Auf der Pirsch fürs Tierwohl?
Safaris sind ein Milliardengeschäft, von dem auch der Tierschutz profitiert. Reist man in Parks, die nachhaltige Konzepte verfolgen, kann man damit auch Gutes tun. Trotzdem gibt es Vorbehalte.
Veröffentlicht am 23. März 2023 - 13:55 Uhr
Der Nationalpark Nagarahole im Süden Indiens wirkt an diesem Morgen wie ein verwunschener Märchenwald. Es ist kalt, neblig und still. Kein Eisvogel ist zu hören, kein Pferdehirsch zu sehen, selbst den Languren-Affen scheint es noch zu früh zu sein, um sich gegenseitig zu jagen. «Schwierige Voraussetzungen, um einen Tiger zu finden», sagt Naturforscher Shanmuga Kumar zu den acht erwartungsvollen Touristen im Jeep, die mit Kameras und Ferngläsern bewaffnet sind.
Ich bleibe trotzdem zuversichtlich. «Wenn ich mir ganz fest einen Tiger herbeiwünsche», sage ich mir, «wird er früher oder später vor unserem Gefährt auftauchen.»
Seit zehn Jahren pirscht Kumar durch die Wälder des Tigerreservats und sucht nach den 130 Tigern, die in diesem Park – auf einer Fläche so gross wie der Kanton Jura – leben. Dabei müssen er und seine Kollegen strenge Regeln befolgen.
Täglich werden maximal 150 Touristen in 17 offiziellen Vehikeln eingelassen. Diese dürfen ausschliesslich während zwei dreistündigen Zeitfenstern auf den markierten Strassen fahren. «Zudem ist es nicht erlaubt, sich mit anderen Fahrern darüber auszutauschen, wo Tiere gesichtet wurden», erklärt Kumar.
So bleibt ihm auch an diesem Morgen nur eins: die staubigen Strassen nach Tatzen- und Kotspuren abzusuchen und auf Warnrufe der Rehe und Affen zu warten.
Die Tiersafaris sind zu einem Multimilliardengeschäft geworden. Allein im Jahr 2018 beliefen sich die Einnahmen aus dem Wildtiertourismus auf über 600 Milliarden US-Dollar weltweit. Kein Wunder, denn wer Tiere in der freien Wildbahn erleben will, muss dafür an vielen Orten zahlen. So kostet allein der Tageseintritt in die kenianische Masai Mara rund 70 Franken.
Wer Gorillas in Uganda beobachten will, muss für das Parkticket stolze 900 Franken hinblättern; im benachbarten Ruanda kostet ein Gorilla Permit sogar 1500 Franken pro Tag. Hinzu kommen die kostspielige Anreise in entlegene Gebiete sowie Übernachtungen in teuren Safari-Lodges.
Tiere als Konsumprodukt
Wenn Touristen lange und teils unbequeme Anreisen auf sich nehmen und Tausende von Franken bezahlen, um bestimmte Tiere zu beobachten, möchten sie diese dann auch sehen. Mit dieser Erwartungshaltung hat Naturforscher Shanmuga Kumar regelmässig zu kämpfen: «Ich versuche den Leuten dann zu erklären, dass wir unser Bestes tun, es in der Natur aber nie eine Garantie für eine Tiersichtung gibt. Wir sind kein Zoo.»
Auch Nico Müller, Tierethiker und Präsident des Vereins Animal Rights Switzerland, findet diese Haltung problematisch. «Tiere verkommen durch diese Safaris zum Konsumprodukt», sagt er. Solche Reisen hätten demnach wenig mit Interesse an den Tieren zu tun. «Die meisten Tiersafaris dienen primär der Unterhaltung der Touristen.»Es raschelt im Gebüsch. Ist es wohl so weit? Ist da tatsächlich ein …? Nein, kein Tiger.
Dafür eine Gruppe von Elefanten mit einem rund einen Monat alten Jungtier. Noch lauter als das Schmatzen der Elefanten, die direkt vor dem Touristenjeep genüsslich ein paar Äste verzehren, ist das sturmgewehrartige Klicken der Kameras. Zu stören scheint es die friedfertigen Giganten nicht.
Nicht einmal als das Baby-Elefäntli Richtung Jeep tapst, wirken Mutter und Tanten beunruhigt. «Die Tiere kennen unsere Autos und wissen, dass sie sich nicht vor uns fürchten müssen», erklärt Naturforscher Kumar. Im Gegenteil. Dank der Präsenz der Touristen und dem Geld, das in den Artenschutz fliesst, konnte die Wilderei laut Kumar massiv reduziert und der Tigerbestand in Indien unter anderem dadurch wieder erhöht werden.
Ein Unterhaltungsprogramm also, aber immerhin mit einem positiven Effekt für die Tiere? Tatsächlich zeigt ein Blick auf eine Studie des Luc-Hoffmann-Instituts, wie gross der Beitrag der Touristen zum Artenschutz ist. So fliessen beispielsweise in Kenia rund 30 Millionen US-Dollar jährlich aus dem Tourismus in den Kenyan Wildlife Service.
