«Ich fühle mich so ausgelaugt»
Weniger Sonnenlicht im Herbst führt dazu, dass wir uns schlaff und antriebslos fühlen. Zudem ermüdet uns die Pandemie. Zeit, sich etwas Gutes zu tun.
Veröffentlicht am 6. November 2020 - 17:42 Uhr
Leserfrage: «Ich fühle mich so ausgelaugt. Was kann ich tun?»
Wie Ihnen geht es im Moment vielen. Sie fühlen sich unausgeschlafen, obwohl Sie früh zu Bett gingen. Sonst kommen Sie immer gut in die Gänge, auch wenn Sie schlecht geschlafen haben.
Doch nun ist es anders. Es harzt den ganzen Morgen, kurz nach Mittag hat Ihr Energieniveau den Zenit erreicht, dann kämpfen Sie sich durch den Rest des Tages. Sie können sich kaum konzentrieren, sind gereizt, reagieren empfindlich, fühlen sich genervt oder nicht wertgeschätzt.
Im Sommer waren sie eher sportlich unterwegs, fühlten sich fit und gut – doch nun scheinen sich die Muskeln zu verflüssigen. Seit Wochen erleben Sie Sport nur noch am TV, oft verbunden mit Nüssli und Alkohol. Die Waage und auch den Spiegel meiden Sie.
Am meisten frustriert Sie, dass die Übersetzung von Wille zu Handlung nicht zu funktionieren scheint. Ihr Wille kann noch so stark sein, beim kleinsten Windhauch liegt er flach.
Die Ursache von alledem kann natürlich Verschiedenes sein. Sie beschreiben, dass eine Reise in den warmen Süden wegen Corona kurzfristig abgesagt wurde – das hat Sie sehr enttäuscht. Es war nämlich die letzten Jahre im Herbst immer so, dass sich Ihr Tank langsam leerte, aber dann konnten Sie in den Herbstferien Sonne und Kraft tanken.
All das deutet auf eine saisonale Depression hin. Unser Körper reagiert auf die rasche Abnahme des Tageslichts, und bei manchen löst das eine depressive Verstimmung aus. Hormone wie Melatonin und Botenstoffe wie Serotonin sind an den Wechsel zwischen Tag und Nacht gebunden und reagieren auf den kürzeren Tag, aber auch auf das schwächere Sonnenlicht. Im Sommer sind wir starkem Licht mit 100'000 Lux ausgesetzt, doch das reduziert sich im Herbst auf bescheidene 3000 bis 6000 Lux. Der Effekt der Wolkendecke wird oft unterschätzt.
Städte wie Genf oder Seattle haben weltweit gesehen erstaunlich hohe Raten von saisonaler Depression, obwohl sie gar nicht so weit nördlich liegen. Und an den Norden kann man sich auch gewöhnen. Alaskas Natives wie die Inupiaq in Nordwestalaska kennen keine saisonal bedingten Stimmungsschwierigkeiten – sie leben seit über 3000 Jahren da. Die Athabasken hingegen wanderten erst vor 700 Jahren vom heutigen Arizona nach Zentralalaska – ihnen geht es unter Umständen wie Ihnen.
Was kann ich Ihnen nun raten? Verbringen Sie möglichst viel Zeit draussen , auch wenn es bewölkt ist. 3000 Lux und frische Luft schlagen die Pause drinnen allemal. Drei halbstündige Spaziergänge tun Ihnen gut. Ideal wäre um 10, um 13 und um 15.30 Uhr. Falls Ihnen so gar nicht danach ist: Überreden Sie sich zumindest zu einem fünfminütigen Spaziergang.
«Wir alle können mit akutem Stress umgehen; es ist der lang andauernde Stress, der uns zu schaffen macht.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Die grösste Willenskraft braucht das in der halben Stunde, bevor Sie losgehen. Da überlegen Sie hin und her, ob Sie wirklich bei diesem Wetter nach draussen sollen. Da hilft es oft, sich sagen zu können, dass ja fünf Minuten reichen würden. Wenn Sie erst mal losgelaufen sind: Entscheiden Sie sich dann doch für die gewohnte, längere Route. Ideal ist ein Spaziergang im Wald oder in sonstiger freier Natur.
