Die Untersuchungen waren mit einem Kopfnicken beendet, die Resultate in Ordnung. Die Frage des Arztes klang harmlos. «Was haben Sie heute noch vor?» – «Nichts. Ich habe frei.» – «Gut. Dann melde ich Sie gleich im Notfall an.»

Der Arzt griff zum Telefon, mein Mund stand offen. «Ah, Sie sind schon voll? Gut. Ich versuchs weiter.»

Schade, dachte ich. Das Universitätsspital ist gleich ums Eck. Ich hätte zu Fuss gehen können. Aber Notfall? Bloss weil ich am Morgen etwas Blut gespuckt hatte? Und weil mir die Brust vom Husten in der Nacht wehtat?

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Schneller, als ich denken konnte, drückte mir der Arzt ein Blatt in die Hand mit Zeit und Ort. Triemli-Spital Zürich. Andere Seite der Stadt. «Und wie soll ich dort hin?» – «Mit dem Tram? Alles Gute und auf Wiedersehen.»

Notfall? Da hört man Tadüüü und Tadooo. Jedenfalls sieht man sich nicht beim Zürcher Hauptbahnhof von Tram Nummer 3 in Tram Nummer 14 umsteigen. Als ich den Hügel zum Triemli hinaufging, hörte ich mich am Handy sagen: «Ich war noch nie im Notfall.»

Das stimmte nicht. Vor 20 Jahren hackte mir die Kante eines Metalltischs ins Schienbein. Meine Hausärztin sagte: «Ich kann das nicht nähen, der Schnitt ist zu tief. Ich melde Sie im Unispital an.»

Als die Wunde genäht war, ging ich auf Krücken zum Ausgang. Ein Pfleger drückte mir etwas in die Hand. «Was ist das?» – «Blutverdünner. Einmal am Tag spritzen. Ist ganz einfach. Das haben Sie ja gerade erlebt. Tut nicht weh!» – «Was habe ich erlebt? Ich habe keine Spritze bekommen.» – «Ah, dann ging das vergessen. Kann vorkommen. Heben Sie doch Ihr Hemd hoch!»

Er packte eine Falte Bauch und haute eine Spritze hinein. «Au!» – «Sehen Sie, tut gar nicht weh.» – «Ihnen sicher nicht. Das war ja auch nicht Ihr Bauch!»

Nun also Triemli. Das Stadtspital. 500 Betten. Sechsmal so viele Angestellte wie Betten. Jüngst renoviert für fast 300 Millionen Franken. Den Eingang zum Notfall verpasste ich. Man schickte mich an einen anderen Ort.

Ein junger Mann sass in einer Art Portier-Loge. Ich hatte sie glatt übersehen. Der Mann las den Zettel des Arztes und sagte: «Gehen Sie in den Raum dort gegenüber, man wird Sie abholen.»

So sass ich allein auf einem Stuhl und schrieb eine Textnachricht. «Unser Abendessen wird nicht stattfinden. Ich bin im Notfall.» – «wooo bist du? Mach keine schlechten Witze. Ich hab Hunger!»

Über mir eine Überwachungskamera. Die lief und lief, bis eine junge Frau in den Raum trat und sagte: «Was tun Sie denn hier?» – «Ich warte.» – «Wie lange schon?» – «20, 30 Minuten?» Sie öffnete die Tür zum Flur und rief dem Mann in der Portier-Loge zu: «Warum hast du mir nicht gesagt, dass da jemand wartet?» – «Sorry, ich habs vergessen.»

Ich liege im Bauch des Spitals. Hinterm Vorhang, einem himmelblauen. Beim Fenster. Irgendwo im Untergeschoss. Aussicht habe ich keine. Die Wand zieht sich so weit hoch, dass nur ein Spalt Himmel übrig bleibt. Und der wird von einem Sonnensegel der Länge nach halbiert. Es regnet leicht, der Himmel ist grau.

