High five mit Samthandschuhen
Maëls Haut ist von Blasen und Wunden übersät – der Dreijährige ist ein sogenanntes Schmetterlingskind. Wie lebt es sich mit der seltenen Krankheit? Dürfen Betroffene auf einen Durchbruch in der Forschung hoffen?
Veröffentlicht am 20. Mai 2020 - 12:58 Uhr
Konzentriert stapelt Maël Klötzli. Eins aufs andere, bis nur ein letztes übrig bleibt. Für das Finale winkt der Bub sein Publikum heran: Eule und Esel auf den Boden, Teddy auf den Tisch, die Eltern auf das Sofa. Los gehts, ganz langsam, mit offenem Mund und angehaltenem Atem. Der Turm wackelt, fällt aber nicht.
«High five!», jubelt der Dreijährige und reckt eine Hand in die Höhe. Da trifft sie sich mit der seines Vaters. Mit Schwung und doch sanft, die kleine Hand eingepackt in einen schützenden Handschuh. Er sorgt dafür, dass Maëls Blasen nicht platzen, die Wunden nicht einreissen. Dass fehlende Hautschichten schneller wachsen und «Bobos» sich nicht entzünden.
Maël Philippe Le Clère leidet unter Epidermolysis bullosa. Er ist ein sogenanntes Schmetterlingskind, seine Haut so empfindlich wie die Flügel des Insekts. Schuld ist eine Genmutation: Sie führt zu einer Störung der Bauanleitung der Haut. Verschiedene Proteine halten die Hautschichten normalerweise wie Leim zusammen. Bei Schmetterlingskindern wird aber mindestens einer dieser Bausteine gar nicht oder nicht ausreichend hergestellt. Schon kleinste Berührungen führen zu juckenden Blasen und schmerzhaften Wunden.
Maël kam schon mit ihnen zur Welt. Am letzten Samstag im November 2016, zwei Wochen vor dem errechneten Termin. Die Ärzte in Cham ZG wollten das Baby per Kaiserschnitt holen, weil die Mutter eine Schwangerschaftsvergiftung hatte. Maëls Eltern, die ursprünglich aus Frankreich stammen, freuten sich.
«Es ging alles schnell. Plötzlich hörte ich das Schreien des Babys. In Filmen ist das ein gutes Zeichen», erinnert sich Marina Le Clère. Doch die Ärzte brachten das Neugeborene sofort in ein anderes Zimmer. Auch ihr Mann Matyas Philippe sollte folgen und sich setzen. «Ich dachte zuerst, der Arzt halte mich für überwältigt. Ich lachte, doch er blieb ernst.»
Im Nachhinein fügten sich viele kleine Erinnerungen neu zusammen. Da war ein kurzer Moment, direkt nach der Geburt, als der Arzt die Stirn runzelte und ein «Oh!» hervorstiess. Da war ein unsicherer Blick zu seinen Kollegen, zurück zum Baby. Und plötzlich waren da dunkle Stellen auf dem kleinen Körper. An beiden Füssen, dem rechten Schienbein und am Knie. Das sei nicht gut, sagte der Arzt, doch er müsse sich vergewissern. Zuerst am Computer, dann am Telefon. Die Zeit verging unendlich langsam und dann viel zu schnell: «Wir müssen sofort ins Kinderspital Zürich fahren», sagte der Arzt. Das Baby habe Epidermolysis bullosa (EB) – eine Krankheit, von der die Eltern noch nie gehört hatten.
In Maëls Fall wurde die EB rezessiv vererbt. Das heisst, sowohl Marina als auch Matyas sind gesund, aber dennoch Träger einer Mutation auf demselben Gen: COL7A1. Davon wussten die beiden nichts, da ihr mutiertes Gen von einem gesunden «unterdrückt» wird. Dieses übernimmt die Arbeit des erkrankten Gens und stellt intakte Proteinbausteine her. Haben zwei gesunde Träger wie Marina und Matyas ein Kind, kann dieses Glück haben: Erbt es ein oder sogar zwei gesunde Gene, erkrankt es nicht. Die Chancen für diesen positiven Verlauf liegen bei 75 Prozent. Maël aber hatte Pech: Er erwischte zwei mutierte Gene.
