Wen würden Sie fragen, wenn am Auto ein Rad schlingert? Vermutlich nicht den Autolackierer, sondern Ihren Garagisten. Ähnlich geht es einer Mehrheit der Bevölkerung beim elektronischen Patientendossier:  Gemäss einer Umfrage im Auftrag des Bundes würden 62 Prozent das Dossier am liebsten bei ihrer Hausärztin eröffnen. Doch die allermeisten Ärztinnen und Ärzte dürften bei diesem Anliegen nicht weiterhelfen können.

Wer heute ein elektronisches Patientendossier, kurz EPD, eröffnen will, muss erst im Internet nach einer Apotheke, einem Spital, einer der wenigen Poststellen oder einem eigens dafür eingerichteten Büro suchen, wo dieser Service angeboten wird. An manchen Orten muss man gar einen Termin vereinbaren. Unkompliziert geht definitiv anders.

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Erst jeder zehnte Hausarzt nutzt das EPD

Dass die meisten Hausärztinnen und -ärzte kein EPD eröffnen können, hat zwei Gründe: Erstens hat sich in der Deutschschweiz erst jeder zehnte ambulant tätige Arzt entschieden, das EPD überhaupt zu nutzen. Und zweitens können jene, die einen entsprechenden Zugang haben, meist nur Dokumente in bestehenden Dossiers lesen oder neue Gesundheitsinformationen ihrer Patientinnen und Patienten hochladen – aber eben keine neuen EPDs anlegen. 

Mitverantwortlich sei die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte, die FMH, kritisiert die Stiftung für Konsumentenschutz (SKS). «Dabei wären die Hausärzte als wichtige Schnittstelle zur Bevölkerung eigentlich prädestiniert, das EPD zum Fliegen zu bringen», sagt SKS-Geschäftsführerin Sara Stalder. 

«Hausärzte wären eigentlich prädestiniert, das EPD zum Fliegen zu bringen.»

Sara Stalder, Konsumentenschützerin

Eröffnen können Patientinnen und Patienten ein EPD seit einem Jahr. Tatsächlich getan haben es bislang aber erst 20’000 Personen. Die Idee hinter dem Dossier ist, die Patientenversorgung durch eine zentrale Ablage der wichtigsten Gesundheitsinformationen zu verbessern.

Ärztinnen, Ärzte und andere Gesundheitsfachpersonen sollen dort schnell und unkompliziert einen umfassenden Blick auf die medizinische Vorgeschichte ihrer Patienten erhalten – unabhängig davon, in welchem Kanton der Patient wohnt und zu welchem Arzt er für gewöhnlich geht. Doppelte Behandlungen, Fehl- und Überversorgung sollen so verringert werden. «Wir sehen im EPD eine grosse Chance, dass die Koordination, interprofessionelle Zusammenarbeit und Versorgungsqualität verbessert werden und endlich besser verstanden wird, wohin die Gesundheitsausgaben von über 80 Milliarden pro Jahr fliessen», sagt Konsumentenschützerin Sara Stalder.

EPD-Gemeinschaft der Ärzte kann keine Patientendaten lagern

Doch das EPD ist bislang ein serbelndes Projekt: Vor zehn Jahren gestartet, kostete es bis heute gut 100 Millionen Franken – hat aber noch immer mit diversen Problemen zu kämpfen. Kritiker monieren, es sei ein PDF-Friedhof. Denn im Dossier können Ärztinnen nicht nach Stichworten wie etwa einer Medikamentenallergie suchen. Um an die Information zu gelangen, müssen sie etliche PDFs öffnen und lesen. Auch der Informationsaustausch zwischen den EPD-Gemeinschaften läuft noch nicht wie geplant. Dieser wäre aber notwendig, damit ein Arzt der Gemeinschaft A auf die Patienteninformationen bei Stamm B zugreifen kann.

Zwar gibt es keine Zahlen, wie viele Ärztinnen tatsächlich EPDs eröffnen können. Die meisten dürften aber der Empfehlung der FMH gefolgt sein, der ärzteeigenen EPD-Gemeinschaft AD Swiss beizutreten. Ausgerechnet diese ist jedoch die einzige der schweizweit acht EPD-Organisationen, bei der weder neue Dossiers angelegt noch Patientendaten gelagert werden können. Anders sieht das etwa bei der Stammgemeinschaft Abilis aus, der Berufsgenossenschaft der Apotheker: Wer hier als Leistungserbringer Mitglied wird, kann für seine Kundinnen oder Patienten auch entsprechende Dossiers eröffnen, Daten speichern und wieder abrufen. 

