Weshalb es so wichtig ist, einen Plan zu haben
Wer im Leben erfolgreich sein will, muss aus Fehlern lernen können und braucht einen Plan, sagt Erziehungswissenschaftler Jean-Louis Berger.
Veröffentlicht am 8. Oktober 2020 - 16:02 Uhr
Beobachter: Herr Berger, wie backt man ein perfektes Sauerteigbrot?
Jean-Louis Berger: Natürlich braucht es Grundwissen: Woraus besteht Brot, weshalb geht der Teig im Ofen auf? Das ist Chemie. Dann müssen Sie die Zutaten kennen, das Rezept verstehen. Es steht aber nicht alles in den Büchern. Um hinter das Geheimnis eines perfekten Brotes zu kommen, müssen Sie ganz viel üben. Selbst dann ist aber etwas nicht geklärt: Was ist ein perfektes Brot? Eines, mit dem Sie Ihre Frau begeistern? Oder eines, mit dem Sie die Bäckermeisterschaften gewinnen?
Sagen Sie es mir!
Es gibt gewisse Standards. Backen Sie ein in jeder Beziehung fürchterliches Brot, werden alle von einem Misserfolg sprechen. Ziehen Sie beim ersten Versuch ein fades Brot aus dem Backofen, das dafür prima aussieht, ist das schon ein Erfolg. Wenn Sie mit dem Resultat zufrieden sind, haben Sie Ihr persönliches Ziel erreicht. Sie haben erfolgreich ein Brot gebacken. Streben Sie indes Perfektion an, fangen Sie eben nochmals von vorne an.
«Learning by doing», wie es so schön heisst.
Mit jedem Versuch werden Sie besser, genau. Das macht Sie zufrieden und spornt Sie an, weiterzumachen. Es ist klar: Je mehr Ziele Sie erreichen, umso motivierter sind Sie. Allerdings sollten Sie sich nie zu hohe Ziele stecken; das wäre entmutigend.
Wir kennen jede Menge solcher Weisheiten. «Übung macht den Meister» oder die Liedzeile «You can get it if you really want». Ist es tatsächlich so einfach?
Albert Einstein war kein guter Schüler. Trotzdem hat er die Relativitätstheorie entwickelt. Deshalb ja: Jeder kann es schaffen! Fleiss allein genügt aber nicht. Um den Preis zu gewinnen, müssen Sie lernen. Ich mag das Zitat von Samuel Beckett: «Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.» Wenn Sie das nächste Level erreichen wollen, werden Sie zunächst scheitern. Das ist normal. Sie müssen aus Ihren Niederlagen lernen: Was kann ich beim nächsten Mal anders machen? So geht Metakognition. Wenn Sie aus Fehlern nicht lernen können, erzielen Sie keinen Fortschritt.
Niederlagen sind frustrierend. Ein Kind, das beim Monopoly verliert, räumt wütend das Spielbrett ab. Ist Metakognition erlernbar?
Ja, und man sollte damit lieber früh beginnen. Wirft der Vater das verkohlte Brot durch die Küche, wird sich das Kind bei einem Rückschlag ähnlich verhalten. Metakognition bedeutet: Sie müssen wissen, wer Sie sind. Wo Sie Schwierigkeiten und Defizite haben. Und Sie brauchen einen guten Plan, bevor Sie beginnen, komplexe Probleme zu lösen. Diese Dinge kann man lernen. Leider geschieht das noch zu selten an unseren Schulen.
Weshalb ist es so wichtig, einen Plan zu haben?
Es ist erwiesen, dass Studenten, die während des Semesters regelmässig lernen, bessere Resultate erzielen bei den Prüfungen als jene, die erst am Abend vor dem Examen damit beginnen. Viele Studierende haben aber keinen Plan. Sie wissen auch nicht, wie man einen erstellt, geschweige denn befolgt. Bloss einen Zettel an die Kühlschranktür zu heften, ist wertlos.
Der Erfinder Thomas Edison sagte, 99 Prozent seien Schweiss, 1 Prozent sei Talent. Was ist wichtiger: Durchhaltewillen oder Können?
