Wie gut und wie lange schützt die Corona-Impfung?
Vollständig geimpft, und alles ist gut? Leider nein. Was die Impfdurchbrüche bei Geimpften zu bedeuten haben – und was das für eine dritte Impfung heisst.
Veröffentlicht am 10. August 2021 - 16:43 Uhr
Anfangs galten die Sars-CoV-2-Durchbruchsinfektionen als Einzelfälle. Mittlerweile zeigt sich aber deutlich: Menschen, die gegen Corona geimpft sind, können trotzdem erkranken.
Virginie Masserey, Leiterin Sektion Infektionskontrolle des Bundesamts für Gesundheit (BAG), erklärte Mitte Juni noch, die Schutzwirkung betrage wohl zwölf Monate. Aber: «Dass die Immunität ein Jahr anhält, war eher Wunschdenken und nie durch Studiendaten gedeckt», sagt Christian Münz. Er ist Professor für virale Immunbiologie an der Uni Zürich und in der Task-Force Vorsitzender der Expertengruppe zum Thema Impfstoffe. «Die Kommunikation des BAG war ein bisschen unglücklich.»
Bereits Ende Juni wies Münz mit den Kollegen Daniel Speiser von der Uni Lausanne, Urs Karrer vom Kantonsspital Winterthur, Federica Sallusto und Manfred Kopf, beide von der ETH Zürich, auf das Ansteckungsrisiko für Geimpfte hin. «Bei Personen über 70 bis 75 Jahren könnte der Schutz vor einer leichten Infektion nur sieben bis zehn Monate anhalten», heisst es in der Stellungnahme der Task-Force.
Mehr Infektionen in Israel
Nun zeigt sich immer deutlicher: Der Impfschutz nimmt tatsächlich mit der Zeit ab. Zwar ergab eine Studie aus England noch Mitte Juli, dass das Vakzin von Biontech/Pfizer gegen die vorherrschende Delta-Variante zu 89 Prozent schützt. Allerdings stammten die Daten aus dem Mai, waren also schon zwei Monate alt.
Aktuellere Daten gibt es aus Israel. Dort wurde die Effektivität im Juni mit 64 Prozent angegeben, zuletzt kursierten sogar lediglich 39 Prozent für den Juli. Das bedeutet: Geimpfte waren 64 beziehungsweise 39 Prozent besser vor einer Ansteckung mit der Delta-Variante geschützt als Ungeimpfte.
«Ich denke, dass die höhere Frequenz der Reinfektion in Israel auf den längeren zeitlichen Abstand zur letzten Impfung zurückzuführen ist», sagt Münz. «Allerdings haben die Infizierten vor allem milde Symptome.»
Welche Rolle spielen Antikörper und T-Zellen?
Man konnte bisher zwar nicht zuverlässig ermitteln, wie sich an den Antikörpern ablesen lässt, wie gut der Impfschutz funktioniert. Deshalb sind auch Aussagen darüber schwierig, bis zu welchem Punkt Geimpfte und Genesene noch geschützt sind. Dass es auf die Menge Antikörper ankommt, deutet sich aber schon länger an.
Warum? Die körpereigenen Moleküle, die sich nach der Impfung oder einer Infektion bilden, richten sich gegen das Spike-Protein auf der Oberfläche des Virus. Wenn sie sich daran binden, können sie verhindern, dass Viren neue Zellen infizieren.
Der zweite Arm des Immunsystems, die Immunantwort auf Zellebene, kann das nicht. Die sogenannten zytotoxischen T-Zellen können nur Zellen abtöten, die infiziert sind, und damit die Produktion neuer Viren bremsen. Deshalb glauben viele Forschende: Die T-Killerzellen, die nach der Impfung gebildet werden, können also nicht die Infektion verhindern, wohl aber schwere Krankheitsverläufe.
