Wo es hilft – und wann es schadet
Heilt Yoga Krankheiten? Oder schadet es sogar? Antworten von westlichen Medizinerinnen, kritischen Yogis und indischen Gurus.
Marilyn Monroe hat es getan, Michelle Obama schwört darauf. Madonna schrieb Songs darüber, Filmbösewicht Willem Dafoe trainiert damit: Yoga. Einst spirituelle Praxis einer indischen Elite, ist es zum universellen Sinnbild für Fitness und Entspannung geworden. Weltweit praktizieren es rund 300 Millionen Leute regelmässig, zehnmal so viele Frauen wie Männer. In der Schweiz hat gemäss Hochrechnungen eine Million Menschen Yogaerfahrung, eine halbe findet regelmässig den Weg auf die Matte.
Was bringt Berner Hipster dazu, sich zu verbiegen, Luzerner Seniorinnen und Zürcher Schulkinder? Tut Yoga einfach gut, oder hat die uralte indische Body-Mind-Methode Antworten auf die handfesten Leiden einer Wohlstandsgesellschaft? Kurz: Kann Yoga heilen?
Eines ist klar: Die Medizin hat Yoga entdeckt. Allein die Nationalen Gesundheitsinstitute der USA investierten in den letzten Jahren Hunderte Millionen Dollar in entsprechende Forschungen. Und Pubmed, eine Datenbank der medizinischen Studien, spuckt auf die Eingabe «Yoga» mehr als 5000 Einträge aus.
Erste Antworten auf meine Fragen suche ich, selber Yogalehrerin, in einem nüchternen Geschäftshaus im Zürcher Univiertel. Hier leitet Claudia Witt das Institut für komplementäre und integrative Medizin des Universitätsspitals. Witt, wache Augen hinter runder Brille, schickt Krebspatientinnen in den Yogaunterricht. «Wir tun das, weil es wissenschaftliche Evidenz für Yoga gibt», sagt sie. Studien belegen, dass Yoga Schmerzpatienten hilft. (siehe auch Infografiken am Artikelende) Witt betont aber, dass man sich am Institut auf die erforschten Körper- und Atemübungen sowie Achtsamkeitsmeditation konzentriert. «Die spirituelle Seite des Yoga hat bei uns keinen Platz.»
Das führt zur Frage: Was ist Yoga? Die indischen Weisen, die es vor rund 3000 Jahren entwickelten, konzentrierten sich darauf, Erleuchtung zu erlangen. Später wurden Körperübungen beschrieben, die sogenannten Asanas – sie zielten in erster Linie darauf ab, den Menschen stark und flexibel zu machen, so dass er ohne Murren stundenlang im Meditationssitz verharren kann. Kein Wort von Leggings, Soul-Bottles und Detox-Shakes. Darf man also von Yoga sprechen, wenn es – wie in vielen Fitness- und Yogastudios üblich – allein darum geht, den Rücken zu stärken oder einen Beachbody zu bekommen?
Sicher ist: Yoga hat sich weiterentwickelt, hin zu mehr Körperarbeit. Auch in Indien. Die Gründerväter des modernen Yoga aber, B. K. S. Iyengar und Sri K. Pattabhi Jois, blieben der Grundidee ihr Leben lang treu: «Erst wenn der Geist ruhig ist, ist die Asana korrekt.»
Die Ansätze der alten Gurus und jene der modernen Businessnomaden: Beides kennt man im Somatheeram International Institute of Yoga im indischen Bundesstaat Kerala. Im Schatten von Palmen sitzen sie hier mit geschlossenen Augen. Indische IT-Leute, Kreative aus dem Silicon Valley, Unternehmerinnen aus Russland. Sie konzentrieren sich auf ihren Atem und versuchen, Ruhe zu finden. Sie sind hier, um ihre quälende innere Unruhe loszuwerden, sagen sie – und um Gewicht zu verlieren.
Yogalehrer Deepu Padmajan kennt ihre Probleme: schmerzende Glieder, wabbelnde Bäuche, zerstreuter Geist. Der 31-Jährige in weisser Baumwollkleidung leitet unermüdlich Surya Namaskar an, den Sonnengruss. Er hat an der Universität Kerala Yoga studiert und begleitet heute Menschen aller Körperformen beim Vorwärts- und Rückwärtsbeugen. Dennoch ist Yoga für ihn in erster Linie eine spirituelle Praxis. «Yoga ist ein achtfacher Pfad», sagt er. «Eine ethische Lebensführung, vegetarische Diät, Atemübungen , Meditation, Konzentration und Versenkung sind so wichtig wie Körperübungen.»
