Warum wir auf unseren Körper vertrauen sollten
Sie halten den Körper ständig gesund: unsere Selbstheilungskräfte. Damit sie gut funktionieren, brauchen sie Pflege. Meist reicht es schon, besser auf sich achtzugeben.
Veröffentlicht am 8. September 2022 - 15:56 Uhr
Gesundheit war für Hans-Georg Gadamer immer etwas Verborgenes. Der Mensch sei nur dann gesund, wenn er vergisst, dass er gesund ist, weil er sich so wohl fühlt, dass er sich mit anderen Dingen und Menschen beschäftigt, so der im Alter von 102 Jahren verstorbene deutsche Philosoph.
Damit das so bleibe, müsse man aber auch auf den Körper hören. «Die Menschen müssen wieder lernen», sagte Gadamer einst, «dass alle gesundheitlichen Störungen, Wehwehchen und selbst alle Infektionen in Wahrheit Winke sind, das Angemessene, die Balance des Gleichgewichts, wiederzugewinnen.» Störung und ihre Überwindung, das mache das Wesen des Lebens aus.
Ständige Reparaturarbeiten
Selbstheilungskräfte arbeiten im Verborgenen. Man muss sie nicht aktivieren, wie es oft suggeriert wird. «Auch haben Selbstheilungskräfte nichts mit Alternativmedizin zu tun, sondern sind ein fest im Körper installiertes und in der Natur etabliertes biologisches Prinzip», sagt Claudia Witt, Direktorin des Instituts für komplementäre und integrative Medizin am Universitätsspital Zürich. Sie leisten unentwegt hervorragende Arbeit, im Körper und an der Psyche.
Witt nennt einige Beispiele: «Osteoblasten reparieren Knochen, es gibt Reparaturmechanismen für unsere Erbsubstanz DNA, unser Gehirn kann Schmerzen ausblenden und körpereigene Opiate ausschütten, Verletzungen von Blutgefässen werden durch Blutplättchen und Fibrin abgedichtet, bis das Gewebe dann auch wieder nachwächst.» Eine wesentliche Rolle aber spiele unser Immunsystem, das Viren und Bakterien abfängt, bevor es zur Infektion kommt. «Das Immunsystem greift aber auch ein, wenn normale Zellen zu Krebszellen mutieren.»
Zudem erneuern die Selbstheilungskräfte unseren Körper im Lauf des Lebens immer wieder, reparieren nebenbei Schäden und halten den Verschleiss gering: Täglich ersetzen eine Milliarde neuer Hautzellen die alten, das Skelett erneuert sich in zehn Jahren einmal komplett, Muskeln und Organe alle drei bis vier Jahre. Und auch das Gehirn schützt sich vor seelischen Verletzungen, indem es Traumata verarbeitet.
Dauerstress macht krank
Allerdings kann man seine Selbstheilungskräfte durchaus sabotieren. Etwa mit einem ungesunden Lebensstil, einseitiger Ernährung, zu wenig Bewegung und Schlaf, dafür mit zu viel Stress, mit Alkohol, Rauchen und Übergewicht oder zu wenig sozialen Kontakten. «Eine ungesunde Lebensweise kann einen negativen Einfluss auf unser Immunsystem haben», sagt Claudia Witt.
Vor allem Dauerstress schade. Er sorge dafür, dass die Nebenniere vermehrt Cortisol ausstösst und den Körper in Alarmbereitschaft versetzt – ein nützlicher Mechanismus aus der Zeit, als der Mensch noch Jäger war. Heutzutage aber schwäche dieser latente Dauerzustand das Immunsystem, so dass es Krankheitserreger und Entzündungen im Körper leichter haben. Auch das Blut verdickt sich dadurch, was das Risiko für Thrombosen und damit einhergehende Risiken erhöht. Selbst für eine schlechte seelische Verfassung durch eine negative Lebenseinstellung, ängstliche Erwartungen, trübe Gedanken oder Trauer gilt mittlerweile als gesichert, dass diese Faktoren den Körper auf Dauer anfälliger für Krankheiten machen.
Statt auf ihre Selbstheilungskräfte zu vertrauen bringen viele ihren Körper wie eine kaputte Maschine zum Arzt, der sie reparieren soll.
Wenn die Selbstheilungskräfte nicht optimal funktionieren, machen sich gesundheitliche Störungen, Wehwehchen und Infektionen bemerkbar. «Wir kennen alle Situationen, in denen wir nach einer langen Stressphase erschöpft sind, endlich Zeit für Erholung haben, dann aber zum Beispiel eine Erkältung bekommen, weil auch unser Immunsystem durch den Dauerstress einfach erschöpft ist», sagt Witt.
Nur wenige vertrauen dann auf ihre Selbstheilungskräfte, die Fieber und Erkältung meist wieder gut in den Griff bekommen, wenn man ihnen Ruhe und Zeit gibt. Stattdessen bringen viele ihren Körper wie eine kaputte Maschine zum Arzt, der sie reparieren soll. «Dabei ist es möglich und sinnvoll, den Lebensstil so zu ändern, dass wir dem frühzeitig entgegenwirken können», sagt Witt. Denn jeder könne selbst etwas für seine Selbstheilungskräfte tun (siehe «Tipps» unten).
