Wenn das Herz auf die Seele schlägt
Ein Herzinfarkt wirkt sich auf die Psyche aus. Panikattacken und Depressionen sind häufig. Man muss erst lernen, seinem Herzen wieder zu vertrauen.
Veröffentlicht am 27. September 2018 - 11:14 Uhr,
aktualisiert am 27. September 2018 - 10:32 Uhr
Ein heisser Tag im August 2016, Ronny Koch ist auf dem Weg nach Zürich. Plötzlich fährt er das Auto auf einen Parkplatz und sagt zu seinem Kollegen: «Ruf die Ambulanz , ich habe einen Herzinfarkt.»
Als der Rettungswagen kommt, macht Koch noch Witze. Doch kaum ist er im Spital, setzt sein Herz aus. Einmal kurz, später gleich noch mal, für rund eine halbe Minute. «Wenn das auf der Strasse passiert wäre, sässe ich heute nicht hier», sagt der 52-Jährige. Aber im Spital konnte man ihn sofort wiederbeleben und umgehend operieren.
Bis heute weiss Ronny Koch nicht, wieso er damals gleich an einen Infarkt dachte. Aber die Eingebung hat ihm das Leben gerettet. Ein Leben, das er nach dem einschneidenden Ereignis völlig umgekrempelt hat. «Früher habe ich geraucht wie ein Bürstenbinder. Fleisch war mein Gemüse. Bewegt habe ich mich fast nicht, viel zu wenig geschlafen . Und alles, was bei der Arbeit schieflief, habe ich persönlich genommen.»
Obwohl er damit so gut wie alle Herzinfarktrisiken in einer Person vereinte, dachte er nicht im Traum daran, dass es ihn treffen könnte. «Ich habe mir doch nie solche Gedanken gemacht.»
Aber jetzt drehten sie sich plötzlich nur noch um den Infarkt und seine Folgen. Die Ärzte versicherten ihm zwar mehrfach, dass dank dem schnellen Eingreifen keine Narben auf dem Herzen bleiben würden. Auf der Seele aber waren Spuren geblieben.
Kaum aus dem Spital entlassen, wurde Ronny Koch mit Verdacht auf einen neuen Infarkt wieder eingeliefert. Nach den Untersuchungen war klar: Es war eine Panikattacke gewesen. «Die äusseren Anzeichen sind selbst für Kardiologen schwer zu unterscheiden», sagt Roland von Känel von der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik am Unispital Zürich. Er ist Experte für Psychokardiologie, ein Gebiet der Psychosomatik, das sich mit den psychischen Folgen von Herzkrankheiten befasst.
In der ambulanten Rehabilitation erfuhr Ronny Koch, dass er kein Einzelfall ist. Dort hörte er auch zum ersten Mal von den möglichen psychischen Folgen einer Herzerkrankung. Schlaf- und Angststörungen, Depressionen, Schuldgefühle, tiefe Verunsicherung und die Frage: Wie soll es jetzt weitergehen mit meinem Herzen? «Solche Gefühle sind im ersten Moment völlig normal», erklärt Fachmann Roland von Känel.
Ein Herzereignis trifft die Betroffenen meist wie ein Blitz aus heiterem Himmel, urplötzlich wird ein vermeintlich gesunder Mensch mit dem Tod konfrontiert. Das hinterlässt in jedem Spuren. Und kann wie ein Autounfall oder ein Überfall sogar eine posttraumatische Belastungsstörung auslösen.
«Im Normalfall haben wir blindes Vertrauen in unser Herz», sagt von Känel. «Doch nach einem Infarkt ist dieses Vertrauen erschüttert und muss erst wieder aufgebaut werden.» Vielen Betroffenen gelingt das ohne fachliche Unterstützung, aber längst nicht allen: 20 bis 40 Prozent der Herzpatienten entwickeln eine behandlungsbedürftige Depression, 10 bis 20 Prozent eine Angststörung.
In der Herzmedizin tendierte man lange zum Glauben, dass nach einer gelungenen Operation alles wieder gut ist. Erst vor rund 20 Jahren setzte sich die Erkenntnis durch: Herz und Psyche beeinflussen sich gegenseitig. Einige Studien legen sogar den Verdacht nahe, dass psychische Belastungen für das Herz-Kreislauf-System ebenso schädlich sind wie Rauchen oder zu hoher Blutdruck.