Allerdings lässt sich diese zelluläre Immunantwort im grossen Massstab kaum messen. «Das ist in der Routine unmöglich», sagt Leif Erik Sander, Professor für Impfstoff-Forschung am Berliner Universitätsklinikum Charité. Einfacher ist es, auf die Konzentration von Antikörpern im Blut zu achten. Darauf deuten bisherige Messergebnisse hin, so etwa aus der Zürcher Coronavirus-Kohortenstudie von Corona Immunitas.
«Wir sehen dort Genesene, die zwar T-Zell-Antworten ausbilden und keine Spike-spezifischen Antikörper entwickeln, aber trotzdem das Virus eliminiert haben», sagt Christian Münz. Aber sie machten weniger als 10 Prozent aus. Daher sei es sicherer, wenn man die Zahl der Antikörper messe, um Aussagen machen zu können, wie gut der Schutz noch sei.
«Die Antikörper-Antworten nach der Impfung sind zwei- bis viermal so hoch wie nach einer Infektion.»
Christian Münz, Professor für virale Immunbiologie, Zürich
Nach der Impfung passiert im Körper im Prinzip das Gleiche wie nach einer Infektion mit den seit Jahren zirkulierenden Corona-Erkältungsviren. Auch da nimmt die Immunität mit der Zeit ab, sodass man sich alle ein bis zwei Jahre neu infizieren kann. «Man bekommt eine Erkältung und ist danach wieder eine Weile geschützt», sagt Münz. «Das Gleiche erwarte ich auch für Sars-CoV-2.» Doch die Gegenwart ist nicht so harmlos – vor allem bei Menschen, die weder geimpft noch genesen sind. Insbesondere nicht geimpfte Ältere sind stark gefährdet, wenn die Infektionszahlen ansteigen.
Doch was bedeutet das für die Geimpften? Zunächst sind sie viel besser geschützt als ungeimpfte Personen, die die Krankheit durchgemacht haben. «Die Antikörper-Antworten nach der Impfung sind zwei- bis viermal so hoch wie nach einer Infektion», sagt Münz. «Weil wir davon ausgehen müssen, dass sich die Konzentration der Antikörper in 100 Tagen halbiert, sind Geimpfte länger geschützt.»
Aufgrund von Studien sind Münz und Kollegen der Ansicht, dass sich einer von zwei Geimpften erneut anstecken kann, wenn sie im Blut weniger als 20 Prozent der Antikörper haben, die bei einer Infektion gebildet werden. Bei Personen unter 75 Jahren besteht während 16 Monaten ein 50-prozentiger Schutz vor Reinfektion und während drei Jahren ein 80-prozentiger Schutz gegen einen schweren Verlauf. «Bei älteren Personen schätzen wir die Dauer kürzer ein, auf 7 bis 10 Monate (leichter Verlauf) und 15 bis 24 Monate (schwerer Verlauf).»
Gegen Delta braucht es mehr
Allerdings beziehen sich diese Schätzungen nicht auf die Delta-Variante, die mittlerweile in der Schweiz nahezu 100 Prozent der Fälle ausmacht. Um vor ihr geschützt zu sein, braucht es rund fünfmal so viele Antikörper. «Mit der Delta-Variante halte ich in Hochbetagten eine Reinfektion nach sechs Monaten und in Jüngeren nach neun Monaten für möglich», sagt Münz. «Daher empfiehlt es sich, eine dritte Impfung für Risikogruppen ins Auge zu fassen.»
Auch Charité-Forscher Sander sieht das so: «Wir können nicht warten mit der dritten Impfung, bis wir sehr viele Durchbrüche bei den vulnerablen Gruppen haben – dort laufen mehr Erkrankungen auf mehr schwere Fälle hinaus.» Denn ältere Menschen, sowie Personen mit einem schwachen Immunsystem, reagieren schon zu Beginn mit einer schwächeren Antikörper-Antwort auf die Impfung.
«Wenn bei diesen Menschen die Antikörper-Spiegel weiter abfallen, sind auch schwerere Verläufe wieder möglich», sagt Münz. «Gefährdete Gruppen wurden ja sehr früh geimpft. Wer dagegen im Juli, im Juni oder schon im Mai die erste Dosis bekommen hat und dann die zweite einen Monat später, kann vermutlich relativ beruhigt in den Winter gehen.»
