Wo bleibt die Pille für den Mann?
Nach der Pille für den Mann wird seit Jahrzehnten geforscht, der Durchbruch lässt aber auf sich warten. Weshalb dauert das so lange? Und gibt es überhaupt eine Nachfrage?
aktualisiert am 11. Juli 2022 - 14:24 Uhr
Auf der Suche nach amourösen Abenteuern stürmte Giacomo Casanova Schlafgemächer von Mailand bis London. Meist mit dabei: seine «kleinen schützenden Hüllen». Kondome waren im 18. Jahrhundert bereits bekannt, aber noch wenig verbreitet. Der Frauenheld sollte das ändern. Vor den Augen der Damen blies er Luft aus den Backen, um die Dichtigkeit der Hüllen zu prüfen. Manche lachten über das Spektakel, andere ekelten sich. Schliesslich flatterten da Fischblasen oder Schafsdärme, die der Geübte bald über seinen Penis stülpte – ein notwendiges Übel, um «das schöne Geschlecht vor jeder Angst zu bewahren», wie er in seinen Memoiren schrieb.
Im 21. Jahrhundert haben Casanovas «Häubchen» keine Werbung mehr nötig. Kondome sind in der Schweiz das beliebteste Verhütungsmittel, fast jede zweite Person nutzt sie. Die Tierhaut wurde inzwischen durch Kautschuk ersetzt, die Anwendung ist bequemer, der Schutz zuverlässig. Daneben hat sich aber erstaunlich wenig getan. Noch immer ist das Kondom die einzige Verhütungsmethode für den Mann, solange er sich nicht für eine Vasektomie – die irreversible Durchtrennung des Samenleiters – entscheidet. Dabei werden Alternativen seit den Achtzigerjahren angekündigt. Der Durchbruch blieb aus.
Der Markt bedient die Frau
«Frauen mussten auch lange auf gute Verhütungsmethoden warten», sagt Hans Schudel, leitender Urologe am Berner Inselspital. «Als in den Sechzigerjahren die Antibabypille auf den Markt kam, glich das einer Revolution. Das beschleunigte die Forschung enorm.» Die Pharmaindustrie witterte Milliardengeschäfte und pumpte Geld in neue Studien. Pillen, Pflaster, Spritzen, Spiralen, Stäbchen und Ketten überschwemmten den Markt. Sie verhalfen Frauen zu einer neuen Freiheit und Selbstbestimmung. Gleichzeitig liess das Interesse an Verhütungsmitteln für Männer nach. Weshalb sollte die Industrie noch in experimentelle Studien investieren?
«Produkte wie die Antibabypille haben einen hohen Massstab gesetzt. Alle neuen Verhütungsmethoden werden daran gemessen. Sie müssen wirksam, gut verträglich und unkompliziert sein», sagt Hans Schudel. An diesen Kriterien scheitern Forscher bis heute.
Zu umständlich ist zum Beispiel ein Verhütungsslip aus Frankreich, der die Hoden ins Körperinnere drückt. Dort ist es so warm, dass die Spermien Schaden nehmen – allerdings nur, wenn der Mann die Unterhose 15 Stunden täglich trägt. Wenig Anklang fand auch ein Samenleiterventil eines deutschen Tischlers: Über einen kleinen Schalter unter der Haut des Hodensacks steuert er selber, ob er gerade fruchtbar oder unfruchtbar ist. Die Methode funktioniert – aber nur beim Erfinder. Für Studien mit weiteren Probanden fehlte das Geld. Andere Produkte hatten starke Nebenwirkungen oder wurden gar nicht erst am Menschen getestet, da Tiere für immer unfruchtbar blieben.
Nebenwirkungen als Hindernis
Am besten erforscht sind hormonelle Methoden. Ihr Ziel: Spermien. Ihre Waffe: Testosteron. Irgendwie ironisch, schliesslich ist das männliche Sexualhormon für die Herstellung von Spermien verantwortlich. Wird es künstlich verabreicht, stellt der Körper die eigene Produktion – und damit auch die der Spermien – aber ein. Nur ist es schwierig, die richtige Menge zu erwischen. Zu wenig Testosteron nimmt die Lust, zu viel lässt die Hoden schrumpfen. Auch reicht Testosteron allein nicht aus: Um die Spermienbildung komplett zu unterbinden, sind auch Gestagene, weibliche Sexualhormone, nötig. Und die führen ebenfalls zu unerwünschten Begleiterscheinungen.
