Wie sinnvoll sind Bestrafungen für Kinder?
Frage: «In unserer Primarschule haben die Lehrer ein Belohnungs- und Bestrafungssystem eingeführt. Es wurde angeregt, dass wir dieses System zu Hause übernehmen.»
Veröffentlicht am 30. August 2016 - 10:08 Uhr
Antwort von Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin:
Der deutsche Comedian Rüdiger Hoffmann würde sagen: «Das kann man so machen, muss man aber nicht…» Kindliches Verhalten über Anreize oder Bestrafung zu kontrollieren ist eine manipulative Erziehungsspielart mit Tradition. Kurzfristig kann sie durchaus wirkungsvoll sein, aber sie ist nicht nachhaltig in Bezug auf Entwicklungsprozesse. Die erschöpfte Mutter von zwei Kleinkindern, die sagt: Zimmer aufräumen, danach gibt es 40 Minuten «Pingu», erkauft sich eine existenziell notwendige Verschnaufpause. Das ist pädagogisch nicht wertvoll, aber total legitim. Das Ziel, ein wenig Ruhe, um durchzuhalten, ist erreicht. Der Zweck heiligt hier die Mittel.
Darum sollte sich der verantwortliche Erwachsene zu Beginn immer die Frage stellen: Was will ich? Und warum? Wenn ich in einer bestimmten Situation Ordnung und Anpassung erreichen will, dann wähle ich Lob und Tadel. In der Schule ist das noch effizienter, weil dort alle mitbekommen, ob das Kind Lob kassiert oder sich blamiert. Wer still ist, darf mit seinem Magnetli auf der Wandtafel unter der Sonne bleiben, wer aufsteht, lärmt, unruhig ist, rückt unter die Wolke. Alle sehen, wo das Kind im Klassenverband steht: im Schatten oder im Licht.
Viele pädagogische Institutionen wenden noch immer das System mit Belohnung und Bestrafung an. Das funktioniert gut, wenn das Kind sein Verhalten den Vorgaben anpassen soll. Doch wenn man genauer hinschaut, funktioniert es vor allem für die anpassungsfähigen Kinder, die ihre Impulse kontrollieren können, die ruhig, zurückhaltend oder ängstlich sind. Diese Kinder haben ihr Magnetli während der gesamten Schulzeit in der Sonne und sind stolz darauf. Sie nehmen vermutlich keinen Schaden.
Was ist aber mit den andern? Den Wilden, Temperamentvollen, Hyperaktiven oder Verträumten? Denen, die aus einem belasteten Umfeld kommen und wenig Sicherheit und Unterstützung haben? Diese Kinder können in so einem System oft nicht mithalten und werden vorgeführt. Sie erleben dieses Setting als beschämenden Pranger. Jede Woche startet der Magnet in der Sonne und landet nach wenigen Lektionen (Mäppli vergessen, laut gerufen, nicht zugehört) unweigerlich im Regen. So reiht sich Misserfolg an Misserfolg. Darunter leidet der Selbstwert, was den Lernerfolg beeinträchtigt. Ein Teufelskreis.
Das Ziel unserer Arbeit mit Kindern ist ja, zu ermöglichen, dass das Kind «erkennt, was die Welt im Innersten zusammenhält», wie Goethe es formuliert hat. Hierzu braucht es andere Impulse.
Natürlich verträgt die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern auch Anteile, die auf Gehorsam zielen. Sie sollten aber nicht überwiegen. Sonst beginnt das Kind die Welt zu reduzieren auf die Frage: Was muss ich machen, damit ich etwas bekomme? Oder: Ich räume nur auf, wenn es eine Belohnung gibt. Es entwickelt kein tieferes Verständnis für das Zusammenleben in Familie, Schule und Gesellschaft.
«Bei wilderen Kindern reiht sich Misserfolg an Misserfolg. Darunter leidet der Lernerfolg. Ein Teufelskreis.»
Christine Harzheim, Psychologin FSP
Bestrafungen haben einen ähnlichen Effekt. Der Dreijährige, der seine Schwester schlägt, muss als Konsequenz für 15 Minuten in sein Zimmer. Damit soll er lernen, dass er nicht schlagen darf. Doch dann passiert etwas ganz anderes: Er haut die Schwester und verschwindet dann selbständig für 15 Minuten im Zimmer. Er hat das mechanistische Prinzip der Eltern übernommen. Wir, die wir mit Kindern leben und für ihre Entwicklung verantwortlich sind, müssen uns überlegen, wie wir sie in unsere Werte einführen. Wie wir Konventionen und Normen vermitteln. Unser Erfahrungsvorsprung verpflichtet uns, die Umwelt der Kinder und unsere Beziehungen zu ihnen so zu gestalten, dass sie lernen können, worauf es im Miteinander ankommt.
Dazu helfen folgende Leitlinien:
- Übernehmen Sie klar die Führung. Berücksichtigen Sie dabei den Entwicklungsstand des Kindes.
- Seien Sie Vorbild. Leben Sie vor, was Ihnen wichtig ist.
- Stehen Sie für Ihre Werte ein.
- Setzen Sie sich in einer persönlichen
- Sprache mit dem Kind auseinander.
- Führen Sie den Dialog so, dass niemandes Integrität verletzt wird.