Mit der ersten Herztransplantation vor 40 Jahren fand ein Mythos sein Ende: der Glaube, das Herz sei der Sitz der Seele. Heute ist es wieder das, was es immer war: ein Muskel und eine Pumpe. Doch trotz weltweit etwa 70'000 transplantierten Herzen lebt dieser Mythos weiter: Menschen, in denen ein fremdes Herz pocht, haben oft das Gefühl, ein Teil der Persönlichkeit des Spenders habe sich auf sie übertragen. «Organphantasien» nennen Fachleute dieses Phänomen.

«Als ich einige Wochen nach der Operation mit meinen Eltern nach Österreich fuhr», erzählt die 22-jährige herztransplantierte Stephanie Otz, «fühlte ich mich dort sofort heimisch, und auch der Dialekt kam mir vertraut vor.» Die Schweizerin hat dieses Gefühl seither jedes Mal, wenn sie in Österreich ankommt (siehe Artikel zum Thema «Augenzeugin Stephanie Otz: ‹Ein Herz ist mehr als ein Muskel›»). «Es ist für mich wie ein Nachhausekommen.» Wie viele Transplantierte solche Phantasien entwickeln, lässt sich nicht genau sagen, doch gehen Fachleute von 10 bis 20 Prozent aus. «Es ist etwas, worüber Transplantierte nicht gern sprechen», sagt Brigitta Bunzel, Professorin für klinische Psychologie am Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Sie beschäftigt sich seit 20 Jahren mit diesem Phänomen.

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Für den Arzt Paul Mohacsi, Leiter Herzinsuffizienz und Herztransplantation am Berner Inselspital, sind das Verarbeitungsprozesse, die im Rahmen einer extremen Stresssituation auftreten: «Die Patienten stehen am Rand des Todes, sind völlig von einem grossen System im Spital abhängig und müssen zahlreiche Medikamente nehmen.» Nach der Transplantation herrsche zuerst grosse Erleichterung, später kämen oft Schuldgefühle hinzu. Viele Empfänger fühlen sich - wenn auch zu Unrecht - am Tod des Spenders mit verantwortlich und stellen sich vor, wer diese Person wohl gewesen sein könnte. Solche Vorstellungen entwickeln nicht nur Empfänger von Herzen, sondern auch von anderen Organen wie Lungen, Nieren, Lebern.

Katrin Vogt erhielt vor drei Jahren eine Leber transplantiert. Die Bernerin war vor der Operation dem Tod nahe. «Als ich aus der Narkose aufwachte, spürte ich bereits wieder eine neue Kraft. Ich stellte mir vor, dass der Spender ein junger, feuriger Italiener sein müsse, der gerne snowboardet.» Sie hatte auch einen heissen Appetit auf Spaghetti und Red Bull. Heute sagt sie: «Für mich war das wie eine Art Verliebtsein in diesen Menschen, den ich nie kannte.» Dass sie von dieser Person mehr als etwas rein Physisches, ein Organ, übernommen hätte, schliesst sie aber völlig aus.

Das Herz eines Kriminellen?
Wer eine Organphantasie entwickelt, stellt sich meist auch Eigenschaften des Spenders vor. Er oder sie soll gesund und jung gewesen sein. «Die positiven Eigenschaften, die man phantasiert und auf sich selber überträgt, können helfen, dass das Spenderorgan besonders gut in den Verband der Organe integriert wird», sagt Brigitta Bunzel. Was einleuchtet, denn der gegenteilige Gedanke ist wenig erfreulich: «Man stelle sich mal vor, man hätte das Herz eines Kriminellen bekommen.» Umfragen der Medizinischen Universitätsklinik Hannover ergaben, dass sich ein Drittel der Empfänger unwohl fühlen würde beim Gedanken, das Herz eines Kriminellen oder Selbstmörders erhalten zu haben.

