Ein dunkles Leben mit der Angst im Nacken
Jeder fünfte Schweizer kennt sie: Angst- und Panikstörungen. Viele der Betroffenen leiden schon seit Jahren oder Jahrzehnten unter den Attacken. Doch auch ihr gesamtes Umfeld ist davon betroffen.
aktualisiert am 14. Februar 2018 - 14:40 Uhr
«Wer es nicht selber erlebt hat, kann es nicht verstehen», sagt Irma Baumann (Name geändert). Die einst aktive und lebensfrohe Berufsfrau und Mutter führt heute ein eingeschränktes Leben und geht kaum ausser Haus. Es begann vor einigen Jahren mit inneren Anspannungen wegen beruflicher Überforderung. Und plötzlich waren sie da: die Panikattacken.
Den Job hat Irma Baumann inzwischen an den Nagel gehängt, doch die Ängste sind geblieben. «Es ist jeweils die Hölle, wenn das Herz rast und alles zur Unwirklichkeit wird. In solchen Momenten glaube ich, ersticken zu müssen», erzählt sie. «Aber noch viel schlimmer als die Panikattacken ist die Angst davor.»
Die Anfälle treten unverhofft auf: beim Einkaufen, auf der Strasse, im Bus oder – und das hat Irma Baumann besonders erschreckt – nachts im Bett: «Ich wachte schweissgebadet auf und erlebte eine Horrornacht.» Ihr Herz schlug wie wild, sie bekam keine Luft, bebte und zitterte. Die 42-Jährige war überzeugt, einem Herzanfall zu erliegen. Zur Todesangst kam die Furcht, verrückt zu werden – so geht es vielen Panikgeplagten.
Angstanfälle ohne ersichtlichen Grund hinterlassen Spuren. Die massiven körperlichen Symptome wie Zittern, Schwindel, Herzrasen und Kurzatmigkeit, gepaart mit Erstickungsangst, Benommenheit und einem Gefühl von Unwirklichkeit, sind befremdend und bedrohlich. Meistens ergeben die medizinischen Abklärungen keinen krankheitsbedingten Befund, und die Patienten schämen sich wegen ihrer körperlichen Verfassung und ihrer Hysterie. Wenn das Denken fortan um das Vermeiden einer neuen Panikattacke kreist, wird die Angst zum täglichen Begleiter. Und damit beginnt ein wahrer Teufelskreis.
Die Angst ist das natürliche Alarmsystem des Menschen – sie ist weder abnormal noch ungesund. Furcht schützt uns vor Gefahren und unbedachtem Verhalten. Wird durch unsere Sinne eine Bedrohung wahrgenommen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wir fliehen, oder wir stellen uns der Gefahr. In beiden Fällen stösst der Körper Adrenalin aus. Das Herz schlägt kräftiger, der Atem geht schneller, und wir geraten ins Schwitzen, weil sich der Körper auf diese Art vor Überhitzung schützt. Die Pupillen erweitern sich, damit wir besser sehen können. Alles ganz normal und eigentlich ein wunderbares Zusammenspiel des menschlichen Organismus.
Krankhafte Angstzustände hingegen schränken die Lebensqualität stark ein. Auch Herbert Meier (Name geändert) musste diese Erfahrung machen: «Mit der Zeit zogen sich viele meiner Freunde zurück, da ich bestimmte Dinge nicht mehr mitmachen konnte», sagt der 43-jährige Handwerker. Er steigt heute weder in einen Bus noch in einen Zug, geschweige denn in ein Flugzeug.
Das Reisen und der Arbeitsweg sind immer wieder ein Thema in der Selbsthilfegruppe, die Herbert Meier seit acht Jahren besucht. Das Fortbewegen ist für ihn höchstens im eigenen Auto möglich, sich von Bekannten chauffieren lassen wäre unerträglich. Im Kino prüft er alle Notausgänge, im Restaurant hält er sich immer einen Fluchtweg offen. Seine Übervorsicht geht den Mitmenschen auf die Nerven. Meier: «Man wird als komischer Kerl abgestempelt und immer einsamer.» Viele Betroffene verschweigen deshalb ihre Krankheit, verwenden ihre Energie dazu, schwierigen Situationen aus dem Weg zu gehen.