Sein Kollege Deepu R. S., auch er in weisser Kluft, spricht von einem «heiligen Kern» der Yogapraxis. Die geistige Haltung sei mindestens so wichtig wie die Ausführung der Asanas. «Der Übende soll ganz im Hier und Jetzt sein, verbunden mit seinem Atem und der positiven Energie des höheren Selbst.» Darum beginnt man hier im Institut den Tag mit einer halbstündigen Meditation und Atemübungen, dem Pranayama . Das rhythmische Ein- und Ausatmen der zufällig zusammengewürfelten Menschengruppe wird eins mit dem Rauschen der Brandung. Täglich etwas Zeit in Stille zu verbringen, weiss man inzwischen, reicht, um das Nervensystem zu beruhigen. Regelmässige Meditation, auch das steht fest, verändert die Struktur des Gehirns.
Genaueres dazu erfahre ich in der nüchternen Welt der westlichen Labors: Britta Hölzel untersuchte, was bei der Achtsamkeitsmeditation im Gehirn abgeht. Dazu steckte die 42-jährige Münchner Psychologin und Neurowissenschaftlerin Versuchspersonen in den Magnetresonanztomografen. Schon eine halbe Stunde Meditation pro Tag, zeigte sie in einer ihrer Untersuchungen, lässt graue Zellen wachsen – in den Hirnregionen, die für Emotionskontrolle, Gedächtnis und Lernen zuständig sind. Man wisse nicht genau, was die Strukturveränderungen bedeuten, sagt Hölzel, aber ihr Interesse war geweckt. Sie untersuchte auch die fluide Intelligenz, sprich die Fähigkeit, logisch zu denken und Probleme zu lösen. Das Resultat: Wer Yoga praktiziert und meditiert, zeigt auch in höherem Alter mehr von beidem. Der «normale» altersbedingte Abbau scheint gestoppt.
Macht Yoga also auch klug? Hölzel winkt ab, ganz Wissenschaftlerin: «Das Design meiner Studie lässt keine Schlüsse auf Ursache und Wirkung zu.» Nicht von der Hand zu weisen ist, dass bei Meditierenden und Yogis die verschiedenen Regionen des Gehirns effizienter zusammenarbeiten; das geschieht typischerweise auch im Zusammenhang mit Intelligenz.
Emotionskontrolle, Gedächtnis, Lernen: Müsste das unsere Schulen nicht brennend interessieren? Jedes dritte Kind, sagt die Weltgesundheitsorganisation (WHO), leide unter Stress . Tatsächlich finden sich etwa in den Zürcher Schulsport-Lehrmitteln Yogaelemente, und in den Tagesschulen wird es neu Yoga über Mittag geben. Ist diese Einführung wissenschaftlich begründet? Christoph Conz lacht. «Dafür brauchen wir keine neuen Studien», sagt der Leiter des Kompetenzzentrums Sportunterricht der Stadt Zürich. «Bewegung verbessert das Lernverhalten von Kindern. Und Konzentrations- und Balanceübungen wirken sich positiv aus.» Das sei mehrfach belegt. Yoga bringe beides mit. Aber Yoga für Kinder? Für Kindergärtler? «Ich war skeptisch», sagt Conz. Nun sind die ersten Schnuppertage um, und seine Skepsis hat sich gelegt: «Yoga muss kindgerecht sein, dann machen die Kinder gut mit.» Bereits gibt es Wartelisten.
In Kerala treffe ich den Arzt S. Gopakumar. Der 46-Jährige bildet am staatlichen Ayurveda College im südindischen Thiruvananthapuram Ärztinnen und Ärzte aus. Die Kombination der indischen Gesundheitslehre Ayurveda mit Yoga ist für ihn die perfekte Antwort auf die Leiden des modernen Menschen. «80 Prozent der Krankheiten sind Folgen eines ungesunden Lebensstils», sagt er. «Zu viel und falsches Essen, zu wenig Bewegung, zu viel Stress .» Darum sei Yoga geradezu geschaffen für die heutige Zeit: «Es bringt den Menschen zur Ruhe, und er lernt, sich und seine Gelüste zu kontrollieren.» Durch Yoga werde der Mensch wieder fähig, so zu leben, wie es seiner Gesundheit zuträglich sei. Das wiederum heile Körper wie auch Psyche.
