«Ich schäme mich in Grund und Boden»
Die soziale Phobie brach bei Tanja Kuster* aus, als sie noch zur Schule ging. Seither wurden die Symptome immer belastender: Nervosität, Zittern und eine immense Angst, sich vor anderen zu blamieren.
Veröffentlicht am 9. August 2018 - 11:29 Uhr,
aktualisiert am 9. August 2018 - 10:05 Uhr
Tanja Kuster* war 11 Jahre alt, als sie zum ersten Mal so stark zitterte, dass sie ihre Notizen kaum noch halten konnte. Der Text in ihren Händen wehte wie eine Fahne. Die Kinder starrten, die Lehrerin runzelte ihre Stirn, Tanja las. Zuerst zu schnell und dann zu langsam. Da stimmte etwas nicht, das merkte sie. Grinsen zwischen den Reihen, dann Flüstern. Tanja zitterte stärker, fühlte sich schwindlig, war nicht mehr sie selbst. Als es endlich vorbei war, waren Schüler und Lehrerin erleichtert. Tanja nicht, die schämte sich.
Inzwischen weiss die 25-Jährige, dass sie an einer sozialen Phobie leidet. Betroffene verspüren eine anhaltende und unangemessen starke Angst vor und während Situationen, in denen sie im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Sie wollen sich auf keinen Fall peinlich verhalten oder blamieren. Im Vergleich zu Unwohlsein, Aufregung oder normalen Ängsten schränkt eine Sozialphobie das Leben extrem ein. Zu den Symptomen gehören Zittern, Erröten, Übelkeit, Herzklopfen- oder rasen, Kurzatmigkeit, Schwindel oder Schwitzen.
Obwohl Tanja Kuster den Fachbegriff für ihr Verhalten kennt, kann sie sich ihre Reaktionen nicht immer erklären. Denn eigentlich hat sie sich damals auf den Vortrag gefreut, freut sich noch heute auf Situationen, in denen die Angst am stärksten ist: das Essen mit Freunden, ein Fest mit der Familie. Gerne würde sie auch endlich Autofahren lernen, doch wie soll das unter den Blicken des Fahrlehrers funktionieren? Das Zittern überfällt die Studentin immer dann, wenn sie ihre Hände vor anderen benutzen muss. Dass es sich meist um alltägliche Momente handelt, macht es oft noch schlimmer: «Reagiert man in einer Stresssituation nervös, können es alle verstehen», sagt sie. «Nicht aber, wenn man beim Essen plötzlich kein Besteck mehr halten kann.» Gesprächspartner reagieren irritiert und sprechen sie «im schlimmsten Fall» sogar auf ihr Verhalten an. «Dann schäme ich mich in Grund und Boden!»
Ihr Körper schüttet Stresshormone aus, ihr Herz rast, die Muskeln sind angespannt, sie beginnt zu schwitzen und atmet schneller – typische Anzeichen von Angst.
An sich ist Angst nichts Schlimmes; sie warnt uns vor Gefahren und stellt den Körper auf Alarmbereitschaft. Sie kann allerdings auch krankhaft werden: Wenn sie sogar in nicht-bedrohlichen Situationen übermässig und unkontrollierbar wird und wenn sie den Alltag durch Erwartungsängste (Angst vor der Angst) und körperliche Symptome spürbar einschränkt. Die Forschung konnte zeigen, dass es nicht eine einzige und direkte Ursache für soziale Phobien gibt. Man kennt jedoch zahlreiche Risikofaktoren, welche die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung erhöhen: «Neben einer möglichen genetischen Veranlagung für eine ausgeprägtere Ängstlichkeit spielen vor allem schmerzhafte soziale Erfahrungen eine wichtige Rolle», erklärt Charles Benoy, leitender Psychologe am Zentrum für Psychosomatik und Psychotherapie der Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel. «So zum Beispiel sozial traumatisierende Erfahrungen: ausgeschlossen, ausgelacht und gemobbt zu werden. Oder auch andere einschneidende Lebensereignisse wie sexueller Missbrauch, die Scheidung der Eltern oder sonstige zwischenmenschliche Konflikte können die soziale Ängstlichkeit verstärken.»
Es konnte zudem ein Zusammenhang zwischen dem elterlichen Erziehungsstil und der Entwicklungswahrscheinlichkeit einer sozialen Phobie nachgewiesen werden – so scheinen ein überbehüteter oder besonders strenger elterlicher Umgang laut neuen Studien mit der Entwicklung einer Sozialphobie zusammenzuhängen. «Ich hatte tolle Eltern, habe aber nie wirklich gelernt, mit starken Gefühlen umzugehen», bestätigt Tanja Kuster. Ihre Mutter habe sie immer vor möglichen Gefahren geschützt, vielleicht auch zu stark behütet.
Wichtig ist, dass Betroffene möglichst früh etwas gegen eine Phobie tun. Je früher diese erkannt wird, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit eines günstigen Verlaufs. Bestenfalls können chronische Vermeidungsstrategien und ein Rückzug aus dem sozialen Leben dann verhindert werden. In den Universitären Psychiatrischen Kliniken behandelt Charles Benoy beispielsweise Patienten, bei denen sich die Phobie stark chronifiziert hat – sie haben ihre Wohnung zum Teil seit über 20 Jahren fast nicht mehr verlassen, leben isoliert und bestellen sogar ihr Essen online. «Für die Betroffenen ist es in einem solchen Fall bereits ein riesiger Schritt und eine grosse Überwindung, sich überhaupt in Therapie zu begeben», so Benoy.