Laut einigen Studien schlägt die Coronakrise diesen Herbst bei einem Teil der Menschen wieder stärker aufs Gemüt, und sie kann psychische Probleme verstärken. Deshalb veranstaltet das Bundesamt für Gesundheit BAG am 10. Dezember einen Aktionstag zur Stärkung der psychischen Gesundheit unter dem Motto «Darüber reden. Hilfe finden». Dem BAG geht es darum, die Menschen für das Thema zu sensibilisieren und sie auch zu ermuntern, Hilfsangebote zu nutzen. Aus Sicht des Bundes ist es verständlich, dass in der aktuellen Situation Sorgen und Ängste auftauchen. Es sei wichtig, darüber zu sprechen und sich einer nahestehenden Person anzuvertrauen oder das Hilfsangebot einer Organisation zu nutzen – und nicht zu warten, bis es «einfach so» wieder besser gehe.
Dazu macht das BAG auf die Angebote von verschiedenen Institutionen aufmerksam, die sich am Aktionstag beteiligen: die Dargebotene Hand, Pro Juventute, Pro Senectute, Pro Mente Sana, Caritas und das Schweizerische Rote Kreuz.
Links zum Aktionstag und zur Kampagne der Deutschschweizer Kantone und Pro Mente Sana:
Falls das nicht reicht, kann sich die Anschaffung eines Lichttherapiegeräts lohnen. Damit nehmen Sie idealerweise frühmorgens vor sieben Uhr 30 Minuten lang eine Lichtdusche mit 10'000 Lux . Bei einer ärztlich bestätigten saisonalen Depression übernimmt die Krankenkasse die Kosten – wenn ein einwöchiger Versuch zeigt, dass Sie auf die Therapie ansprechen. Nebenwirkungen sind eher selten und ähneln meist einer Koffeinempfindlichkeit mit Nervosität und schlechtem Einschlafen.
Falls sich Ihre Antriebslosigkeit zum ersten Mal zeigt oder andere Dimensionen annimmt, ist es wichtig, dass Ihre Hausärztin Sie untersucht. Vitamin-D-Mangel , eine Schilddrüsenunterfunktion oder auch ein Schlafapnoe-Syndrom zeigen ähnliche Beschwerden.
In diesem Herbst kommt für viele von uns etwas dazu – die Pandemiemüdigkeit . Wir alle können recht gut mit akutem Stress umgehen; es ist der lang andauernde Stress, der uns zu schaffen macht. Im Frühling waren wir alle damit beschäftigt, uns an neue Regeln und Gesetzmässigkeiten zu gewöhnen, mit der insgeheimen Hoffnung, dass wir in der Schweiz schon im Sommer wieder eine Art Normalität haben und das Ganze hinter uns lassen können.
In den letzten sechs Wochen wurde uns allen langsam bewusst, dass dem nicht so ist. Wir tun gut daran, uns damit zu arrangieren und zu überlegen, wie wir auch in der aktuellen Situation, die wohl eine Weile dauern wird, möglichst viele Aktivitäten im Repertoire haben, die uns guttun .
2 Kommentare
Gerade in Krisen, Katastrophen, Pandemie, zeigt sich, ob MENSCH das richtige Umfeld (Familie,Freunde, Kollegen) hat, sich ausgewählt /aufgebaut hat, welche MENSCH den notwendigen "Halt" geben.
Weder die digitale, noch fiktive Welt, sind in "Krisen" effektiv hilfreich für das Seelenwohl von "Mensch".
Vielleicht ist es auch die Handhabung des eigenen Lebens, des Lebensinhaltes vieler Menschen, welche ermüdet, frustriert, nervt, krank macht...?? Die COVID-19-Pandemie, verschafft der Menschheit ZEIT, um über das eigene Leben, den Lebensinhalt nachzudenken....