Die neuere Forschung zeigt allerdings, dass das Herz mehr ist als ein gewöhnliches Organ, denn die Pumpe mit Muskel produziert Hormone. Es scheint auch, dass Herz und Gehirn miteinander kommunizieren. Manche Forscher meinen deshalb, dass Gefühle, Ängste oder Träume nicht nur im Gehirn, sondern auch im Herzen vorhanden sind; von dort aus würden sie dann codemässig in Zellen gespeichert und weitergegeben. Dass es ein Zellgedächtnis gibt, ist für viele Wissenschaftler klar - ob Organspender damit im fremden Körper weiterleben, ist dennoch höchst zweifelhaft. Erstaunlich sind indes die Unterschiede zwischen Empfängern von natürlichen und solchen von Kunstherzen. «Weltweit leben 700 Menschen mit einem Kunstherzen. Bei ihnen sind keine Veränderungen der Gewohnheiten beschrieben worden», sagt Paul Mohacsi.

Ob jemand Organphantasien entwickelt, hängt stark mit seiner Persönlichkeit zusammen; ein eher rationaler Typ ist weniger anfällig als spirituell fühlende beziehungsweise sehr emotionale Menschen. «Aus psychologischer Sicht projizieren die Empfänger Vorstellungen und eigene Bilder auf den Spender, wobei dieser oft als starker, gütiger und hilfreicher Freund erscheint», erklärt der Psychoanalytiker Lutz Götzmann vom Universitätsspital Zürich. Diese Phantasien hätten oft etwas mit der eigenen Biographie, manchmal auch mit der konkreten Lebenssituation zu tun. So verlangte ein Patient - zur Zeit des Krieges in Jugoslawien -, dass er unter keinen Umständen das Herz eines Serben erhalte. Er besass in Kroatien ein Boot und hätte sich, wie er sagte, mit einem serbischen Herzen nie mehr in dieses Land getraut. Eine Gemeinsamkeit vieler männlicher Empfänger sei, dass sie wissen wollen, ob der Spender eine Frau war - viele haben zum Beispiel die Vorstellung, dass mit dem Organ einer Spenderin weibliche Verhaltensweisen übertragen werden könnten.

Wenige kennen die Familie des Spenders
In der Schweiz bleiben die Spender anonym - im Gegensatz beispielsweise zu einigen Staaten in den USA. Dort finden sogar Treffen zwischen der Familie der Spenderin und des Herzempfängers statt, was psychisch hilfreich sein kann - oder auch belastend. «Da stellt sich die Familie der Spenderin vielleicht einen netten jungen Mann vor, der ihr Schwiegersohn sein könnte, und es kommt ein ungepflegter Taugenichts daher», schildert Bunzel ein vielleicht krasses Beispiel.

Einer der wenigen hierzulande, der die Mutter seines Spenders kennt, ist Werner Loosli. Vor 21 Jahren erhielt er als einer der ersten Transplantierten das Herz eines 17-Jährigen, der bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war. Dessen Mutter wollte unbedingt den Empfänger kennenlernen. «Ich bin heute froh», sagt Loosli, «dass ich die Mutter kenne. Wir haben eine sehr gute Beziehung und feiern auch gemeinsam Geburtstag.» Für Stephanie Otz ist ihr neues Herz «zu einem guten Freund geworden», dem sie auch zuhört. Das ist nicht unüblich. «Viele Herztransplantierte geben ihrem Herzen einen Namen und tragen ihm aus Dankbarkeit besonders Sorge», sagt die Psychologin Bunzel.

800 fremde Herzen

In der Schweiz wurden bis heute etwa 800 Herzen transplantiert. Zwischen 10 und 25 Jahre kann das Herz eines Spenders im neuen Körper funktionieren. Die medizinischen Probleme einer Transplantation haben die Ärzte weitgehend im Griff. Die psychologischen Begleiterscheinungen sind in ihrer Tragweite noch nicht vollständig bekannt. Dass sie gravierend sein können, zeigt sich daran, dass jeder fünfte Herztransplantierte fünf Jahre nach der Operation an Depressionen leidet.