Die Welt, ein Zahlenrätsel
Eine Rechenschwäche macht nicht nur den Mathematikunterricht zur Qual – der ganze Alltag wird komplizierter. Eine Therapie erleichtert vieles.
Veröffentlicht am 31. Juli 2006 - 10:39 Uhr
Vier bis sechs Prozent der Primarschüler in der Schweiz sind von einer Dyskalkulie, einer Rechenschwäche, betroffen; gleich viele wie von Legasthenie. Doch während die Leseschwäche mittlerweile ein bekanntes Phänomen ist und schnell erkannt wird, ist ihre Zahlenschwester kaum ein Thema.
Bei Susanna S. wurde Dyskalkulie in der Schule nicht bemerkt. «Ich war immer schlecht im Rechnen und habe irgendwann resigniert akzeptiert, dass ich in Mathe eine Flasche bin», erzählt die 42-jährige. «Erst als erwachsene Frau, nachdem ich per Zufall einiges darüber erfahren hatte, wusste ich, was los ist. Irgendwann merkte ich sogar, dass mein Sohn – er ist im Primarschulalter – schneller kopfrechnen kann als ich.»
Tatsächlich ist es nicht einfach, eine Dyskalkulie zu diagnostizieren. Umso genauer sollte auf mögliche Anzeichen geachtet werden. Sie manifestieren sich nicht nur beim Rechnen; Dyskalkulie betrifft viele Bereiche des Lebens. Betroffene Kinder zeigen beispielsweise auffällige Probleme im logisch abstrakten Vorstellungsvermögen und können schlecht abschätzen, ob es in der Aufräumkiste für alle Spielzeugautos Platz hat oder ob die Schokolade gross genug ist, damit jedes Gspäändli ein Schoggitäfeli abbekommt. Zeitliche Begriffe wie «gestern», «heute», «morgen» bereiten Mühe und damit auch das Einhalten von Zeitvorgaben. Die Kinder tun sich auch mit Grössenbeziehungen schwer: Reichen 20 Franken im Portemonnaie zum Einkaufen, wenn man zwei Liter Milch, ein Brot und drei Dosen Katzenfutter kaufen will?
Orlando Brunner, Fachpsychologe für Kinder- und Jugendpsychologie, ist als Therapeut unter anderem für Dyskalkulie tätig. Und er kennt auch Fälle, bei denen voreilige Schlüsse gezogen wurden: «Es ist möglich, dass lediglich eine vorübergehende Krise Motivationsprobleme verursacht und keine Dyskalkulie vorliegt.» Anderseits gebe es Kinder, die eine sehr gute räumliche Vorstellung haben und trotzdem eine Rechenschwäche aufweisen. «Wichtigste Indikatoren sind für mich, wenn ein Kind eine ausgesprochene Verweigerungshaltung der Mathematik gegenüber zeigt, sich partout nicht mit dem Stoff befassen will und ungewöhnlich viel Zeit benötigt, die Aufgaben zu lösen.»
Susanna S. hat sich wegen ihrer Dyskalkulie nie unterkriegen lassen – auch nicht in der Schule: «Ich war in anderen Fächern Klassenbeste und konnte so mit meiner Resignation in der Mathe umgehen.» Andere betroffene Kinder haben es da nicht so einfach. Denn die immer wiederkehrende Erfahrung, ein «Versager» zu sein, vergrault den Spass am Lernen von Grund auf und zermürbt das Selbstbewusstsein. Im Extremfall kann das zu einem Schulversagen auf der ganzen Linie führen. Bei Verdacht auf Dyskalkulie sollte eine Fachperson eine umfassende Abklärung machen: Ansprechpartner sind die Lehrpersonen und der Schulpsychologische Dienst.
Da Mathematik keine rein abstrakte Materie ist, sondern uns im Alltag auf Schritt und Tritt begegnet, wird eine sinnvolle Therapie versuchen, die Brücke zwischen dem Alltagsleben und der Mathematik zu schlagen, um dem Kind einen anderen, einfacheren Zugang zur Zahlenwelt zu öffnen.
Orlando Brunner beschreibt seine Arbeit so: «In Zusammenarbeit mit Kind und Eltern wird zuerst ein Profil von den Stärken des Kindes erstellt. Entsprechend versucht man, einen anderen Zugang zu den Zahlen zu erarbeiten. Die Kinder sollen sich durch die Therapie auch von dem Reizthema Rechnen erholen können, es nicht als permanente Überforderung erleben.» Doch auch wenn die Rechenschwäche erkannt und behandelt wird, ein Stück weit werden die Betroffenen gefordert bleiben, da sie immer viel mehr Zeit und Energie in mathematische Zusammenhänge investieren müssen als andere.
Auch Susanna S. ist noch immer mit ihrer Dyskalkulie konfrontiert. So würde sie zum Beispiel ihre Armbanduhr mit Zeigern nie gegen eine Digitaluhr eintauschen. Sie müsste sich immer dreimal überlegen, wie spät es gerade ist. Auch der Zugfahrplan bereitet ihr Mühe. Für den Berufsalltag hat sie sich Strategien angeeignet: «Ich nehme mir für rechnerische Arbeiten genügend Zeit, damit ich sie an einem Tag erledigen kann, denn sonst muss ich am nächsten Tag von vorn beginnen. Wichtiges lasse ich gegenlesen.»
Mögliche Hinweise auf Dyskalkulie
- Schwierigkeiten, Puzzles zu legen oder Memory zu spielen.
- Das Nachbauen von Formen mit Bauklötzen fällt schwer.
- Das Einnehmen von unterschiedlichen Perspektiven bereitet Mühe.
- Sich selbstständig anzuziehen oder beispielsweise einen Ball zu fangen gelingt nicht altersadäquat.
- Aufforderungen, etwas zu tun, werden nicht richtig verstanden und daher nicht oder falsch umgesetzt.
- Das Ordnen und Klassifizieren nach Kriterien wie oben/unten macht Mühe.
- Einschätzen von Längen und Abständen ist schwierig.
- Zahlenstrukturen müssen immer wieder von Neuem erlernt werden.