Tatsächlich machen mehrere neue Untersuchungen Menschen mit Angststörungen, Depressionen, Schizophrenie und Süchten Hoffnung. Jenny Rosendahl, Psychologin am Universitätsklinikum im deutschen Jena, verglich 25 Studien zum Thema und fand Erstaunliches. Psychisch Kranken, die zum Yoga geschickt wurden, ging es schon nach neun Wochen deutlich besser als jenen, die nur mit Medikamenten behandelt werden. Yoga lindert Depressions- und Angstsymptome und steigert das Wohlbefinden deutlich.
Zurück nach Indien. Seit einer Woche verbringe ich mehrere Stunden täglich mit den drei Säulen des modernen Yoga: Meditation, Körper- und Atemübungen. Obwohl ich seit über zehn Jahren Yoga praktiziere, spüre ich eine deutliche Veränderung. Ich bin körperlich fitter, ruhiger, fokussierter. Lässt sich das messen? Mein Blutdruck ist auf einem für mich rekordtiefen Wert von 110/60. Zufall?
Zahlreiche Erhebungen belegen, dass Yoga gut fürs Herz ist. Etwa eine Übersichtsstudie der Erasmus-Universität Rotterdam und der Harvard Medical School in Boston. Die Forschenden verglichen 37 Studien mit insgesamt 2768 Teilnehmenden. Bereits nach wenigen Wochen war der Blutdruck der Probanden dank regelmässigem Yoga um durchschnittlich 5 mmHg gesunken, die Herzfrequenz um 5,27 Schläge pro Minute, der Wert des LDL-Cholesterins um 12 Milligramm pro Deziliter und das durchschnittliche Körpergewicht um 2,32 Kilo.
Yoga – ein Allheilmittel? Leider nein. 2012 rüttelte der renommierte US-Wissenschaftspublizist William J. Broad die Yogaszene auf. Er selber fand auf die Matte, um seine Rückenprobleme zu lindern – und holte sich einen Bandscheibenvorfall . Broad begann zu recherchieren. Sein Buch «Yoga. Was es verspricht – und was es kann» wurde zum Bestseller. Broad suchte und fand Yogalehrer mit Hüft- und Rückenschäden. Er stiess auf Krankengeschichten von Praktizierenden, die sich mutmasslich durch Yogaposen wie Schulterstand – im Volksmund «Kerze» – oder Kopfstand schwere Schäden bis zum Hirnschlag zugezogen hatten.
Broads Buch zeitigte Folgen. In Indien sind Schulter- und Kopfstand zwar nach wie vor «Queen and King» der Yogapraxis. Sie sollen Schilddrüsenerkrankungen, Depressionen und Verstopfung kurieren. Doch im Westen ist das Reich von Königin und König erheblich geschrumpft.
«Der Kopfstand belastet Halswirbel und Bandscheiben in einer Weise, für die ihre naturgegebene Struktur nicht geschaffen ist», sagt etwa die Berliner Ärztin und Yogatherapeutin Imogen Dalmann. Häufiges Wiederholen einer solchen Belastung erhöhe das Risiko von Arthrose und Bandscheibenschäden. Dehnungen seien ebenfalls kritisch. Auch hier sei der Nacken besonders gefährdet: «Die Bänder, die die Wirbel stabilisieren, verlieren durch wiederholtes intensives Dehnen ihre Funktion.» Dalmann rät deshalb dringend, Übungen wie Schulterstand oder Pflug aus dem Yogarepertoire zu streichen.
Was nun? Ich treffe Katchie Ananda, international gefeierte Yogalehrerin, die seit über 20 Jahren weltweit unterrichtet und Yogalehrerinnen und -lehrer ausbildet. Als eine der ersten Westlerinnen liess sie sich von Jois und Iyengar unterrichten, den Urvätern des modernen Yoga. Auf Schulter- und Kopfstand verzichtet sie nicht. Betont aber, wie wichtig klare Anweisungen und individuelle Anpassungen sind.
«Wenn Yoga gelingt, versöhnst du dich mit dir selber, merkst, dass du mit allem verbunden bist, mit den Menschen, Tieren und Pflanzen. Das ist der wirklich heilsame Aspekt von Yoga.»