Dabei reicht es, den eigenen Lebensstil an wenigen Punkten nachzujustieren. «Dass Entspannung, körperliche Aktivität, guter Schlaf und eine ausgewogene Ernährung gut für die Gesundheit sind, ist wissenschaftlich belegt», sagt Witt. So reduziere beispielsweise jemand, der sich regelmässig bewegt, auch Stress und tue etwas für seine psychische Gesundheit.
Täglich lachen hilft
Auch Lachen und Freude durch soziale Kontakte tragen nachweislich zur Steigerung des Wohlbefindens und zur Genesung bei. «Das sind Kraftquellen für die Seele», sagt Witt. Wer täglich lacht, sorgt dafür, dass sein Körper Glückshormone ausschüttet, die selbst chronische Schmerzen lindern können. Einsamkeit dagegen wirke eher negativ.
Eine extreme Änderung des Lebensstils, wie es von Biohackern empfohlen wird, brauche es dazu aber nicht. Diese hat zum Ziel, dank einer gezielten Verbesserung der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit jeden Tag das Beste geben zu können. Damit entsteht dann vielleicht ein Druck zur Selbstoptimierung, der seinerseits zu chronischem Stress führen kann.
Natürlich hat Selbstheilung ihre Grenzen. «Es ist aber nie eine Frage der persönlichen Schuld, wenn keine Besserung oder Heilung eintritt», sagt Witt. «Denn biologische Faktoren wie Alter, Genetik, aber auch Umwelteinflüsse und soziale Faktoren haben einen Einfluss auf unsere Gesundheit.» Daher sei es wichtig, sensibel auf seinen Körper zu hören und zu reagieren, statt sich nur auf die Selbstheilung zu verlassen. «Bei körperlichen Anzeichen, die über leichte Infekte hinausgehen, aber auch bei ausgeprägterer psychischer Belastung sollte man das besser mit der Hausärztin besprechen», rät Claudia Witt.
Wichtig ist dann ein Arzt, der um die Selbstheilungskräfte weiss und den Patienten anregt, sie wieder mehr zu unterstützen. «Das ist auch Teil der Therapie», sagt Witt. Dass dabei Geist, Seele und Körper eng zusammenhängen, zeigt der Placeboeffekt . «Er kann überall vorkommen, und wenn man eine höhere Erwartung hat, dass etwas hilfreich ist, kann es auch sein, dass sich diese Erwartung positiv auf das Ergebnis – in diesem Fall auf die Genesung – auswirkt», so Witt. Auch Arzneien wie Schmerzmittel wirkten besser, wenn der Arzt dem Patienten die Wirkung vorher gut erklärt.
Zuhören ist wichtig
Das Gleiche gilt für die Therapie. «Selbstheilungskräfte sind hier ein grosses Thema», sagt Ergotherapeutin Monika Conus von der Praxengemeinschaft Wirbelteam in Solothurn. Ihrer Ansicht nach ist die Therapeutin auch dazu da, die Selbstheilungskräfte des Patienten zu unterstützen. «Dabei ist Zuhören wichtig.» So lassen sich Angst oder ein negatives Gedankenkarussell des Patienten um seine Erkrankung entdecken und positiv umformulieren – zum Beispiel indem man Fortschritte hervorhebt und die oft überhöhte Erwartung nach unten schraubt.
Wichtig sei, dass der Patient selbst mitmachen und die Massnahmen nachvollziehen könne. Zuspruch und Hoffnung des Therapeuten gelten als wichtige Elemente der Heilung: Der Körper setzt dabei Morphine frei, also körpereigene Schmerzmittel.
- Chronischen Stress reduzieren
Zum Beispiel durch Entspannungs-, Achtsamkeits- und Atemübungen, Yoga, Meditation oder soziale Tätigkeiten. Wenn man sich akut gestresst fühlt: «Während zweier Minuten drei Takte einatmen, sechs Takte ausatmen, das beruhigt den Puls wieder», sagt Claudia Witt. - Sich regelmässig entspannen
Etwa mit progressiver Muskelrelaxation oder geleiteter Imagination. Witt: «Am besten regelmässig jeden Tag 15 Minuten Entspannungsübungen einbauen.» Passende Übungen gibt es hier: www.usz.ch/mbm-wellbeing - Sport moderater Intensität treiben
Beispielsweise Wandern, Joggen, Schwimmen, Velofahren, Fitness. Witt: «Zweieinhalb Stunden pro Woche reichen, idealerweise auf mehrere Tage verteilt.» - Sich ausgewogen ernähren
Zum Beispiel auf eine ballaststoffreiche Ernährung mit viel pflanzenbasierten Nahrungsmitteln achten. Witt: «Gut sind vor allem wenig verarbeitete Lebensmittel; sie enthalten keine versteckten Zusatzstoffe.» - Auf gesunden Schlaf achten
Hier sind gute Schlafhygiene, regelmässige Bettzeiten und sieben bis neun Stunden Schlaf wichtig.
Fachliche Beratung: Claudia Witt, Institut für komplementäre und integrative Medizin am Universitätsspital Zürich
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