Kaffee? Nein. Lieber Wasser. Wenn er spricht, wird sein Mund schnell trocken, sagt der Koch.

Er wird drei grosse Gläser Wasser trinken. Pro Gespräch, das je zwei Stunden dauert. Schluck für Schluck. Und Satz für Satz nimmt sein Leben Form an. Sein Leben, das im Zürcher Oberland begann und ihn in die Karibik führte. Und mit seiner Frau zurück in die Schweiz. Das ist Jahre her.

Seine Hände sind gross und breit und kräftig. Wie seine Schenkel, seine Oberarme, sein Körper. Seine Stimme ist fest und klar. Locker übertönt sie das Zischen des Fleisches im Öl, das wilde Schlagen und Schleifen der Pfannen auf dem Herd und das Dröhnen der Lüftung, wenn hundert hungrige Gäste auf ihr Essen warten. Ein Saftbrocken von Mann.

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Mumps? Mit 53 Jahren?

Dann schmerzte plötzlich seine Ferse. Der Mann schluckte einen Entzündungshemmer. Der nützte nichts. Dann schwoll sein Hals an. Als habe er Mumps. Mumps? Dieses Virus fängt sich doch allenfalls ein Bub ein, der nicht geimpft ist. Aber doch kein 53-jähriger Koch und Vater zweier Kinder. Mumps gilt in der Schweiz als so gut wie ausgerottet. Wohin gehen, wenn man keinen Hausarzt hat, weil man nie krank war?

Der Mann geht in eine Notfallpraxis in Zürich-Stadelhofen. Eine Ärztin untersucht seinen Hals. Mit Ultraschall. Etwas stimme nicht, sagt sie. Sie schickt den Koch ins Unispital. Dort betäubt man ihn und entnimmt seinem Hals eine Gewebeprobe.

Es war im September 2016, als Bestrahlung und Chemotherapie einsetzten. 36-mal wurde der Hals des Kochs mit Strahlen beschossen, um die Krebszellen zu killen. «Mein Hals sah aus wie ein verbröötleter Cervelat», erzählt er. Zunge, Gaumen und Rachen waren zündrot, die Haut schälte sich ab. Er konnte nicht mehr essen, er konnte nicht mehr trinken, er musste künstlich ernährt werden. Er verlor 20 Kilo. «Ich habe die Kurve gerade noch gekriegt», sagt er.

Bestrahlung.

«Nach all den Bestrahlungen sah mein Hals aus wie ein verbröötleter Cervelat», erzählt der Koch.

Quelle: Kornel Stadler
Käsefondue auf Curaçao

Sein Leben lang war er Koch. 1962 geboren, ein Babyboomer. Es war schwer, eine Lehrstelle zu finden damals. Der Chef des Bahnhofbuffets im sankt-gallischen Rorschach stellte ihn ein. Kaum 16, beinte der Stift für 150 Franken im Monat bei Kost und Logis Rehe aus und setzte sie gewürfelt mit Beize an. Schnitt Kartoffeln zu Pommes frites. Schabte Spätzli von Hand. Packte am Sonntag früh seine Tasche und rannte auf den Zug, den er von seinem Zimmer aus sah. Heim zu den Eltern. Am Montag um sieben Uhr früh fuhr der Zug vom Zürcher Oberland wieder Richtung Rorschach. Knapp 24 Stunden frei. «Seckle, seckle. Manchmal hatte ich nicht einmal Zeit für die Dusche, weil schon der Zug wartete. Heute lache ich darüber.» 

Im Militär füllte der junge Mann die Kochkisten mit Pot-au-feu und Schweinsvoressen samt Bohnen. Er hatte Spass daran. «Wänn dini Buebe gnueg und guet ggässe händ, häsch de Fride gha.» Es folgten Stationen in Zürich und Schlieren, bis er auf ein Inserat stiess. Ein Koch war gefragt – auf Curaçao, einer Insel der niederländischen Antillen. «Kein Mensch wusste, wo das ist.» Der 21-Jährige packte seine Chance und seine Koffer und reiste via Amsterdam und Lissabon auf die Insel, von der keiner je gehört hatte.

Dort rührte er bei 30 Grad Hitze Käsefondue an, kochte Zürcher Geschnetzeltes und backte Biskuit für Schwarzwäldertorten. «Es war der Hammer, aber stressig.» Zwei Jahre darauf war er verheiratet und zurück in der Schweiz, wo zwei Kinder geboren werden sollten, die heute längst erwachsen sind.

Wenn alles nur noch eklig schmeckt

Die Bestrahlung des Tumors auf der rechten Seite des Halses stellte sein Leben auf den Kopf. Der Koch verlor den Sinn für süss, sauer, salzig, bitter und umami, die japanische Bezeichnung für «fleischig» oder «schmackhaft». «Alles schmeckte einfach nur noch gruusig. Auch Schokolade war gruusig, wo ich sie doch so gern hatte. In der Küche hat es mich schon vom Dampf gelupft. Im Kopf weiss man ja, wie etwas schmecken muss, aber das tat es nicht mehr. Dabei konnte ich mich jahrzehntelang auf meinen Geschmack verlassen.»

Die Geschmackspapillen seiner Zunge sind gelähmt oder zerstört, die Speicheldrüsen ebenso. Das ist bei Patienten, deren Hals, Rachen oder Zunge vom Krebs befallen ist, nach der Therapie häufig so. Sie berichten von ödem oder metallischem oder gar unerträglichem Geschmack von Speisen, die sie davor geliebt hatten.