Katchie Ananda, Yogalehrerin
Dass Yoga auch schaden kann, hat Katchie Ananda am eigenen Leib erfahren. Die 55-Jährige hat einen federnden Gang und scheinbar unendlich viel Energie. Was man ihr nicht ansieht: Ihre Hüfte ist durch das jahrzehntelange Praktizieren hyperbeweglich und schmerzt heftig, wenn sie nicht täglich Krafttraining
macht. «Die wahren Vorteile von Yoga liegen für mich nicht im körperlichen Bereich», sagt sie denn auch. «Wenn Yoga gelingt, versöhnst du dich mit dir selber, merkst, dass du mit allem verbunden bist, mit den Menschen, Tieren und Pflanzen. Das ist der wirklich heilsame Aspekt von Yoga.»
Ananda verschweigt auch nicht, dass es in den geheiligten Hallen der alten Gurus mitunter brutal und frauenverachtend zuging. Heute setzt sie sich für die Rechte von Frauen ein, auch das ist für sie ein Teil der Yogaphilosophie.
Wie gefährlich sind die Übungen? Die Frage bleibt während meiner Zeit in Südindien virulent. Täglich beobachte ich im Kopf- und Schulterstand die Welt von unten. Die Lehrer kontern meine Bedenken mit Geschichten von Frauen, die dank Schulterstand ihren Stoffwechsel ins Gleichgewicht gebracht hätten.
Noch einmal wende ich mich an Dr. Gopakumar, den indischen Ausbildner. Er weiss, dass viele Yogastellungen in Verruf geraten sind. «Wir hören das aus den USA und Europa», sagt er sichtlich unbeeindruckt, «wo die Leute stärker unter Druck sind und das Ego grösser ist. Aus Indien sind mir solche Unfälle und Erkrankungen nicht bekannt.»
Damit sind wir wahrscheinlich beim Kern der Geschichte: Yoga ist so gesund oder gefährlich, wie es praktiziert wird. Im Yogainstitut in Kerala werden Anfänger, Geübtere und Fortgeschrittene separat unterrichtet, eine Lektion sieht aus wie die andere. Dagegen kommt es in manch hippem Studio zu einer explosiven Mischung von anspruchsvollen Übungen, schlecht ausgebildeten Lehrkräften, Ehrgeiz und westlichem Leistungsdenken.
Zurück ins Zürcher Institut von Ärztin Claudia Witt. Worauf muss ich achten, wenn ich mit Yoga beginnen will, womöglich aber schon Beschwerden habe? «Ich empfehle eine Kleingruppe und erfahrene Yogalehrende», sagt Witt.
Rolle ich heute, zurück in der Schweiz, meine Matte aus, habe ich den indischen Yogalehrer Deepu Padmajan im Ohr. Er wiederholte in jeder Lektion: «Setz deinen Körper nicht zu sehr unter Druck.» Ein gutes Mantra auf dem Weg in eine gesunde Yogapraxis.
Mittlerweile gibt es Tausende von wissenschaftlichen Studien, die den medizinischen Nutzen von Yoga belegen oder darauf hinweisen. Eine Auswahl.
Gegen Rückenschmerz
Gegen Nackenschmerz
Das Gehirn im Alter fit halten
Herz und Kreislauf stärken
Quellennachweis:
K. J. Sherman u.a.: «Comparing Yoga, Exercise, and a Self-Care Book for Chronic Low Back Pain» (2005), H. Traitteur: «Wirksamkeit einer Iyengar-Yogaintervention bei Patienten mit chronischen Nackenschmerzen» (2013), T. Gard u.a.: «Fluid intelligence and brain functional organization […]» (2014), P. CHU u.a.: «The effectiveness of yoga in modifying risk factors for cardiovascular disease and metabolic syndrome» (2016)
Nur wer weiss, was er mit Yoga erreichen will, findet auch das geeignete Training. Die verschiedenen Yogastile im Überblick. jetzt lesen
Yoga – auch ein Internet-Trend
- William J. Broad: «Yoga. Was es verspricht – und was es kann»; Herder, 2019, 400 Seiten, CHF 25.90
- Ulrich Ott: «Yoga für Skeptiker. Ein Neurowissenschaftler erklärt die uralte Weisheitslehre»; O. W. Barth, 2013, 288 Seiten, CHF 28.90
- Imogen Dalmann, Martin Soder: «Heilkunst Yoga. Konzepte, Praxis, Perspektiven»; Viveka, 2016, 188 Seiten, CHF 29.90