Depressionen nach dem Infarkt können lebensgefährlich werden, wenn sie unbehandelt bleiben. Sie machen es schwer, das Leben umzustellen – obwohl das meist dringend nötig ist. Oder man vernachlässigt das Einnehmen von Medikamenten. Zugleich lösen sie ungünstige biologische Veränderungen an den Herzgefässen aus.
Trotz alledem bleibt die psychologische Nachbetreuung der Patienten «eher dürftig und beschränkt sich auf die kardiale Rehabilitation», sagt Experte Roland von Känel. Im Idealfall erkennen Hausärzte und Kardiologen anhaltende psychische Probleme und sind mit spezialisierten Psychotherapeuten vernetzt.
«Sobald die Angst in mir hochsteigt, gehe ich an die frische Luft.»
Ronny Koch
Solange das nicht überall so ist, müssen Patienten und Angehörige wachsam bleiben. Schaffen sie es allein aus dem Teufelskreis der Depression oder der Angst? Stellt sich langsam wieder Normalität ein? Oder wird alles schlimmer? «Vor allem Männern fällt es nach wie vor schwer, über ihre Gefühle und Ängste zu sprechen und Schwächen einzugestehen – obwohl genau das angesagt wäre», sagt von Känel (siehe weiter unten «Tipps: Spätfolgen erkennen und richtig reagieren»).
Er hat in seiner Tätigkeit als Psychokardiologe Menschen getroffen, die sich monatelang nicht mehr allein aus dem Haus trauten, nicht mehr einschlafen konnten vor lauter Angst, im Schlaf zu sterben. Die jegliche körperliche Anstrengung vermieden oder bei jedem Ziehen in der Brust an einen neuen Herzanfall glaubten.
Ronny Koch kennt viele dieser Symptome aus eigener Erfahrung. Immer wieder horchte er fast panisch in sich hinein, suchte nach Anzeichen für den nächsten Infarkt. Er weigerte sich hartnäckig, wegzufahren – aus Angst, anderswo im Notfall nicht die nötige medizinische Versorgung zu bekommen.
Am schlimmsten jedoch waren seine Panikattacken, die ihn anfangs mehrmals täglich überraschten. «Irgendwann konnte ich die ersten Anzeichen aber deuten und entsprechend reagieren.» Und er hat einen Weg gefunden, die aufsteigende Panik zu unterdrücken. «Sobald die Angst in mir hochsteigt, gehe ich an die frische Luft. Bewegung hilft eigentlich immer.» Ebenso die Sicherheit, dass gesundheitlich alles in Ordnung ist. Das sagen ihm sein Blutdruckgerät und der Pulsmesser, der in die Armbanduhr integriert ist .
Heute trägt Koch vermehrt wieder eine ganz gewöhnliche Uhr. Das beweist nicht nur ihm, dass er seine Angst gut zwei Jahre nach dem Infarkt mehr oder weniger überwunden hat. Geholfen haben ihm auch ein verständnisvolles familiäres Umfeld, gute Freunde und eine Gelassenheit, die er früher nicht an den Tag legen konnte. Das Blutdruckgerät hat er seit Wochen nicht mehr gebraucht. Langsam, aber sicher ist das Vertrauen in sein Herz zurück.
Psychische Probleme sollten behandelt werden, wenn:
- die gleichen Symptome über Wochen andauern und nicht an Intensität abnehmen;
- ein Vermeidungsverhalten, etwa nicht mehr allein aus dem Haus gehen, über längere Zeit anhält und das Funktionieren im Alltag einschränkt;
- die Freude verloren geht an Dingen, die einem früher Spass gemacht haben;
- die Lebensqualität merklich abnimmt durch anhaltende Schlafprobleme, Müdigkeit oder Appetitverlust.
Das kann helfen:
- Probleme und Ängste nicht verleugnen, sondern darüber sprechen;
- beim Hausarzt oder Kardiologen Fragen stellen und nachhaken, bis alles verstanden ist;
- zu unterscheiden lernen zwischen gefährlichen und harmlosen körperlichen Anzeichen;
- Entspannungstechniken erlernen ;
- Mitgliedschaft in einer Herzgruppe, Gespräche mit anderen Betroffenen.
Weitere Informationen: www.swissheart.ch
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