Motzen
In seiner Kolumne bewertet Beobachter-Kolumnist und Komiker Patrick «Karpi» Karpiczenko alles Mögliche mit bis zu fünf Sternen. Diesmal: Motzen.
Veröffentlicht am 17. Mai 2024 - 15:40 Uhr
Als Binnenland war die Schweiz schon immer vom Ausland abhängig. Gerade was Kunst, Literatur und Musik angeht, haben wir uns stets von fremden Ländern inspirieren lassen. Mani Matter wäre nichts ohne Chansons aus Frankreich, DJ Bobo nichts ohne Sängerinnen aus Amerika und Peach Weber nichts ohne Hemden aus Hawaii.
Kunstformen, die ihren Ursprung komplett in der Schweiz haben, gibt es nur wenige – eine bemerkenswerte Ausnahme bildet der Motz. Der traditionell helvetische Sprechgesang wird allein oder in Gruppen vorgetragen. Für einen gelungenen Motz muss man den Emotionen freien Lauf lassen. Aufgestauter Frust wird abgebaut und dampfförmig freigesetzt. Der Motz folgt dabei keinem klaren Schema und benutzt ein freies Versmass. Formal erinnert er an Poetry-Slam, ist aber um einiges cooler.
Wir können stolz sein
Der öffentliche Motz hat seine Wurzeln im privaten Groll und erfordert weder Vorkenntnisse noch spezielle Fähigkeiten. Seine niedrige Einstiegsschwelle macht den Motz zu einem direktdemokratischen Volksgut. Wir können stolz sein auf unsere hausgemachte Kunstform. Die Amerikaner haben den Rap, wir haben den Motz.
«Im Gegensatz zu anderen reaktionären Kunstformen wie der Oper kommt der Motz nicht in den Genuss von Kulturförderung – was zu noch mehr Motz führt.»
Motzen ist Fasnacht für die Seele. Doch Applaus gibt es dafür nur selten. Im Gegensatz zu anderen reaktionären Kunstformen wie der Oper kommt der Motz nicht in den Genuss von Kulturförderung – was zu noch mehr Motz führt. Ob anonym in den Kommentarspalten oder öffentlich im Zug – Motzen erfreut sich trotz allen Hindernissen grosser Beliebtheit.
Über die Jahre wurde der Motz zum Exportschlager, nicht zuletzt dank der SVP. Rechtspopulisten aus aller Welt bewundern den originalen Schweizer Motz und nehmen ihn zum Vorbild für ihre eigenen Tiraden.
Ein essenzieller Akt der Psychohygiene
Persönlich kann ich mit dem Motz wenig anfangen, bevorzuge eher seinen eleganteren Artgenossen, den Spott. Doch als Zuhörer geniesse ich es, wenn ich zufällig in den Genuss eines Freestyle-Motzes komme. Wie gestern im Tram, als sich ein älterer Herr in mein Abteil setzte und mir 20 Minuten lang was vormotzte. Ich musste dann leider aussteigen, drückte ihm aber noch einen Fünfliber in die Hand – was ihm dann erst mal die Sprache verschlagen hat.
Jodeln soll bald Unesco-Weltkulturerbe werden. Dabei ist der Motz viel wichtiger. Er ist das Ventil, das die Schweiz vor dem Bersten bewahrt. Motzen ist ein essenzieller Akt unserer Psychohygiene – und sollte als solcher gewürdigt werden.
Meine Bewertung fürs Motzen: ★★★★☆