In Israel sollen bereits über 60-Jährige die dritte Impfung bekommen, in Deutschland soll es damit ab September losgehen. Der Bund hat sich Anfang August dagegen ausgesprochen, genauso der Präsident der Kommission für Impffragen, Christoph Berger. Ihr Argument: Es gebe zu wenig Evidenz. Für eine dritte Impfung müsste laut Swissmedic zudem die Zulassung angepasst werden. Ein entsprechendes Gesuch sei aber noch nicht eingegangen. Experten haben allerdings keine Sicherheitsbedenken. «Gerade bei den Älteren ist die mRNA-Impfung sehr gut verträglich», sagt Leif Erik Sander. Laut der aktuellen Impfempfehlung des BAG können sich Immunsupprimierte bereits jetzt ein drittes Mal impfen lassen.
«Die Impfung bleibt eine relevante Bremse für die Pandemie.»
Leif-Erik Sander, Professor für Impfstoff-Forschung, Charité Berlin
Was aber bedeuten die Impfdurchbrüche für die Gesellschaft? Daten aus Israel zufolge hat sich die Situation wegen der jetzt dominierenden Delta-Variante verändert. Geimpfte, die sich angesteckt haben, haben gleich viele Viruspartikel im Rachen wie Ungeimpfte. «Wir müssen uns davon verabschieden, dass vollständig Geimpfte kein Virus übertragen können», sagt Leif Erik Sander. «Immerhin sinkt die Viruslast bei Geimpften schneller, sodass diese nicht so lange ansteckend sein dürften.» Eine aktuelle Studie des Imperial College in London unter 100'000 PCR-getesteten Briten zeigte, dass Ungeimpfte sich dreimal so häufig ansteckten wie doppelt Geimpfte – und zwar in einer Zeit, in der dort die Delta-Variante dominierte.
«Die Impfung bleibt eine relevante Bremse für die Pandemie», sagt Leif Erik Sander. Doch können wir uns bei den Öffnungen weiter auf sie verlassen? «Das Covid-Zertifikat könnte für Veranstaltungen, bei denen sich nur Geimpfte und Genesene treffen, trotz Delta-Variante ein Jahr für Geimpfte und sechs Monate für Genesene Gültigkeit behalten», sagt Münz. «Sollten negativ Getestete ohne Immunität zugelassen bleiben, wären diese allerdings gefährdet, sich anzustecken und eventuell auch einen schweren Krankheitsverlauf zu entwickeln.»
Für Geimpfte könnten Ansteckungen von Vorteil sein. «Solange die Immunisierung noch nicht zu lange her ist, ist die Reinfektion gut», sagt Christian Münz. «Sie verläuft in der Regel sehr mild und ist ein Boost für die Abwehr.»
Aus dieser Sicht heraus sind die Schutzmassnahmen für Geimpfte sogar schädlich. Aber: «Wir können noch nicht ganz darauf verzichten, weil erst 50 Prozent vollständig geimpft sind. Eine Überlastung des Gesundheitssystems kann noch nicht ausgeschlossen werden», sagt Münz. «Aber die Zirkulation des Virus langfristig unterbinden zu wollen, funktioniert kaum. Es hilft uns auch nicht.»
Vielleicht motiviert dies jene, die sich noch nicht für die Impfung entschieden haben: Wer jetzt seine Impfserie beginnt, trägt dazu bei, dass die Einschränkungen im Alltag wegfallen – und dürfte in der nächsten Welle besonders gut geschützt sein.
Jetzt folgen, um über neue Artikel zum Thema per E-Mail informiert zu werden
Das Neuste aus unserem Heft und hilfreiche Ratgeber-Artikel für den Alltag – die wichtigsten Beobachter-Inhalte aus Print und Digital.
Jeden Mittwoch und Sonntag in Ihrer Mailbox.