Da ihre Angst vor und während Präsentationen immer stärker wurde, machte Tanja Kuster als 13-Jährige eine Therapie. In dieser erlernte sie Techniken, um einen besseren Umgang mit Stress- und Angstsymptomen zu finden. Trotzdem zeigten sich keine Verbesserungen. Um das Zittern zu verstecken, lernte Tanja Vorträge auswendig – «nur keine Aufmerksamkeit auf die Hände lenken!» In den folgenden Jahren besuchte sie einen Kinesiologen und probierte es sogar mit Hypnose , doch die Angst blieb. Auch die Psychotherapeutin im Gymi konnte nicht helfen. «Trotzdem war es schön, mich jemandem anvertrauen zu können», erinnert sich die Betroffene. Noch besser ging es ihr, als sie im Alter von 18 Jahren bei der Online-Recherche auf ein Forum für Menschen mit Sozialphobie stiess. Diese kämpften mit denselben Problemen und bestärkten sie, eine Gruppentherapie zu besuchen.
«Ich wünschte, ich wäre in all den Therapien früher auf Selbsthilfegruppen hingewiesen worden», sagt sie heute. In solchen herrscht keine Hierarchie – jeder kann die Ängste der anderen nachvollziehen, niemand stellt unangenehme Fragen. Teil der Treffen waren Konfrontationsübungen. Jedes Gruppenmitglied musste vor anderen sprechen oder präsentieren. Überraschenderweise erlebte die 25-Jährige Erfolgsmomente: Der Stress war zwar nicht weg, aber das Zittern wurde schwächer.
«Konfrontationsübungen wirken bewiesenermassen», bestätigt Charles Benoy. Den Betroffenen müsse aber bewusst sein, dass Konfrontation nie Scheitern bedeute – egal, wie die Situation ausgehe. «Sie sollten sich selbst nicht zu viel Druck machen und auch nicht gleich mit den schlimmsten Situationen beginnen. Oft ist es hilfreich, solche Situationen mit dem Therapeuten vorzubereiten oder sogar von ihm begleitet zu werden», so Benoy. Die Diagnose hat Tanja Kuster ihren Freunden lange verschwiegen. «Ich habe früher schlechte Erfahrungen mit meiner Offenheit gemacht», erzählt sie. «Jeder wollte mir erklären, dass ich doch bestimmt eine Depression habe.» Nur ihr Freund habe sie ernst genommen. Dieser ermuntert sie auch heute noch, immer mehr Freunde und Bekannte einzuweihen.
In einigen Situationen ist die Sozialphobie immer belastender geworden: Manchmal fürchtet sich Tanja Kuster bereits Wochen vor einem Ereignis vor der eigenen Reaktion darauf. Irgendwann hat sie angefangen, sich mit kleinen Mengen Alkohol zu beruhigen. Der ist keine Lösung, das weiss sie. Trotzdem hilft er.
In anderen Situationen ergeht es ihr aber auch besser. Die Studentin hat gelernt, mit ihren Ängsten besser umzugehen: Gefühle zu kommunizieren, Vertraute zu finden, sich selbst den Druck zu nehmen. «Meist reicht mir das Wissen, theoretisch einen Rückzieher machen zu können. Wenns irgendwie geht, stelle ich mich der Konfrontation trotzdem.» Danach ist sie peinlich berührt, aber auch stolz.
Sie will sozialen Situationen nicht aus dem Weg gehen und sieht sie als Training für später. Wenn die Uni vorbei ist, muss sie sich einen Job suchen. Darauf freut sie sich – und hat gleichzeitig Angst. Was, wenn sie nichts findet? Die angehende Psychologin würde am liebsten mit Menschen arbeiten, die auch an sozialen Ängsten leiden. Dass dieser Berufswunsch für jemanden mit ihrem Hintergrund nicht einfach ist, ist ihr bewusst. Trotzdem ist sie überzeugt davon, dass sie den Job gut machen würde. Nach dem Studium möchte sie eine Ausbildung als «Peer» machen: Diese selbst oder ehemalig Betroffenen werden beispielsweise in Psychiatrien eingesetzt, um auf Augenhöhe Gespräche mit psychisch erkrankten Menschen zu führen. «Dadurch, dass ich mich in Betroffene hineinversetzen kann, möchte ich ihnen eine bessere Stütze sein. Und ihnen zeigen, dass das Leben trotz Ängsten schön sein kann.»
- Angst- und Panikhilfe Schweiz: www.aphs.ch, Hotline 0848 801 109
- Schweizerische Gesellschaft für Angststörungen: www.swissanxiety.ch
- Schweizerische Gesellschaft für Verhaltens- und Kognitive Therapie: www.sgvt-sstcc.ch
- Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich: www.zadz.ch
Welche Arten von Ängsten haben Kleinkinder? Was können Eltern tun, um diese Ängste zu lindern? Beobachter-Mitglieder erhalten die Antworten dazu im Merkblatt «Ängste im Kindesalter».