2009 liess eine Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO Hoffnung keimen: 400 Männer aus acht Ländern erhielten alle zwei Monate eine Hormonspritze. Die Wirksamkeit war ein Erfolg – noch nie schaffte es ein Präparat für den Mann so nah an die Markteinführung. Dann wurde die Studie nach zwei Jahren eingestellt; zehn Prozent der Teilnehmer klagten über Depressionen, Gewichtszunahme, Hautprobleme und verminderte Lust. Dieselben Risiken, die sonst Frauen mit der Antibabypille in Kauf nehmen sollten.
«Auch die damalige Antibabypille würde heute vermutlich nicht mehr auf den Markt kommen. In den Sechzigerjahren waren die medizinischen und ethischen Standards aber noch tiefer», sagt Hans Schudel. Eine zentrale Rolle spielte das Nutzen-Risiko-Verhältnis: Neue Medikamente werden nur dann eingeführt, wenn sie einen Nutzen bringen, der das Risiko der Einnahme übersteigt. In einer ungewollten Schwangerschaft sah man ein grosses Risiko, für dessen Vermeidung die Frau teils starke Nebenwirkungen in Kauf nahm. «Heutige Produkte sind zwar nicht frei von Nebenwirkungen, aber besser verträglich», so Schudel.
«Die grosse Mehrheit der Männer würde neue Verhütungsmethoden ausprobieren.»
Hans Schudel, leitender Urologe am Berner Inselspital
Zurück zur WHO-Studie: Der Abbruch wurde damals kontrovers diskutiert und ist noch heute umstritten. Einige Expertinnen waren der Meinung, eine leichte Anpassung der Dosierung hätte das Problem gelöst. Andere plädierten für eine Weiterentwicklung der Antibabyspritze, schliesslich stand man bereits auf der Zielgeraden. Stattdessen: zurück auf Feld eins. Der Rückschlag lähmte die Forschung. Die Hürde wurde immer höher, und die Pharmaindustrie überliess das Feld gemeinnützigen Organisationen und privaten Stiftungen. Immer wieder mussten diese gegen die ketzerische Frage ankämpfen: Besteht bei Männern überhaupt eine Nachfrage?
Definitiv, findet Schudel. Der Wunsch nach neuen Verhütungsmitteln habe zugenommen: «Das sehe ich in meiner Sprechstunde. Aber auch Umfragen zeigen, dass eine grosse Mehrheit der Männer neue Verhütungsmethoden ausprobieren würde.» Die einseitige Rollenverteilung entspreche dem heutigen Verständnis von Partnerschaft und Familie nicht mehr.
Kondom nicht am Ende
Das finden auch Ed und Fiona. Das Paar aus Edinburgh erklärte sich bereit, ein neues Verhütungsgel zu testen. 18 Monate lang schmierte sich Ed das Gel täglich auf Brust und Schultern. Die enthaltenen Hormone gelangen über die Haut in den Blutkreislauf und unterdrücken die Spermienproduktion. Ein Minuspunkt: Vor dem Sex musste Ed duschen, damit das Testosteron durch den Hautkontakt nicht in Fionas Körper gelangte. Er nahm etwas zu und hatte gelegentliche Hitzewallungen – ein kleiner Preis für ein unbeschwertes Sexleben, wie er in der Zeitung «Daily Mail» schwärmt. Die Studienleiter rechnen mit einer Markteinführung in fünf bis zehn Jahren. Ob es diesmal klappt?
Hans Schudel ist zuversichtlich: «Es könnte gut sein, dass in zehn Jahren mehrere hormonelle Produkte genutzt werden.» Hat das Kondom also ausgedient? Kaum. Denn etwas hat es allen Verhütungsmitteln voraus: Es schützt zuverlässig vor Geschlechtskrankheiten. Das wusste bereits Giacomo Casanova.