Leiden Männer bei einer Erkältung mehr?
Oft wird eine Männergrippe nicht ernst genommen. Zu Unrecht! Die Reaktion des Immunsystems bei Mann und Frau unterscheidet sich tatsächlich.
aktualisiert am 13. September 2022 - 10:16 Uhr
Meist erwischt es den Mann im Herbst oder im Winter. Dann pendelt er krank zwischen Bett und Sofa. Schluckt Suppe und Schmerzmittel, schnieft und stöhnt. So lange, bis auch seine Mitmenschen leiden.
Über die Männergrippe macht man – oder eben frau – sich gerne lustig. Zu Unrecht, wie die Wissenschaft zeigt. Denn männliche Patienten kämpfen bei viralen Infekten häufiger mit Komplikationen, müssen bei einer Grippe schneller ins Krankenhaus und sterben sogar eher daran als Frauen. Schuld ist das Immunsystem.
Durch die Genetik geprägt, wandelt es sich ein Leben lang unter dem Einfluss von Umwelt und Lebensstil. Wie schnell und effektiv Erreger unschädlich gemacht werden, hängt von mehreren Faktoren ab: Stress, Ernährung, Bewegung und Schlaf. Auch davon, wie viele Infektionen der Körper schon durchgestanden hat und gegen welche Krankheiten er geimpft wurde. Sogar Tages- und Jahreszeit spielen eine Rolle.
Der Einfluss des biologischen Geschlechts wurde in der Forschung lange vernachlässigt. Eigentlich erstaunlich, denn schon bei einer einfachen Erkältung zeigen sich Unterschiede zwischen Frau und Mann.
Zunächst aber zu den Gemeinsamkeiten: Das Immunsystem besteht aus unspezifischen und spezifischen Immunzellen. Die unspezifische Abwehr ist angeboren, die spezifische entwickelt sich erst im Kontakt mit Krankheitserregern. Befallen solche unseren Körper, reagieren unspezifische Zellen besonders schnell. Sie zersetzen die Eindringlinge zuverlässig und präsentieren den übrigen Zellen deren Struktur. In einem zweiten Schritt schalten sich spezifische Immunzellen ein: Sie vermehren sich so lange, bis sie den Erreger mit einer massgeschneiderten Immunantwort bekämpfen können. Da spezifische Immunzellen über ein Gedächtnis verfügen, erinnern sie sich bei einem erneuten Angriff an Krankheitserreger und können noch effizienter zuschlagen.
So weit, so gleich. Bei der weiblichen Immunantwort sind allerdings mehr Kämpfer im Spiel: «Frauen haben einen Vorteil, da sie über zwei X-Chromosomen verfügen. Auf diesen liegen besonders viele Gene, die für die Abwehr zuständig sind», sagt Jakob Nilsson, Immunologe am Universitätsspital Zürich. Die Gene des Y-Chromosoms betreffen hingegen grösstenteils die Sexualfunktion.
Die männlichen Kämpfer sind nicht nur zahlenmässig unterlegen, sondern auch langsamer: Immunzellen haben Rezeptoren, an die beim Mann Testosteron andockt. «Das Sexualhormon hat zwar eine stimulierende Wirkung auf das unspezifische Immunsystem, unterdrückt aber die Bildung von spezifischen Zellen», sagt Jakob Nilsson. Sprich: Das männliche Immunsystem erkennt Erreger zwar sofort, bekämpft sie jedoch nicht sehr effektiv. Je höher der Testosteronspiegel, desto träger wird die Abwehr. Da sich die Erreger so besser ausbreiten können, dauert eine Erkältung oder eine Grippe bei Männern oft länger.
Habe ich eine Grippe oder Erkältung?
Anders bei der Frau: Das weibliche Sexualhormon Östrogen kurbelt die Produktion der spezifischen Immunzellen an. Dadurch werden Erreger schnell und effizient bekämpft. «Das haben Frauen der Evolution zu verdanken», erklärt Jakob Nilsson. «Während einer Schwangerschaft muss das Immunsystem extrem flexibel sein, denn gleichzeitig soll es die Frau schützen, aber auch die eigentlich fremden Zellen des Babys tolerieren.»
Zudem versorgt eine Mutter ihren Fötus mit Antikörpern, die das Baby in den ersten Lebensmonaten schützen. Untersuchungen aus dem Tierreich stützen die Theorie: Bei Seepferdchen trägt das Männchen die befruchteten Eier in seiner Bauchtasche und schützt den Nachwuchs durch sein Immunsystem. Amerikanische Wissenschaftler konnten zeigen, dass sich die Abwehr eines männlichen Seepferdchens während dieser Zeit verbessert.
Da sie schneller Antikörper produzieren, sprechen Frauen auch besser auf Impfungen an. Einige Wissenschaftler fordern deshalb, zukünftige Grippeimpfungen geschlechterspezifisch zu entwickeln: Bei Frauen sollen sie weniger Entzündungen und Nebenwirkungen auslösen, bei Männern die Produktion der Antikörper unterstützen. Nötig sei das nicht, findet Nilsson: «Der Geschlechterunterschied sollte berücksichtigt, aber nicht überschätzt werden. Manche Männer haben einen hohen Testosteronspiegel und sind praktisch nie krank, weil sie wenig Stress haben und gut zu sich schauen. Umgekehrt nützt Östrogen wenig, wenn Frauen regelmässig zu wenig schlafen.» Individualisierte Impfungen seien zwar sinnvoll, das Alter eines Menschen spiele aber eine weitaus grössere Rolle. Ein älteres Immunsystem erkennt fremde Erreger schlechter und produziert weniger Antikörper. Haut und Schleimhäute werden verletzlicher, weshalb Erreger ein leichtes Spiel haben.
Auch Geschlechterunterschiede schwinden mit steigendem Alter: Männer produzieren weniger Testosteron, Frauen nach den Wechseljahren weniger Östrogen. Was bleibt, sind soziologische Unterschiede. Auch Rollenbilder und das eigene Verhalten beeinflussen den Erkältungsverlauf: Studien zufolge können Männer Körpersignale schlechter deuten als Frauen. Deshalb schonen sie sich zu spät und sind umso überraschter, wenn eine Erkältung oder Grippe zuschlägt. Zudem ernähren sich Frauen gesünder und verhalten sich weniger risikoreich.
«Wer mehr leidet, lässt sich nicht pauschal sagen», fasst Jakob Nilsson zusammen. «Frauen sind zwar generell schmerzempfindlicher, Männer müssen ihre Beschwerden dafür länger aushalten.»
Erst seit kurzem wird das Geschlecht in der Medizin stärker berücksichtigt. Das ist sinnvoll, denn Frauen und Männer reagieren unterschiedlich auf Krankheiten und Medikamente. Frauen leiden zum Beispiel öfter an Autoimmunerkrankungen. Schuld daran ist das effiziente Immunsystem: Eine heftige Reaktion kann zu Fieber und Entzündungen führen, bei einer Überreaktion greifen Immunzellen oder Antikörper das eigene Gewebe sogar an. Die leicht unterdrückende Wirkung von Testosteron kann also von Vorteil sein.