Die FMH habe eine doppelbödige Haltung, kritisiert Konsumentenschützerin Sara Stalder. Sie sei mitverantwortlich für den ausbleibenden Erfolg des EPD. «Gegen aussen gibt sich die FMH lösungsorientiert und betont, sie befürworte ein gut funktionierendes EPD – im Hintergrund zieht sie aber alle Register, um die Verbreitung und die Akzeptanz zu bremsen.»  Auch eine Informationskampagne des Bundesamts für Gesundheit, die die Ärzteschaft für eine freiwillige EPD-Mitgliedschaft motivieren soll, unterstützt die FMH explizit nicht.

FMH kritisiert mangelnde Funktionalität des EPDs

Heute gilt erst für neu eröffnende Arztpraxen, Spitäler, Geburtshäuser und Pflegeheime eine Pflicht, einer EPD-Gemeinschaft beizutreten. Für alle anderen Ärzte und Gesundheitsfachpersonen ist ein EPD-Anschluss heute noch freiwillig. Dass die Ärzteschaft ihre eigene EPD-Gemeinschaft gründete, die aber keine Dossiers beherbergt, sei ein Trick, findet Stalder. «So können die Ärzte zwar ihre gesetzliche Pflicht erfüllen, können aber für ihre eigenen Patienten kein Dossier eröffnen und bremsen somit die Verbreitung des EPD.» Hier müsse beim Gesetz nachgebessert werden. «Das EPD-Gesetz wurde nicht dafür gemacht, dass sich die Ärzteschaft in einer Sackgasse verschanzt.»

Alexander Zimmer, Mitglied Zentralvorstand FMH und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie aus Solothurn, führt den Bereich Digitalisierung und E-Health der FMH. Er bestreitet die Vorwürfe: «Der Erfolg des elektronischen Patientendossiers hängt davon ab, ob es Patienten und Ärztinnen Nutzen bringt.» Davon sei das aktuelle EPD als derzeit lediglich sichere PDF-Ablage von Gesundheitsdokumenten noch weit entfernt. Zudem sei der Zusatzaufwand für die Gesundheitsfachpersonen für die Bedienung des EPD beträchtlich.

«Wir haben ohnehin schon einen Personalmangel, da kann eine Ärztin nicht zusätzlich 20 Minuten pro Patient aufwenden, um ein EPD zu eröffnen.»

Alexander Zimmer, Mitglied Zentralvorstand der FMH

Dass die FMH zumindest unter den aktuellen Umständen kein Interesse zeigt, EPDs zu eröffnen, scheint offensichtlich: Gemäss Zimmer sei das nicht Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte. «Wir haben ohnehin schon einen Personalmangel, da kann eine Ärztin nicht zusätzlich 20 Minuten pro Patient aufwenden, um ein EPD zu eröffnen.» Und rhetorisch fragt er, was denn er als Psychiater machen soll. «Ich habe ja nicht mal eine Praxisassistentin.»

Bereits vor zwei Jahren machte die FMH in einem Positionspapier darauf aufmerksam, dass sie die Aufwände, die sie mit dem EPD haben, nicht zusätzlich abrechnen können. Stattdessen müssten sie die Zeit als Konsultationszeit verrechnen. «Ärztinnen und Ärzte sind gerne bereit, den Mehraufwand für das EPD zu betreiben, dieser muss aber im Verhältnis zum Nutzen sein und darf nicht zulasten der Behandlungszeit des Patienten gehen.»

Zimmer appelliert an den Bund, eine Regelung für die Abgeltung der Zusatzarbeit auszuarbeiten. Zudem müsse der Bund die Kompatibilität und die Integration in die Klinik- und Praxissoftware gewährleisten, um gleiche Daten nicht doppelt erfassen zu müssen. Heute müssen Ärzte die Behandlungsinformationen in ihrem lokalen Praxissystem eingeben und separat im elektronischen Patientendossier. «Sobald das EPD nutzbringend sein wird, wird die FMH dafür werben. Vorher setzen wir unsere Priorität in die Weiterentwicklung», sagt Zimmer.