Beides braucht es. Der IQ ist bloss ein Faktor, der über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Bei weitem nicht der wichtigste! Natürlich hilft es, einen überdurchschnittlichen IQ zu haben, um seine Ziele zu erreichen. Aber es benötigt auch Entschlossenheit. Durchhaltewillen, wenn Schwierigkeiten auftauchen. Metakognition spielt auch hier eine Rolle: Sie müssen fähig sein, sich zu kontrollieren. Können Sie das, steht Ihnen alles offen.
«Extrovertierte sind erfolgreicher. Man betrachtet sie als kompetenter und traut ihnen mehr zu.»
Jean-Louis Berger, Erziehungswissenschaftler
Die Bestsellerlisten sind voll mit Büchern, die Hilfe in allen Lebenslagen versprechen. Wie nützlich sind diese Ratgeber?
Ich halte sie für eine grosse Illusion. Niemand ändert seine Haltung oder optimiert seine Taktik beim Lösen von Problemen, indem er auf dem Sofa ein paar Bücher liest. Sie können höchstens als Motivationsspritze dienen. Am Ende muss jeder selber den Effort leisten.
Was ist erfolgversprechender?
Umgeben Sie sich mit Menschen, die ähnliche Ziele verfolgen. Und dann packen Sie es gemeinsam an. Sich austauschen, sich gegenseitig inspirieren – das führt zum Erfolg.
Roger Federer scheint alles leichtzufallen, Stan Wawrinka hingegen ist ein Arbeitstier. Weshalb hat Federer mehr Fans?
Vielleicht, weil Federer die Rolle des «Good Guy» einnimmt? Wenn er spielt, sieht es nicht nach Arbeit aus. Und ist es nicht das, was sich die meisten insgeheim wünschen: erfolgreich zu sein, ohne viel dafür tun zu müssen? Talent allein ist aber bestimmt nicht der Grund, weshalb Federer mit fast vierzig immer noch auf dem Platz steht und Erfolge feiert. Er hat unglaublich viel Durchhaltevermögen. Es schaut vielleicht einfach aus, ist es aber nicht.
In einer Studie heisst es, man müsse ein rücksichtsloser Narzisst
sein, um Karriere zu machen.
Das ist natürlich eine Vereinfachung. Aus der Luft gegriffen scheint der Befund aber nicht. Wer am lautesten ist, wird gehört. Extrovertierte Menschen haben erfolgreichere Karrieren, man betrachtet sie als kompetenter und traut ihnen mehr zu. Wir wissen auch, dass brave Schülerinnen und Schüler bevorzugt werden. Und dass gut aussehende bessere Noten bekommen. Das ist natürlich sehr unfair und völlig falsch. Vorurteile existieren aber auch im Klassenzimmer.
Mir wurde eingetrichtert, man lerne fürs Leben, nicht für die Schule. Wird der Unterricht diesem Prinzip gerecht?
Es stimmt: Man soll nicht lernen, um der Lehrperson zu gefallen. In der Unterstufe steht es um diesen Grundsatz besser. Dort gehen die Lehrpersonen eher auf die individuellen Bedürfnisse und Interessen ihrer Schüler ein. Später, in der Oberstufe, halten sich viele stur an den Lehrplan. Das mag jetzt ein bisschen harsch klingen, aber es ist die Wahrheit. Kindern muss das Gefühl vermittelt werden, eine gewisse Autonomie ausüben zu können. Es ist langweilig, bloss Dinge zu tun, die einem andere auftragen. In der Schule ist das die meiste Zeit der Fall: Du tust, was dir befohlen wird. Schülerinnen brauchen eine Wahl: Was interessiert mich im Fach Geschichte? Ist es Napoleon, soll ich mich vertieft mit diesem Thema beschäftigen dürfen.
Wir können lernen, ein Brot zu backen. Wir können die Geschichte Napoleons lernen. Können wir auch lernen, Emotionen zu haben, jemanden zu lieben?
