«Ich habe mir gewünscht, dass ich sterben kann»
Wer am chronischen Erschöpfungssyndrom leidet, findet im Schlaf keine Erholung. Körper und Psyche leiden so stark, dass viele Patienten nur stundenweise das Bett verlassen können. Ein Betroffener erzählt.
Veröffentlicht am 6. April 2018 - 10:44 Uhr,
aktualisiert am 6. April 2018 - 10:16 Uhr
An einem Februarmorgen im Jahr 2005 erwachte Martin Egger* und konnte sich nicht mehr bewegen. Nicht die Zehen, nicht die Finger, nur die Augenlider. Wie erstarrt lag er auf dem Rücken und blickte an die Schlafzimmerdecke. «Aufstehen!» sagte er sich, doch sein Körper gehorchte ihm nicht.
Am Tag davor hatte er mit seiner Frau einen Ausflug gemacht. War wandern gegangen, hatte die ersten warmen Sonnenstrahlen genossen.
«An diesem Samstag wurde ich urplötzlich aus dem Leben gerissen», erinnert sich Egger 13 Jahre später. Früher war er ständig in Bewegung: ist gereist, Ski gefahren, hat viel gearbeitet. In Gastbetrieben, als Pächter eines Restaurants und Besitzer einer Farm und Kleiderfabrik in Ecuador. Jetzt kann schon nur der Gedanke an Bewegungen unangenehme Gefühle auslösen. Unbehagen, Anspannung, Schmerzen.
Seine Krankheit hat inzwischen einen Namen: Chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS), auch Myalgische Enzephalomyelitis (ME) genannt. Was die Ursachen dafür sind, ist ungeklärt. Vermutungen gibt es einige: verschiedene Infektionskrankheiten (z.B. Röteln, das Epstein Barr Virus sowie weitere Herpesviren), Immunfehlfunktionen, genetische Vorbelastung, eine einseitige Ernährung oder belastende Lebenserfahrungen. Körperliche Ursachen, die zuverlässig für alle Betroffenen in Frage kommen, konnten bisher keine gefunden werden. Auch den psychischen Erkrankungen wird CFS nicht zugerechnet. Möglicherweise verarbeite das zentrale Nervensystems vermehrt «Müdigkeitsreize» und niederschwellige Entzündungsreaktionen, so Roland von Känel, Direktor der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik am UniversitätsSpital Zürich: «Die Forschung hat noch wenig Sicheres geliefert.» Auch eine molekulare Erkrankung könnte CFS sein, wie neueste Studien vermuten.
Die Ausprägung der Erkrankung ist sehr unterschiedlich und kann in vier Stufen eingeteilt werden: eine leichte, moderate, schwere und sehr schwere Form. Gewisse Patienten sind nur schwach beeinträchtigt, andere können ihren gewohnten Alltag kaum noch oder gar nicht mehr fortführen. Betroffen ist, wer länger als sechs Monate einen dauerhaften Erschöpfungszustand mit begleitendem Krankheitsgefühl verspürt. Dieser wirkt sich auf Körper und Geist aus und kann zu Beschwerden wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Verdauungsproblemen führen. Schlaf bringt keine Erholung mehr.
«Nach einer Stunde schaffte ich es, meinen Körper aus dem Bett zu hieven. Ins Badezimmer zu kriechen und etwas zu essen», erinnert sich Egger. Danach war er so erschöpft, dass er sich gleich wieder ins Bett legte. Zu müde für Bücher, zu müde für Musik. Die Angst vor einem nächsten Schub begleitete ihn von da an ständig. Drei Jahre lang resultierte sie in Panikattacken. «Bei etwa 50 Prozent der Betroffenen entwickelt sich aus CFS eine psychische Störung – am häufigsten sind Depressionen oder Angststörungen», erläutert Roland von Känel. Oft schlief Egger 18 Stunden am Tag. In den restlichen litt der heute 61-Jährige an Übelkeit bis zum Brechreiz, Bauchschmerzen und Schwindel. Sollte so sein restliches Leben aussehen?
Nein, entschied er, und begann, seine Erschöpfung zu bekämpfen. Trank literweise Coca Cola, ging spazieren und rannte zwischendurch kurze Strecken. Sogar einen Nordic-Walking-Kurs probierte er aus. Am ersten Tag lief er unter Anstrengung, am zweiten schaffte er nur noch die Hälfte der Strecke, am dritten blieb er im Bett. Je stärker er sich bemühte, desto schlimmer trafen ihn die Schübe. Dennoch achtete Egger auf mässige körperliche Bewegung im Alltag. Er wusste, dass ein permanentes Schonen seine Erkrankung nur verschlimmern würde. «Patienten müssen lernen, ihre Ausdauer und ihr Aktivitätsniveau wieder schrittweise zu steigern», bestätigt Roland von Känel.
«Die Erschöpfung zu überwinden ist definitiv keine Willensfrage.»
Roland von Känel, Direktor der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik
Nach dem Ausbruch der Krankheit konsultierte Martin Egger sieben verschiedene Fachpersonen: Neurologen, Rheumatologen, Psychiater, Spezialisten im Schlaflabor sowie in der Schmerzklinik. Für eine Diagnose ist eine intensive Untersuchung nötig, da die Symptome vielen anderen Krankheitsbildern ähneln. In einem ersten Schritt werden solche systematisch ausgeschlossen. Danach macht der Arzt neben dem Hauptsymptom – einer nicht zu erklärenden, anhaltenden Erschöpfung – mindestens vier Zusatzsymptome aus. Zu diesen gehören beispielsweise Halsschmerzen, Muskelschmerzen, Kopfschmerzen, Beeinträchtigung von Konzentration und Gedächtnis.