Jeans und Hemd und Socken sind in einem weissen Plastiksack. Darauf in Schwarz: «EFFEKTEN EFFETTI EFFETS». Ich trage eine weisse Schlutte mit Müsterchen und kornblauer Bordüre. Die Schlutte ist offen. Wenn ich aufstehe, sieht man den Hintern. Seit ich hier bin, sind drei Stunden vergangen. Ich ziehe mir die Unterhose wieder an.

Drei Männer und zwei Frauen liegen oder sitzen hinter ihrem Vorhang. «Es könnte etwas unangenehm werden», höre ich einen Pfleger sagen. «Ich stecke Ihnen jetzt einen Finger in den Anus.» – «Hm.» – «Tut das weh?» – «Nein.» – «Und jetzt?» – «Nein.» – «Und jetzt?» – «Ja!» – «Oh, wussten Sie, dass Sie am Anus einen Infekt haben?»

Warum bin ich nicht schwerhörig?

«Schatz, ich glaube, es ist besser, ich bleibe über Nacht hier.» – «Ja, Schatz.» – «Ich gehe nicht ins Hotel, Schatz.» – «Du bleibst bei mir?» – «Ja, Schatz. Ich denke, das beruhigt dich.» – «Danke, Schatz.» – «Die Frau hat gesagt, der Herzschrittmacher sei okay. Aber sicher ist sicher, nicht wahr, Schatz? Die Batterie ist noch zu 75 Prozent voll.» – «Es wird alles gut, Schatz.»

Ich brauche einen Drink.

«Wir haben zu wenig Urin.» – «Was?» – «WIR HABEN ZU WENIG URIN!» – «Aha.» – «Machen Sie mal die Beine etwas breit!» – «Was?» – «MACHEN SIE MAL DIE BEINE ETWAS AUSEINANDER! ICH LEGE EINEN KATHETER!» – «Was? Tut das weh?» – «Ich bin schon drin.» – «Was?» – «ICH BIN SCHON DRIN!»

Oje. Ich brauche noch einen Drink.

«Welches Nasenloch ist das bessere?» – «Ich weiss nicht.» – «Dann nehm ich mal das linke.» – «Aua!» – «Sie sind ja ganz rot! Das ist bloss ein Wattestäbchen!» – «Ja schon, aber es ist in meinem Hirn!» – «So. Jetzt ist es wieder draussen.» – «Danke, das habe ich auch bemerkt.» – «Jetzt noch das andere Nasenloch.» – «Ich bin doch schon getestet!» – «Wir machen bei allen den Covid-Test nochmals.»

Der letzte war ich.

Der Pfleger stösst mit seiner Hüfte an meine Füsse. «Pardon, ich bin mehr lang wie breit», sage ich. «Und ich bin mehr breit wie lang!», sagt er. «Die Kleber sind wieder weg.» – «Ja, die fallen immer ab, ich habe drei Haare auf der Brust.» – «Die von 3M hielten besser, aber wir müssen sparen. Die hier sind aus Italien.» – «Würden Sie mir ein Glas Wasser bringen?» Nach der dritten Bitte bekomme ich ein Plastikbecherchen Wasser.

Es ist 20.30 Uhr, und ich habe Hunger. Bis jetzt weiss ich nicht genau, warum ich auf dem Notfall gelandet bin.

«Soll ich Uber Eats bestellen?», textet meine Nichte. «Eine Freundin von mir arbeitet im Triemli. Auf der Geburtenabteilung …» – «Dahin werde ich wohl nicht verlegt.» – «Kaum. Brauchst du sonst etwas?» – «Das Ladegerät für mein Handy.» Und: «Meine arme Krankenkasse muss sicher einen Tag blechen.»

Das war naiv. Bezahlt habe ich das selber.

***

In den Stunden auf dem Schragen legten sich Fragen nieder wie ein Leichentuch. Was geschieht hier? Was heisst das alles? Wie war das bei meinen Grosseltern? Meinen Eltern? Hofften sie auf ein Wunder? Hätten sie der unsinnigsten Therapie zugestimmt? Hätten sie ihre Seele dem Herrgott empfohlen und ihre Endlichkeit klaglos angenommen?