Bund weist Kritik zurück

Für Gian-Reto Grond, Leiter Sektion digitale Gesundheit beim Bundesamt für Gesundheit BAG, verfangen diese Argumente nicht. «Es ist nicht Aufgabe des BAGs, diese Integration in bestehende Praxisinformationssysteme von privatwirtschaftlichen Anbietern voranzutreiben und zu finanzieren.» Zudem müsse eine allfällige finanzielle Entschädigung für die Arbeiten mit dem EPD im Alltag in Tarifverhandlungen geregelt werden. 

Auch Kritik, der Bund müsse eine aktivere Rolle einnehmen und die Ärztinnen und Ärzte stärker in die Pflicht nehmen, lässt Grond nicht gelten. Das Gesetz sehe vor, dass Stammgemeinschaften wie die Abilis Patientendossiers eröffnen müssen, für Gemeinschaften wie die AD Swiss ist dies gesetzlich ausdrücklich nicht vorgesehen. «Damit sichergestellt ist, dass alle Bürgerinnen und Bürger in der Nähe ein EPD eröffnen können, sollen die Kantone künftig verpflichtet werden, die Finanzierung von mindestens einer Stammgemeinschaft auf ihrem Hoheitsgebiet sicherzustellen», sagt er.

Zudem sollen mit der Gesetzesrevision, die der Bundesrat Ende Juni in die Vernehmlassung geschickt hat, Digitalisiertes Gesundheitswesen Jetzt soll das elektronische Dossier wirklich kommen  künftig alle medizinischen Leistungserbringer, die über die obligatorische Krankenpflegeversicherung abrechnen, verpflichtet werden, das EPD einzusetzen und alle behandlungsrelevanten Informationen darin einzutragen.

Sara Stalder teilt zwar die Ansicht der Ärztinnen und Ärzte, dass das EPD technisch rasch verbessert werden muss. «Aber es hilft niemandem, wenn die Ärzte das Vorankommen torpedieren.» Das Projekt zu stoppen und neu anzufangen, würde die Digitalisierung im Gesundheitswesen um mindestens zehn weitere Jahre verzögern. «Es wird Zeit, dass wir endlich einen Schritt vorwärts machen.»

Änderungen beim EPD-Gesetz geplant

Der Bundesrat will das elektronische Patientendossier weiterentwickeln, damit der Informationsaustausch über die Krankengeschichte von Patientinnen und Patienten verbessert wird.

Stand heute ist die Teilnahme am EPD weitgehend freiwillig:

  • Patientinnen und Patienten entscheiden selbst, ob sie ein elektronisches Patientendossier eröffnen wollen.
  • Ambulant tätige Ärztinnen (zum Beispiel Hausärztinnen) und Therapeuten können sich freiwillig einer EPD-Stammgemeinschaft anschliessen, um das elektronische Patientendossier zu nutzen. 
  • Nur neu eröffnende Arztpraxen, Spitäler, Geburtshäuser und Pflegeheime sind verpflichtet, einer Stammgemeinschaft beizutreten und behandlungsrelevante Patienteninformationen im EPD zu hinterlegen.

Nun hat der Bundesrat eine Gesetzesrevision in die Vernehmlassung geschickt. Folgende Punkte sollen sich ändern:

  • Alle Fachpersonen des Gesundheitsbereichs müssen das EPD nutzen (zum Beispiel ambulant tätige Ärzte, Therapeutinnen und Apotheken).
  • Alle in der Schweiz wohnhaften und krankenversicherten Personen sollen automatisch ein EPD erhalten. Wer keines will, muss innert drei Monaten beim Wohnkanton Widerspruch erheben.
  • Der Bund soll künftig die Weiterentwicklung des EPD inhaltlich koordinieren und finanzieren.
  • Die Kantone sind dafür verantwortlich, dass die Bevölkerung in ihrem Hoheitsgebiet Zugang zu einer EPD-Stammgemeinschaft hat.
  • Für die Finanzierung der Stammgemeinschaften sind die Kantone verantwortlich.

Alle betroffenen Parteien und Vertreter der Konsumentinnen und Patienten können sich bis zum 19. Oktober 2023 zur Vernehmlassung äussern. Danach wird die Gesetzesänderung ausgearbeitet. Wann das neue Gesetz in Kraft tritt, ist noch nicht bekannt. Expertinnen rechnen damit, dass dies nicht vor 2028 der Fall sein wird.