Stellen Sie sich vor: Das Baby kommt zur Welt, Grösse und Gewicht werden erfasst, der Name für das Zivilstandsamt wird eingetragen – doch beim Geschlecht ist man sich uneinig. Denn die Geschlechtsmerkmale sind unklar, und es stellt sich die Frage: Sollen wir unser Kind denn nun als Mädchen oder als Buben registrieren lassen? Bisher mussten Eltern direkt im Spital entscheiden, wie sie ihr Neugeborenes anmelden – auch in unklaren Fällen.

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Ab dem 11. November 2024 tritt nun eine neue Regelung in Kraft, die betroffenen Eltern zumindest vorübergehend Erleichterung verschaffen soll. Bei intergeschlechtlichen Kindern, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugewiesen werden können, kann der entsprechende Eintrag bis zu drei Monate lang aufgeschoben werden.

Variationen der typischen Geschlechtsmerkmale

Intergeschlechtliche oder intersexuelle Menschen werden mit Variationen der typischen Geschlechtsmerkmale geboren, die sowohl weiblich als auch männlich sind. Häufig wird eine Diagnose aufgrund von anatomischen Merkmalen gemacht, aber auch Hormone oder die Gene können entscheidend sein. Weil eine Intergeschlechtlichkeit auch erst später im Leben festgestellt werden kann (etwa in der Pubertät), ist eine statistische Erfassung der Fälle schwierig.

«Es ist, salopp gesagt, kein Wunschkonzert.»

Roland Peterhans, Präsident des Schweizerischen Verbands für Zivilstandswesen

Fachmann Roland Peterhans bezeichnet die neue Regelung als grossen Fortschritt. Er ist Präsident des Schweizerischen Verbands für Zivilstandswesen und Fachexperte beim Zivilstandsamt der Stadt Zürich. «Spitäler sind verpflichtet, uns eine Geburt binnen drei Tagen zu vermelden», erklärt er. «Auf dieser Meldung war es bisher aber nur möglich, entweder männlich oder weiblich als Geschlecht anzugeben.»

Das könne Eltern von intersexuellen Neugeborenen unter Druck setzen, denn ein voreiliger Entscheid habe mitunter negative Folgen – etwa wenn sich das Kind später doch nicht mit dem festgelegten Geschlecht identifiziert. 

Ist das der erste Schritt zum dritten Geschlecht im Pass?

Intersexualität ist klar zu unterscheiden von der Geschlechtsidentität – etwa bei transsexuellen Menschen, die sich nicht ihrem biologischen Geschlecht zugehörig fühlen. Ein erster Schritt zur offiziellen Einführung des dritten Geschlechts, also der Nonbinärität, ist diese Neuerung grundsätzlich nicht. «Ob wir wollen oder nicht: Es gibt im Moment keine anderen Eintragsoptionen als Mann oder Frau», so Peterhans. «Das lässt unsere Gesetzgebung nicht zu.» 

In einigen Nachbarländern ist ein zusätzlicher oder ein leerstehender Geschlechtseintrag schon länger möglich – in Deutschland zum Beispiel bereits seit 2013, in Österreich seit rund sechs Jahren.

Die Nemo-Debatte

Bereits im Mai berichtete der Beobachter über die Lage in der Schweiz: Damals stiess Musiktalent Nemo nach dem ESC-Gewinn in Malmö eine Debatte an, ob ein drittes Geschlecht offiziell eingeführt werden sollte. Der Bundesrat hielt fest: Betroffene müssen sich für einen Eintrag als Mann oder Frau entscheiden, für eine Änderung sei die Schweizer Bevölkerung noch nicht bereit. 

Für nonbinäre Erwachsene wie Nemo, die sich keinem der zwei anerkannten Geschlechter zugehörig fühlen, ändert sich mit dieser neuen Regelung also nichts. Auch die Eltern dürfen nicht frei entscheiden. «Es ist, salopp gesagt, kein Wunschkonzert», sagt Experte Roland Peterhans. Die Entscheidung fällen Eltern gemeinsam mit den zuständigen Ärztinnen oder Ärzten – und es braucht ein medizinisches Zeugnis, um das Geschlecht vorerst nicht bestimmen zu müssen. «Aber natürlich: Letztendlich wird der schwierige Entscheid nur aufgeschoben.»