Die Schmetterlingskrankheit ist sehr selten . Spezialistinnen gehen von zirka 150 Fällen in der Schweiz aus. Die Zahl ist allerdings nur eine grobe Schätzung. «Der Aufbau und die Pflege einer Datenbank wären gut, aber mit grossem Aufwand verbunden. Auch müssten viele Datenschutzfragen geklärt werden», erklärt Agnes Schwieger-Briel. Die Dermatologin leitet die EB-Sprechstunde am Kinderspital Zürich. Ein ähnliches Angebot gibt es nur am Universitätsspital Basel und am Inselspital Bern.
Eine systematische Erfassung der Betroffenen ist schwierig, weil das Spektrum der Erkrankten sehr breit ist. Epidermolysis Bullosa lässt sich in vier Haupttypen mit über 30 Unterformen unterteilen. Die richtige Diagnose ist entscheidend für die Behandlung. Einige Patienten leiden an milden Formen, die sich kaum äussern. Andere Kinder sind so schlimm betroffen, dass sie nur wenige Monate überleben.
Nach fünf Tagen zeigte eine Biopsie, dass Maël an einer mittelschweren Form der dystrophen EB leidet. Sein Körper produziert keine ausreichende Menge des Proteins Kollagen VII. Deshalb bilden sich Blasen in einer tieferen Ebene der Haut. Da dieses Kollagen auch im Mund, in der Speiseröhre und im Darm eine Rolle spielt, kommt es auch hier zu Blasen und Narben. Die Speiseröhre wird dadurch immer enger, sodass Maël irgendwann operiert werden muss, damit er normal essen kann. Durch die vielen Verletzungen und Narben besteht zudem ein grosses Risiko, dass er bis zu seinem 35. Lebensjahr Hautkrebs entwickelt.
Fünf Wochen lebten die Philippe Le Clères nach Maëls Geburt in einem Haus der Eleonorenstiftung in der Nähe des Kinderspitals. «Wir waren im ständigen Überlebensmodus. Es gab so vieles zu lernen: Blasen aufstechen, Verletzungen desinfizieren, Wunden verarzten und vor allem die Ruhe bewahren», erinnert sich Matyas. Manchmal schaut er sich Videos aus dieser Zeit an, auch Maël kennt sie. Interessiert beobachtet der Dreijährige, wie Ärzte seine Haut aufschneiden und Wunden säubern. An den Anblick hat er sich schon lange gewöhnt. «C’est moi?», fragt er und lacht ungläubig. So klein soll er gewesen sein?
Nach Weihnachten durfte die Familie endlich nach Hause. Doch nicht ohne Hilfe: Mehrmals in der Woche kam eine Kinderspitex vorbei, zudem nahm das Paar Kontakt mit der Patientenorganisation Debra auf, die Betroffene miteinander vernetzt. «Bei uns melden sich Eltern, aber auch Pflegende, Lehrer oder Fachpersonen – einfach jeder, der mit Schmetterlingskindern zu tun hat», sagt Präsidentin Tatjana Jurkic, selber Mutter eines betroffenen Kindes. «Wir helfen bei alltäglichen Fragen:
- Wo findet man geeignete Kleider ohne Nähte?
- Welche Ernährung schont den Hals?
- Darf man mit Schmetterlingskindern ans Meer fahren?
Die Organisation springt mithilfe von Spenden auch ein, wenn Sozialversicherungen dringend nötige Hilfsmittel nicht bezahlen.
So wie etwa einen speziellen Stuhl, um Verbände zu wechseln. Bei den Philippe Le Clères steht er im Verbandszimmer, direkt neben einem Tisch mit Scheren und Verbänden, vor einem Schrank, von oben bis unten mit Verbandsmaterial und Medikamenten gefüllt. Mehrere Stunden am Tag verbringt Maël hier. Oft fühlen sich seine Eltern hilflos. Denn schwierige Momente gibt es immer wieder.
