Teenies legen sich für Selfies unters Messer
Ärzte warnen: Jugendliche wollen aussehen wie ihr virtuelles Ich – und lassen sich operieren.
aktualisiert am 29. August 2018 - 09:59 Uhr
Zu Schönheitschirurg Thomas Fischer kommen Leute, die unzufrieden sind. Mit dem Höcker auf ihrer Nase, mit den abstehenden Ohren. Das war schon immer so. Seit einiger Zeit hört er aber Sonderbares. So sagen Patienten: «Wenn ich mich schräg von oben rechts ansehe, gefalle ich mir überhaupt nicht.» Die Ursache liege in der Art, wie sich die Menschen heute betrachten, sagt Fischer. «Das Smartphone hat den Spiegel abgelöst.» Die Selfie-Manie führe dazu, dass man sein Gesicht aus allen möglichen und unmöglichen Perspektiven analysiere.
Beim Betrachten bleibt es nicht immer. Wenn auf dem Foto etwa ein Doppelkinn stört, lässt sich das korrigieren . Mit mühsamem Abspecken oder bequemem Retuschieren. Wer schön sein will, muss leiden – oder die richtige Software herunterladen.
Apps wie Instagram oder Snapchat bieten unzählige Filter, um Selbstporträts besser aussehen zu lassen. Augenringe nach einer durchzechten Nacht? Kein Problem für den «Pretty»-Filter. Verregnete Ferien? Das iTanning-Programm bräunt nach. Auf die Spitze treibt es die App Facetune. Mit ihr können User ihre Haut geschmeidiger aussehen lassen und Pickel virtuell beseitigen. Sogar die Augenfarbe lässt sich verändern, Wangenknochen können verschoben, Lippen vergrössert werden.
«Es schockiert mich, wie viele junge Frauen mit aufgespritzten Lippen herumlaufen.»
Thomas Fischer, Schönheitschirurg
Die digitalen Eingriffe können bei jungen Menschen psychische Probleme verursachen, warnen Forscher der Universität Boston in einem aktuellen Artikel. «Die Apps führen zu einem Realitätsverlust.» Wer Filter anwende, um auf dem Selfie besser auszusehen, erwarte diese Perfektion auch im richtigen Leben. Wenn die Realität das virtuelle Versprechen nicht einlöse, leide das Selbstbewusstsein . Für das Phänomen haben die Ärzte eine neue Diagnose: «Snapchat-Dysmorphie».
Im Extremfall legt man sich unters Messer . Im vergangenen Jahr haben in den USA 55 Prozent der Schönheitschirurgen Erfahrungen mit Patienten gemacht, die wie ihr nachbearbeitetes Selfie aussehen wollten; 2016 waren es 42 Prozent.
Eine US-Ärztin spricht auf dem Nachrichtenportal Vox von einem neuen Trend: «Immer mehr junge Patienten wünschen sich Eingriffe, um ihre Wahrnehmung Realität werden zu lassen.» Als Vorlage bringen sie nicht mehr ein Poster von Angelina Jolie in die Sprechstunde, sondern ein gefiltertes Selfie.
Für Schweizer Influencer , die von der Makellosigkeit ihrer Erscheinung leben, ist das vorderhand kein Thema. «Operationen sind der falsche Weg, um auf Bildern besser auszusehen», sagt Modebloggerin Andrea Monica Hug. Sie arbeite ab und zu mit Filtern, würde aber nie mit Facetune-Apps ihre Gesichtszüge verändern.
«Jemand hat mir mal eine kostenlose Brustvergrösserung angeboten.»
Andrea Monica Hug, Influencerin
«Tragisch finde ich, dass Schönheits-OPs heute so leicht zugänglich sind», sagt die 28-Jährige. Ihr habe man schon mal eine kostenlose Brustvergrösserung angeboten. «So etwas finde ich extrem dreist.»
Schönheitschirurg Fischer beobachtet einen Wildwuchs von Angeboten. «Es schockiert mich, wie viele junge Frauen mit aufgespritzten Lippen herumlaufen», sagt er. «Da haben wir ein Riesenproblem.» Oft würden diese Behandlungen von Kosmetikerinnen gemacht, die dazu nicht befugt sind.
In der Schweiz ist es nichtärztlichen Personen verboten, eine Substanz zu injizieren, die länger als drei Wochen im Körper bleibt. Die bei Lippenvergrösserungen verwendete Hyaluronsäure tut das aber. «Das kann extrem gefährlich werden», so Fischer. «Falls man eine Arterie trifft und diese verstopft, können ganze Gesichtsteile wegfaulen.»
Influencerin Michèle Krüsi ist nicht grundsätzlich gegen Schönheits-OPs . «Bei manchen kann ein Eingriff zu mehr Selbstvertrauen führen. Das ist doch eine schöne Sache.» Sie selber sei «im Grossen und Ganzen» mit sich zufrieden. Bei der Bildbearbeitung empfiehlt Modebloggerin Krüsi Zurückhaltung. «Mal einen Pickel zu retuschieren ist vollkommen in Ordnung», sagt die 27-Jährige. Wenn man eine Person in natura nicht mehr erkenne, sei sie aber definitiv zu weit gegangen.
Chirurg Fischer hat noch nie eine Nase nach einer Selfie-Vorlage korrigiert. Bislang sei es eher vorgekommen, dass ihm die Patienten ein Bild eines Schauspielers gezeigt haben. «Gut möglich, dass als Nächstes Selfies kommen, die mit Facetune modifiziert wurden.»
Er mache einen Eingriff aber nur, wenn eine Deformität nachvollziehbar und ein positives Resultat realistisch sei. Er macht sich aber keine Illusionen: «Es findet sich immer jemand, der es macht.»