In Südafrika kommen gar jährlich 52 Millionen Dollar aus dem Tourismus den Budgets der Nationalparks zugute. Und auch in Indien scheint das Konzept aufzugehen. Nachdem die Regierung den Tiger vor 50 Jahren zum indischen Nationaltier erklärt, die Wilderei verboten und Schutzgebiete lanciert hatte, erholte sich die Population gemäss offiziellen Angaben. So verkündete die Regierung im Sommer 2019, dass sich die Zahl der wild lebenden Tiger von 1411 im Jahr 2006 auf 2967 mehr als verdoppelt habe.
Artenschutz als Staatsauftrag
«Stimmen die Zahlen tatsächlich, ist das ein Erfolg», sagt Tierethiker Müller. Trotzdem sei es fraglich, ob der Artenschutz von ausländischen Touristen abhängig gemacht werden solle. Wie problematisch das sein kann, zeigte etwa die Covid-19-Pandemie, während der der internationale Tourismus von heute auf morgen komplett zusammenbrach. «Der Artenschutz sollte ein Staatsauftrag sein. Gibt man ihn über den Tourismus in die Hände von Privaten, macht man sich abhängig – teilweise sogar von ehemaligen Kolonialmächten.»
Gemäss Doris Calegari, internationale Artenschutzverantwortliche beim WWF Schweiz, sichert der Safaritourismus nicht nur das Überleben der Schutzgebiete, sondern auch von vielen Menschen, die in diesen arbeiten. «Der Tourismus bringt zahlreiche Arbeitsstellen und macht der Bevölkerung vor Ort bewusst, wie wertvoll diese Tiere und die Natur auch für uns Menschen sind.» Calegari rät deshalb, sich vor der Reisebuchung einige Fragen zu stellen und sehr bewusst zu buchen.
«Ist das überhaupt sicher? Ist ein Jeep schneller als ein Tiger? Wen würde die Tigerin zuerst …?»
Nur noch 30 Minuten, dann schliesst der Nationalpark. Eine Elefantengruppe, einen arbeitsamen Specht, einen gut getarnten Kauz, eine Gruppe Rehe haben wir die letzten zweieinhalb Stunden beobachten dürfen. Vom grossen Star aber fehlt jede Spur. Während wir zwei gefrässigen Mangusten beim Herumtollen im Gras zuschauen, unterhält Naturforscher Shanmuga Kumar die Gruppe mit den besten Tigergeschichten, die er in den vergangenen zehn Jahren erlebt hat.
Dann plötzlich ein Schrei der Touristin vor mir im Jeep: «Tiger!» Und tatsächlich: Da ist sie. Eine wunderschöne, etwa drei Jahre alte Tigerdame, die sich mit direktem Blick dem offenen Jeep nähert. «Ist das überhaupt sicher? Ist ein Jeep schneller als ein Tiger? Wen würde die Tigerin zuerst …?»
Unterhaltung? Störaktion?
Bevor ich den Gedanken zu Ende führen kann, biegt das Tier ab, läuft zu einem Teich am Strassenrand und beginnt zu trinken. Es ist offensichtlich weniger interessiert an uns als wir an ihm. Tränen der Begeisterung laufen über meine Wangen.
Aber was passiert jetzt? Zuerst taucht die Tigerdame ihr linkes Hinterbein ins Wasser, dann das rechte. Innerhalb von Sekunden ist die Tigerin im Wasser und gönnt sich ein Bad. Nach zehn Minuten, die sich wie die beste Stunde meines Lebens anfühlen, ist das Spektakel vorbei. Das Tier steigt aus dem Wasser und verschwindet im dichten Grün.
Unterhaltung? Wahrscheinlich. Aber nachdem die Tigerdame so instagrammable vor uns posiert hat, rede ich mir ein, dass wir sie nicht allzu sehr in ihrem Tagesablauf gestört haben.
Safaris: Das gilt es zu bedenken
- Wer Tiere in der freien Wildbahn beobachten möchte, sollte vor der Buchung Informationen einholen und sich verschiedene Überlegungen machen, rät Doris Calegari, Artenschutzverantwortliche beim WWF Schweiz:
- Wie viel Geld fliesst zurück in den Artenschutz? Erkundigen Sie sich bei Ihrem Reiseanbieter, wie stark er seine Verantwortung gegenüber der lokalen Bevölkerung und der Tierwelt wahrnimmt.
- Wie stark sind die Tiersichtungen reguliert? Je konkreter die Regeln zum Schutz der Tiere sind, desto grösser ist die Chance, dass sie nicht gestört werden.
- Dürfen Tiere angefasst werden? Dann in jedem Fall Hände weg vom Angebot.
- Wie gross ist der CO2-Fussabdruck? Die Reise mit dem Flugzeug trägt am meisten zur Klimaerwärmung bei, was auch die Artenvielfalt gefährdet.
- Was kann man mitnehmen? Informieren Sie sich vor der Reise, zum Beispiel über die WWF-Einkaufsratgeber-App, über verbotene und erlaubte Souvenirs.