Darf man andere auf ihre Probleme hinweisen?
Wenn sich eine Freundin plötzlich stark verändert, wird eine vage Vermutung beim Umfeld schnell zur festen Überzeugung: Sie ist psychisch krank. Wie geht man damit um?
aktualisiert am 10. April 2019 - 10:01 Uhr
Leserfrage: «Eine Freundin von mir ist seit einiger Zeit so seltsam. Ich fürchte, sie ist psychisch krank. Wie sage ich es ihr?»
Es kann beunruhigend sein, wenn sich ein vertrauter Mensch plötzlich verändert und uns fremd wird. Vor allem wenn wir keinen nachvollziehbaren Grund ausmachen können – etwa ein traumatisches Erlebnis oder eine Krankheit. Entsteht hier ein Burn-out? Wird da jemand manisch-depressiv? Hinzu kommt, dass psychische Erkrankungen immer noch tabuisiert sind und gesellschaftlich weniger akzeptiert werden als etwa ein Beinbruch.
Zunächst einmal muss eingeschätzt werden, wie ernst die Situation wirklich ist und ob es Handlungsbedarf gibt.
Oft ist der Eindruck, dass sich eine Person verändert hat, eher vage. Man ist irgendwie irritiert, zum Beispiel über ein ungewöhnliches Verhalten (Rückzug, aggressives Auftreten), eine Wesensveränderung oder nicht nachvollziehbare Entscheidungen (Jobkündigung, Schönheitsoperationen).
Nach solchen Irritationen beobachtet man die Person oft verstärkt. Man sucht weitere Hinweise, recherchiert im Internet. Es entstehen erste Befürchtungen, die Unbefangenheit im Kontakt mit der Person geht verloren. Stattdessen werden im Bekanntenkreis Eindrücke ausgetauscht und interpretiert.
Ein Verdacht erhärtet sich, und man gerät in eine Art Problemtrance: Die Diagnose scheint klar, und ohne es zu merken, hat man sich meilenweit von der Person entfernt, um die es geht.
Zu diesem Zeitpunkt kommt nun die Frage auf: «Wie kann ich ihr oder ihm bloss sagen, was ich weiss oder vermute?»
Nicht zu empfehlen ist:
- Sich ein fertiges Bild machen und dann mit der Tür ins Haus fallen. Aussagen wie «Wir denken, du bist manisch-depressiv, wir haben dir schon mal eine Adresse rausgesucht …» werden als verletzend und übergriffig empfunden. Das aktiviert Schutz- und Abwehrmechanismen und gefährdet die Beziehung.
- Das Problem «durch die Blume» ansprechen. Versuche der Kontaktaufnahme wie «Wie geht es dir? Übrigens, du, ich habe da kürzlich einen Artikel gelesen, sehr interessant, hast du schon mal von Borderline-Persönlichkeiten gehört, scheint weiter verbreitet zu sein, als bisher angenommen …» bringen nichts. Das Gegenüber weiss nicht, was Sie ihm sagen wollen, ist beunruhigt und verschliesst sich.
Stattdessen könnten Sie:
- Zurück auf null gehen und «den Ball flach halten». Ziehen Sie den Kopf aus der Problemwolke. Statt zu grübeln und zu deuten, fragen Sie sich: Was nehme ich eigentlich konkret wahr? Beschreiben Sie Ihre Wahrnehmung sachlich und ohne Wertung – erst einmal nur für sich selbst.
- Auch sich selbst achtsam wahrnehmen. Was löst die Situation bei mir aus? Warum will ich sie ansprechen? Ziele? Absicht?
- Ein Feedback zu geben versuchen. Persönlich, konkret, respektvoll: «Mir scheint, dass du in letzter Zeit ein paar heftige Entscheidungen getroffen hast (…). Gleichzeitig wirkst du ein wenig rastlos auf mich.»
Dann beschreiben Sie, was das bei Ihnen bewirkt: «Das macht mir Sorgen, und ich frage mich, ob es dir wohl gut geht.» Bitten Sie um die Einschätzung des anderen: «Es interessiert mich, ob du das ähnlich siehst oder ganz anders wahrnimmst.»
Diskutieren Sie nicht darüber, wer recht hat. Hören Sie zu, lassen Sie das Feedback wirken. Später können Sie das Thema wieder aufnehmen: «Ich erlebe dich immer noch als sehr gehetzt. Ich bin unsicher, ob du das selbst auch merkst. Ich möchte dich gern unterstützen.» So kann ein echter Dialog entstehen, in dem auch schwierige Befindlichkeiten Platz haben.
Sehr selten gibt es aber auch Situationen, in denen ein Mensch massiv «aus den Fugen» zu geraten scheint. Wenn jemand wirklich gefährdet ist oder andere gefährdet, ist ein besonnenes und beherztes Vorgehen nötig. Unter Umständen muss zügig gehandelt werden, damit der nötige Schutz gewährleistet wird – beispielsweise bei Suiziddrohungen , einem totalen Rückzug aus der Alltagswelt, paranoiden Wahnvorstellungen oder Gewaltfantasien.
Hier ist Zivilcourage gefragt. Es braucht klare Absprachen im Umfeld, den Einbezug des Hausarztes oder nötigenfalls eine Gefährdungsmeldung bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb.
Zögern Sie in einer unberechenbaren Situation nicht, sich professionelle Unterstützung zu holen, beim Notfallpsychiater oder bei der Polizei. Vor allem wenn die betroffene Person zu einem «normalen Gespräch» nicht mehr in der Lage scheint.
Schreiben Sie per Mail an: psychologie@beobachter.ch oder per Post an:
Beobachter
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