Die Diagnose CFS wurde ihm schliesslich von einem Schlaflabor, einer psychiatrischen Klinik und seinem Hausarzt gestellt. An das Gefühl, als er sie nach Jahren zum ersten Mal hörte, erinnert er sich noch gut: «Zuerst war ich unendlich erleichtert, den Grund für mein Leiden zu kennen.» Doch die Verzweiflung folgte schnell: Eine Chance auf Heilung ist selten, diese tritt nur in fünf bis zehn Prozent der Fälle ein. «Ich hatte keine Selbstmordgedanken, aber ich habe mir gewünscht, dass ich sterben kann.» Da die Ursache der Erkrankung noch unklar ist, zielen Therapieformen auf eine Linderung der Symptome.
Egger meldete sich zuerst beim RAV, danach bei der IV-Stelle. Diese sprach ihm damals zwar eine 20-prozentige Leistungseinschränkung zu, eine Rente wird aber erst ab 40 Prozent gezahlt. Im Gutachten heisst es, Egger zeige eine «ausgeprägte Neigung zum sozialen Rückzug» sowie eine «Tendenz zur Dramatisierung». Aus rein psychiatrischer Sicht sei die Arbeitsfähigkeit in seiner zuletzt ausgeübten Tätigkeit nicht mehr gegeben, in einer körperlich nicht schweren Tätigkeit könne der Betroffene aber uneingeschränkt arbeiten. Martin Eggers Hausarzt wehrte sich gegen diese Diagnose mit einer ausführlichen Stellungnahme. Die IV bezeichnet diese im Urteil als «mindestens gleich schlüssig» wie diejenige ihres Arztes. «Der medizinische Theoriestreit spielt aber angesichts der höchstrichterlichen Rechtsprechung im vorliegenden Fall nur eine untergeordnete Rolle.» In einem anderen Fall hat das Bundesgericht im Jahr 2008 festgehalten, dass eine gesundheitliche Beeinträchtigung wie CFS «mit einer zumutbaren Willensanstrengung überwindbar» sei. Darauf beruft sich die IV im Fall von Egger.
Patienten können aus medizinischer Sicht also krank und arbeitsunfähig sein, aus rechtlicher Sicht aber dennoch für gewisse Tätigkeitsgebiete leistungsfähig. «Die IV kommt bei Erkrankungen, die schwer objektivierbar sind, schnell an ihre Grenzen», weiss Beobachter-Expertin Irene Rohrbach. Heute würde die IV im Fall Martin Egger aufgrund der geänderten Rechtssprechung vielleicht anders entscheiden.
Eggers Hausarzt sendet nun zwei Mal jährlich ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis an die Sozialhilfe, von welcher der 61-Jährige nun lebt. «Der Betrag ist sehr tief, aber man lernt, damit zu leben», so Egger. «Ins Restaurant oder Kino kann ich sowieso nicht gehen.»
Egger hat sich inzwischen einen fixen Tagesrhythmus angewöhnt. Sein Wecker läutet gegen 7 Uhr morgens, danach meditiert er und macht einen halbstündigen Spaziergang, den er manchmal mit einem Einkauf kombiniert. Nach dem Mittagessen informiert er sich über das Tagesgeschehen, liest buddhistische Texte, arbeitet am Computer. Roland von Känel vom UniversitätsSpital Zürich bestätigt, dass körperliches Aufbautraining, Denkübungen wie Gedächtnistraining und Verhaltensroutinen die einzigen evidenzbasierten Therapieformen sind.
Sehr getroffen haben Egger die Urteile anderer Leute. «Beweg dich doch ein bisschen» oder «reiss dich zusammen», hiess es immer wieder. Denn nachvollziehen konnte Eggers Zustand fast niemand. Zu Beginn versuchte er sich zu erklären, rechtfertigte sich immer wieder vor Bekannten und Verwandten. Doch dann gab er auf. Hielt sich an die wenigen Freunde, die ihm glaubten. «Mit Ungläubigkeit kämpfen viele Patienten», sagt Roland von Känel. «Die Erschöpfung zu überwinden ist definitiv keine Willensfrage.»
Früher war Egger oft verreist. Heute kann er das Bett nur für ein bis drei Stunden verlassen. «Das Wichtigste ist, die Krankheit zu akzeptieren oder sich zumindest mit ihr zu arrangieren», sagt er. Nicht aufzugeben, das Beste daraus zu machen. Mit Freunden sprechen. Die eigene Website für Betroffene zu bewirtschaften. Zu meditieren.
Es gibt kein Patentrezept für die Behandlung von CFS-Patienten – meist müssen Betroffene mühsam nach einer individuellen Lösung suchen. Dies sollte so früh wie möglich geschehen, da sich der Verlauf der Erkrankung so positiv beeinflussen lässt. Ärzte empfehlen ein stufenweises Ausprobieren von Medikamenten und Therapien. Wichtig ist aber, dass Medikamente nur gegen die einzelnen Symptome helfen. «Eine Wunderpille gibt es nicht», erklärt Roland von Känel. Martin Egger warnt ebenfalls, dass Medikamente von vielen Betroffenen gar nicht vertragen werden. Auch helfen können laut von Känel pflanzliche Präparate, die Stress reduzieren und so das Immunsystem regulieren, eine ausgewogene Ernährung sowie im Einzelfall alternative Behandlungsmethoden wie Achtsamkeitsübungen.
Wie viele CFS-Patienten in der Schweiz leben, ist unklar. Der Durchschnitt liegt bei etwa 0,5 Prozent Frauen und Männern. Um sich selbst zu beschäftigen und anderen CFS-Patienten zu helfen, hat Martin Egger eine Website für Betroffene erstellt.
*Name geändert