Auch jetzt, während ich diese Zeilen schreibe und im Osten Europas erneut Krieg herrscht wie im Balkan vor 30 Jahren. Die Fragen in Krisen und Kriegen an sich selber bleiben stets dieselben. Was habe ich aus meinem Leben gemacht? War ich ein guter Mensch? Was muss ich ändern? Wohin geht die Reise?

Das Schlimmste war der Verlust der Kontrolle über mein Leben, der Verlust meiner Autonomie. Um ein Glas Wasser bitten zu müssen. Mit dem Weihnachtsbaum voller Infusionsschläuche zum WC rollen zu müssen. Das Nichtwissen, was an diesem Ort geschieht mit meinem Körper, mit meiner Psyche. Die plötzliche Abhängigkeit von Fremden, die sich an meinem Körper zu schaffen machen.

Ich schrieb meiner Nichte: «Ich will das nicht. Wir müssen reden.»

***

Ich erinnere mich an meine erste Stunde im Notfall. Ich liege auf dem Schragen. Drei Frauen stürzen sich auf mich. «Frauenpower!», ruft eine. Die erste legt eine Infusion mit Natriumchlorid, die zweite verkabelt mich mit einer Maschine, die meine Herzfrequenz misst. Die dritte sticht mir in die Sehne der rechten Hand. Aua. Für das Kontrastmittel zum Untersuch in der Computertomografie.

«Rauchen Sie?» – «Ja.» – «Viel?» – «Seit Covid etwas mehr.» – «Trinken Sie?» – «Ja.» – «Viel?» – «Seit Covid etwas mehr.»

***

«Ich komme mir vor wie ein Nadelkissen», schreibe ich einer Freundin. Der Pfleger schiebt mich in einen anderen Raum.

«Der Tomograf sieht aus wie eine Waschmaschine und tönt auch so», sagt der Mann, der mich empfängt. Meinen schlechten Witz wollte ich ihm nicht ersparen. «Dann hoffe ich doch, ich komme sauber heraus.»

Seine Hüfte stösst an meine Füsse. «Pardon, ich bin mehr lang wie breit!» – «Wie gross und schwer sind Sie denn?» – «Etwa 184 und 70, 72 Kilo.» – «Ich bin 180 und habe 100 Kilo», sagt er. «Dann sind Sie gut im Fleisch.» – «Ich war Handballer.»

Auf der Waschmaschine sehe ich zum ersten Mal, weshalb ich im Notfall gelandet bin. In giftroten Digitalziffern steht: Lungenembolie. Dieser Verdacht bestätigte sich nicht. Auch nicht der Verdacht auf Lungenkrebs oder auf einen Herzinfarkt.

***

Um 22 Uhr knurrt mein Magen so stark, dass ich meine Sachen packe. Ich gehe. Auf meine eigene Verantwortung. Die Ärztin sagt, man habe ein Aneurysma festgestellt. Eine kleine Erweiterung der Schlagader beim Herz. Aber sie sei nicht schlimm. Ich solle weniger rauchen und trinken. Ich nahm ein Taxi.

Die Rechnung ging in die Tausende. Die Hände taten mir noch lange weh. Zu Hause gab es Kartoffeln, Eier und die SMS einer Freundin: «Aber stell dir vor, der Tökti hätte dich nach Hause geschickt und es wäre eine Embolie gewesen, Lungenkrebs oder ein Herzinfarkt.»

***

Vermutlich waren Husten und Schnupfen schuld. Blut aus der Nase lief mir in den Rachen. Vom Husten tat mir der Brustkorb weh. In den Nächten nach dem Notfall klebten nass geschwitzte kalte T-Shirts an mir.

Ein paar Tage darauf erteilte ich meiner Nichte die Generalvollmacht, füllte die Patientenverfügung aus und den Vorsorgeauftrag ebenso.

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René Ammann, Redaktor
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