Man kann höchstens lernen, Emotionen vorzutäuschen. Sich so zu verhalten, als würde man jemanden mögen. Was man aber lernen kann, ist, seine Emotionen zu kontrollieren. Ein Beispiel: Wenn Sie Angst vor Mathematik haben, können Sie lernen, dieses Gefühl zu kontrollieren. Das hilft Ihnen, ruhiger zu sein. Und sich zu überlegen, woher die Angst kommt, die Sie im Denken limitiert. Man kann auch lernen, Langeweile zu überwinden. Dafür muss man zuerst herausfinden, was einen interessiert. Und sich dann die Frage stellen: Wieso soll ich das lernen? Oft sagt einem das der Lehrer ja nicht.
Es geht also darum, dem Lernen einen Sinn zu geben.
Genau. Wenn Sie es schaffen, Informatik als etwas Nützliches zu betrachten, weil Sie später vielleicht ein Tech-Start-up gründen wollen, wird Ihnen das Lernen einfacher fallen. Je mehr Sie erreichen, je kompetenter Sie sich fühlen in einem Gebiet, umso mehr werden Sie es mögen. Sie sehen einen Sinn darin – und das hilft Ihnen beim Erreichen Ihrer Karriereziele.
In der Schule musste ich fünfzigmal die erste Strophe von Franz Schuberts «Die Forelle» aufschreiben. Ich kann die Zeilen heute noch summen. Ergibt Auswendiglernen Sinn?
In der Vergangenheit wurde fast ausschliesslich auswendig gelernt. Ich halte das nicht für die beste Methode. Wer keinen Sinn darin sieht, sämtliche Alpenpässe der Schweiz auswendig zu lernen, wird dieses Wissen sehr schnell wieder verlieren. Interessant ist aber in diesem Zusammenhang: Je mehr Texte der Beatles Sie kennen, umso einfacher fällt es Ihnen, weitere Beatles-Songs zu lernen. Das Hirn leistet da Erstaunliches. Plötzlich verstehen Sie das Prinzip der Beatles! Wenn das Ihr Ziel war, hat sich das Auswendiglernen gelohnt.
Heute hat man Google Maps für die Alpenpässe. Wenn ich auf der Wanderung wissen möchte, wie ein Berggipfel heisst, zücke ich das Smartphone. Ist das nicht schade?
Es ist eine Realität, dass unser Wissen heute viel grösser ist. Oder zumindest der Zugang zu diesem Wissen. Wir können alles im Internet nachschlagen und alles ein bisschen lernen. Vielleicht wäre es ein guter Kompromiss, jene Dinge zu lernen, die einen wirklich interessieren. Wenn Sie gern wandern, lernen Sie die Namen der Gipfel, die Sie erklimmen! Aber wenn Anatomie Sie überhaupt nicht interessiert, verlassen Sie sich auf Ihr Smartphone.
Mit dem Smartphone teilen wir auch unsere Erlebnisse und sammeln Likes. Erfolg wird so messbar. Aber ist das auch gesund?
Leute, die glauben, hinter einem einfachen Bild eine grosse Geschichte zu erkennen, sitzen einem grossen Irrtum auf. Im schlimmsten Fall macht es sie sogar eifersüchtig. Auf einem Foto, das auf Instagram gepostet wurde, sieht man nicht, ob die Person, die darauf vor dem Ferrari posiert, auch wirklich glücklich ist. Likes und positive Kommentare zu sammeln, ist auf Dauer nicht befriedigend.
Zurück zu Ihrem Forschungsgebiet, der Metakognition. Während meiner ganzen Schulzeit habe ich den Begriff nie gehört.
Obwohl das Konzept seit Jahrzehnten bekannt ist! In der Lernforschung ist Metakognition eine grosse Sache. Im Klassenzimmer aber leider immer noch nicht. Der Transfer dieses Wissens in die Praxis funktioniert schlecht. Das ist ein grosses Problem. Metakognition sollte zum Schulstoff gehören. Schüler müssen lernen, wie man lernt.
Jean-Louis Berger, 42, forschte und unterrichtete zehn Jahre am Eidgenössischen Hochschulinstitut für Berufsbildung in Lausanne und Zollikofen BE. Im Sommer 2020 wurde der Vater dreier Kinder als Professor für Erziehungswissenschaften an die Universität Freiburg berufen.