Die Zunge ist dabei nur ein Teil des Erlebnisses. Forscher gehen davon aus, dass für 90 Prozent des Geschmacksempfindens die Nase zuständig ist. Der Geruchssinn gilt als direktester Weg ins Hirn und in die Erinnerung. Bei manchen löst allein der Duft von frischen Zimtsternen das Gefühl von Glück und Gemeinsamkeit aus. Bei anderen wiederum öffnen sich gleich Folterkammern.

Zum Vergleich lässt sich ein Patient herbeiziehen, der durch einen Autounfall farbenblind wurde. Schon der Anblick von Essen liess ihn erschaudern, sagte er, weil es so widerlich grau und tot aussah wie auch alle Freunde, die ihn besuchten. Er brachte nur noch schwarze Oliven und weissen Reis und Joghurt nature hinunter und trank den Kaffee schwarz. Das orale oder gustatorische Gedächtnis ist wichtig, weil es Wirklichkeit herstellt – die Wirklichkeit der Erinnerung und damit die einzige Wirklichkeit, die wir besitzen.

Patienten berichten von ödem oder metallischem oder gar unerträglichem Geschmack von Speisen, die sie davor geliebt hatten.

Spektakulär verlief der Fall von Grant Achatz, der vor zehn Jahren zum besten Koch der USA gekürt wurde. Achatz litt zu jener Zeit an Zungenkrebs. Nach Operation, Bestrahlung und Chemotherapie schmeckte er «nichts, absolut nichts. Ein Gericht war wie Karton und Salz in meinem Mund, das sich merkwürdig langsam und grundlos auflöste. Essen war eine grauenvolle und schmerzhafte Angelegenheit, die man drei- oder viermal am Tag über sich ergehen lassen musste.» Er kam sich vor wie ein Maler, dem man die Augen weggenommen hatte.

Sein Geschmackssinn sei in Wellen zurückgekehrt, schreibt Achatz im Buch «Life, on the Line». Er, der Spitzenkoch, der sich während der Therapie nach jedem Bissen hatte übergeben müssen und Essen nur als Brei zu sich nehmen konnte, schmeckte erst Süsses, dann Salziges, dann Fleischiges, bis er seine fünf Sinne wieder beisammen hatte. Er kehrte an den Herd zurück und nahm sein Leben wieder auf. Heute ist sein Restaurant in Chicago auf Monate ausgebucht.

Immerhin hat er den Krebs überlebt

Der Koch aus dem Zürcher Oberland nimmt einen Schluck Wasser. «Wenn ich nicht genug trinke, beginne ich zu lispeln.» Die Ärzte haben ihm gesagt, dass der Geschmackssinn manchmal vollständig zurückkäme, manchmal nie wieder. «Immerhin: Der Krebs wird es wohl nicht.»

Er ist, wie die Amerikaner sagen, ein Survivor, ein Überlebender. Und zählt zu einer wachsenden Gruppe von Menschen in der Schweiz. 300'000 soll es in der Schweiz geben, Tendenz stark steigend, denn die Krebstherapien werden stetig besser.

«Ich wusste, was mich erwartet, aber ich musste mich bestrahlen lassen», sagt der Koch. Kaffee oder Rotwein widern ihn weiterhin an, Weisswein und Rosé kann er trinken. Gewürze und vor allem Pfeffer mag er nicht mehr leiden. Als Koch arbeiten, das geht nicht mehr. Auch zu Hause kocht er kaum mehr. Möglich wäre eine Stelle als Hoteldirektor, als Betriebsleiter oder als Assistent. Die Absagen füllen Ordner.

Er sei «zu alt» oder «zu teuer», sagt man ihm. «Aber ich will ja nicht IV-Bezüger werden.» Sein letzter Arbeitgeber, eine Klinik für Suchtkranke in Küsnacht ZH, schickte ihm die Kündigung, auf den Tag, an dem die Versicherung die Leistungen einstellte. Erst war der Chef der Klinik per Telefon nicht erreichbar. Dann beantwortete er auch Mails nicht mehr. Schliesslich schickte er dem Kranken den blauen Brief. Nach fünf Jahren tadelloser Arbeit. «Ich habe ihm dennoch eine Karte mit guten Wünschen zum neuen Jahr geschickt», sagt der Koch.

Der IV-Arzt sieht kein Problem

So wie sein amerikanischer Kollege Grant Achatz hat auch er monatelang Brei gegessen. Kinderbrei, so neutral wie möglich. Wenn er Fleisch oder Gemüse sah oder roch, wurde ihm übel. Danach drückte man ihm Drinks in die Hand, die man Ausgezehrten gibt, damit sie wieder zu Kräften kommen. «Pfui Teufel! Dass man nichts anderes findet?»

Zwei- oder dreihundert Bewerbungen hat der Koch geschrieben, ergebnislos. Er rutschte in die IV ab. Laut deren Vertrauensarzt könnte er seine Arbeit weiterhin ausüben. «Eine Ferndiagnose. Ich habe den Arzt noch nie gesehen.»

Doch der Koch darf hoffen. Nicht auf einen besseren Vertrauensarzt, sondern auf die Linderung seines Leidens. Denn sein Geschmackssinn kehrt nach und nach zurück. Allerdings nicht die ganze Palette. Ausserdem schmerzt das Schlucken weiterhin, denn die Speicheldrüsen arbeiten nicht mehr voll.

Die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich hat ihm eine Ausbildung zum Ernährungscoach bewilligt. So könnte der Koch Krebsüberlebenden und Leuten im Altersheim seine Erfahrungen weitergeben. Er sagt: «Erst wenn man es nicht mehr kann, merkt man, was Essen bedeutet. Und wie man es schätzen sollte.»

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Tina Berg, Redaktorin
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