«Das Leben wird kompliziert», sagt Meier. Lieber lässt er seine Frau allein verreisen, als dass er das Risiko eingeht, einen Zug besteigen zu müssen. Doch die Panikattacke kann ihn auch in der Wohnung überfallen oder weil er befürchtet, seine Partnerin könnte ihn verlassen. «Es entsteht dann eine Leere im Kopf, und ich bin beherrscht vom Gefühl, nichts mehr im Griff zu haben», sagt er. Seine Frau Andrea (Name geändert) bestätigt: «Das Zusammenleben mit einem angstgestörten Menschen braucht Einfühlungsvermögen und Toleranz.»
Die permanente Furcht des Partners beeinflusst auch ihren Alltag. Doch Andrea Meier hat eingesehen, dass eine Therapie nur etwas bringt, wenn der Betroffene willens ist, der Angst in die Augen zu sehen. «Obwohl einem solche Menschen Leid tun, wird mit dieser Krankheit Macht ausgeübt», kritisiert eine Freundin des Ehepaars. «Dinge, vor denen sich Herbert fürchtet, werden einfach gemieden. Er müsste sich der Angst stellen, statt einfach auszuklinken.»
In der Tat sollten sich Panikgeplagte fragen, ob sie durch ihre Krankheit einen Gewinn erzielen. Es kommt immer wieder vor, dass sich die menschliche Seele in einer hektischen und stressintensiven Zeit mit enormen Belastungen durch Mobilitäts- und Vernetzungsansprüche gegen die Vergewaltigung ihrer wirklichen Bedürfnisse wehrt und auf diese Art eine «unerträgliche Lebensweise» ablehnt.
Herbert Meier spürte die ersten Anzeichen früh, wirklich zu quälen begannen ihn die Attacken erst im Alter von 30 Jahren. Damit gehört er zum Durchschnitt. Angststörungen entwickeln sich meistens zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr; Frauen sind mehr davon betroffen als Männer.
Bei Panikattacken ist auf den ersten Blick kein eindeutiger Auslöser erkennbar. Die generalisierte Angst erkennt man an ständigen Sorgen und Befürchtungen sowie an der Unfähigkeit, sich zu entspannen. Die Agoraphobie oder Platzangst ist eine unbegründete Angst vor Plätzen, Menschenmengen oder Verkehrsmitteln. Als spezifische Phobie bezeichnet man die unangemessen grosse Angst vor bestimmten Dingen wie Spinnen oder Schlangen, vor der Höhe oder dem Fliegen.
Drei Faktoren spielen bei Panikattacken eine entscheidende Rolle: genetische Veranlagung, gelerntes Verhalten, belastende Situationen. Oft treten die ersten Anfälle nach einem prägenden Erlebnis oder bei andauernder Überbelastung auf. Was immer die Ursache sein mag, die Betroffenen erlernen eine Vermeidungsstrategie: Sie gehen nicht mehr in ein Warenhaus und besteigen keine Züge mehr, weil sie dort einst eine Panikattacke erlitten. Oder sie kehren an bestimmte Orte nicht mehr zurück, weil sie noch einen Anfall in Erinnerung haben. Dies entspricht einer Konditionierung wie bei kleinen Kindern: Sind sie einmal von einem Hund angebellt worden, reagieren sie beim blossen Auftauchen eines solchen Vierbeiners nervös und denken an Flucht.
Angstvermeidung ist keine Angstbewältigung: Sich der Angst stellen, ihr auf den Grund gehen und üben, sie in kleinen Schritten zu besiegen, ist aufreibend. Doch kann Angst auch zur Entwicklung herausfordern. Denn wer sich die Angststörung eingesteht, hat den ersten Schritt zur Heilung bereits gemacht. Angstfrei zu leben bleibt aber eine Illusion: Wer lernt, der Angst ins Gesicht zu schauen, kann sie in den Griff bekommen, anstatt von ihr beherrscht zu werden.