz zusetzen. Eine Studie aus dem Jahr 2015 zeigt, dass bei 1750 Patientinnen und Patienten in 485 Fällen emotionaler Stress
zum Broken-Heart-Syndrom geführt hat – 20 davon hatten positiven Stress erlebt.
Der Mann zum Beispiel, der in einem Casino gleich mehrere Male den Jackpot geknackt hatte. In solchen Fällen wird auch der Begriff Happy-Heart-Syndrom verwendet.
«Das Vertrauen zurückzugewinnen, braucht sehr viel.»
Samanta Widmer, Broken-Heart-Syndrom-Patientin
Ob negative oder positive Ursachen: Die Prognosen für die Genesung sind gut. «In der Akutphase ist das Takotsubo-Syndrom lebensbedrohlich, etwa fünf Prozent der Betroffenen sterben in ärztlicher Obhut. Da sich die Herzfunktion aber in der Regel komplett erholt, bleibt langfristig kein Schaden zurück», sagt Christian Templin. Noch hat die Medizin keine Möglichkeiten, die Genesung vom Takotsubo-Syndrom voranzutreiben.
Laut Templin könne man allenfalls ein leichtes Medikament verschreiben, um das Herz zu entlasten. Ansonsten heisse es: abwarten.
Samanta Widmer hat sich mittlerweile vollständig von den physischen Beschwerden erholt. Anders verhält es sich mit den psychischen. «Ich reagiere extrem sensibel auf alles, was in meinem Körper vorgeht», sagt sie.
Vorher sei sie diesbezüglich ziemlich entspannt gewesen. «Das Vertrauen zurückzugewinnen, braucht sehr viel.» Die Angst, dass mit dem Herz doch etwas nicht stimme, sei allgegenwärtig. Widmer hat sich professionelle Unterstützung geholt und sieht sich langsam, aber sicher auf dem Weg aus diesem Teufelskreis.
Register gegen Fehldiagnosen
Christian Templin, leitender Arzt Kardiologie am Universitätsspital Zürich, ist überzeugt, dass die Dunkelziffer beim Takotsubo-Syndrom gross ist und dass es weltweit wegen ähnlicher Symptome immer wieder als Herzinfarkt diagnostiziert wird. Das Problem dabei: Es könne passieren, dass Betroffene fälschlich und unnötigerweise Medikamente zur Risikoprävention bekämen. Nur schon deshalb sei eine stärkere Sensibilisierung der Kardiologinnen und Kardiologen sowie der gesamten Ärzteschaft wichtig. 2011 hat das Universitätsspital Zürich daher das weltweit grösste Takotsubo-Register ins Leben gerufen. Angeschlossen sind mittlerweile 60 Herzzentren aus 18 Ländern. «Jüngste Erkenntnisse über Ursachen, Diagnose und Behandlung sind unter anderem dank diesem Register möglich geworden», so Templin.
Der Beobachter-Gesundheits-Newsletter. Wissen, was dem Körper guttut.
Lesenswerte Gesundheitsartikel mit einem wöchentlichen Fokusthema. Jeden Montag.