Manchmal wacht Maël mitten in der Nacht auf, weil er seinen eigenen Speichel nicht herunterschlucken kann. Dann hat er Panik und kann kaum noch atmen. Oder er hustet beim Baden plötzlich Blut, weil grosse Blasen im Hals geplatzt sind. Viel tun können Marina und Matyas dann nicht. Sie müssen ihren Sohn beruhigen und trösten.
Die Schmetterlingskrankheit gilt als unheilbar. Trotzdem besteht Hoffnung: Im November 2017 bekam ein siebenjähriger Schmetterlingsknabe aus Deutschland eine neue Haut aus genetisch veränderten Stammzellen. 80 Prozent seiner Oberhaut wurden transplantiert, danach hatte der Bub kaum noch Blasen – ein Durchbruch.
«Dieser Fall war sehr aussergewöhnlich, er ist aber leider nicht einfach auf andere Betroffene übertragbar», sagt Carolina Gouveia, Leiterin der EB-Sprechstunde am Inselspital. In der Forschung tue sich aber einiges: Viele Teams experimentieren ebenfalls mit der Transplantation genetisch reparierter Zellen. Andere versuchen, das fehlende Protein künstlich herzustellen und es den Betroffenen zu verabreichen.
Und dann sind da noch amerikanische Forscher in Stanford, die das natürliche Verhalten von Herpesviren nutzen. «Die Viren werden unschädlich gemacht und mit dem Gen zum Aufbau des fehlenden Proteins versetzt. Dann werden sie mittels einer Creme auf die Haut aufgetragen, von wo sie durch die Oberschicht wandern und das Gen in die sich teilenden Hautzellen einbauen. Das fehlende Protein kann so hergestellt werden. In ersten Versuchen liess sich die Haut nach dem Eincremen für drei Monate stabilisieren. Wenn das längerfristig klappt, wäre das ein unglaublicher Durchbruch», erklärt Agnes Schwieger-Briel vom Kinderspital Zürich.
Solche Versuche sind vielversprechend – doch auch aufwendig und teuer: «Da Epidermolysis Bullosa selten ist und es viele unterschiedliche Mutationen gibt, müssen Studien sehr gross angelegt sein, meist international. Es ist nicht immer einfach, genug Betroffene zu finden, die ausreichend Energie und Zeit dafür haben», so Schwieger-Briel. Laut Kollegin Gouveia ist aber schon sehr viel mehr finanzielle Unterstützung vorhanden als noch vor einigen Jahren.
Im Leben der Philippe Le Clères ist in den letzten drei Jahren vieles einfacher geworden. «Meinst du, wir können diese Blase öffnen?», fragt Marina ihren Sohn inzwischen oft. Maël nickt dann tapfer und hält still. Einen Nachmittag pro Woche besucht er mit einer heilpädagogischen Begleiterin die Spielgruppe auf dem Bauernhof, im Februar war er an der Fasnacht. Als Giraffe und als Zauberer. Mit viel Konfetti und lauter Musik. Seither spielt er Schlagzeug auf Töpfen und Dosen, klimpert auf dem Xylofon, bläst in seine Spielzeugtrompete. Die Plüschtiere sind bei jedem Konzert dabei. In Reih und Glied beobachten sie den hübschen Buben mit seinen winzigen Handschuhen. Mit den wilden braunen Haaren und einem Lachen so breit, dass die kleinen Blasen um den Mund verschwinden.
- Patientenorganisation Debra
- EB-Sprechstunde am Inselspital Bern
- EB-Sprechstunde am Kinderspital Zürich
Debra Schweiz kann nur dank Spenden Hilfeleistungen für Menschen mit der Schmetterlingskrankheit finanzieren. Hier können Sie einen Beitrag leisten.