Feierabend, eine Runde Sport, dann nach Hause – so hat sich Simone Griesser ihren Abend vorgestellt. Als sie am Bahnhof Zug ankommt und ihre Wertsachen im SBB-Schliessfach verstauen will, ahnt sie nicht, dass es anders kommen wird.

Zunächst ein ganz normaler Abend ...

Jeden Dienstagabend fährt die Forscherin von ihrem Arbeitsplatz in Luzern nach Zug, wo sie mit einer Renngruppe trainiert. Laptop, Portemonnaie und Wohnungsschlüssel werden am Bahnhof eingeschlossen.

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Doch dieses Mal stellt sich der Schliessfach-Automat quer, die Quittung mit QR-Code kommt nicht richtig heraus. Griesser meldet die Störung, ein Mitarbeiter schliesst das Fach wieder auf und drückt ihre Sachen ins Nachbarfach. Problem gelöst!

... mit böser Überraschung

Dass die Sache damit noch längst nicht erledigt ist, zeigt sich erst nach dem Training. Vier Stunden später kehrt Griesser an den Bahnhof Zug zurück, bereit für den Heimweg Richtung Zürich. Doch die SBB spielen nicht mit: «Als ich bei den Fächern ankam, stand auf dem Screen nur fett ‹Wartung›. Ich war allein.»

«Es war saukalt draussen, ohne Schlüssel konnte ich nicht nach Hause.»

Simone Griesser

Für 80 Rappen pro Minute ruft Griesser bei der Notfall-Hotline der SBB an. «Nach 22 Uhr können wir leider niemanden mehr schicken», heisst es von der anderen Seite der Leitung.

«Ich wusste nicht, was ich machen soll, es war saukalt draussen, und ohne Wohnungsschlüssel konnte ich nicht nach Hause», erzählt sie. «Ich fragte mich: Wo schläfst du jetzt?»

Griesser kündigt an, sich bei der Polizei melden zu wollen, wenn die SBB nicht helfen, doch die Mitarbeiterin bleibt dabei: Es sei niemand da, der helfen könne. In unter zwei Minuten ist das Telefonat vorbei.

Für die Polizei nicht schlimm genug

Mit dem Anruf bei der Polizei kommt sie genauso wenig weiter: Bahnhöfe der SBB und damit auch die dortigen Schliessfächer seien Privateigentum – ein Aufbrechen des Faches sei nur dann möglich, wenn «Leib und Leben» bedroht seien. Das bestätigt man gegenüber dem Beobachter.

«Es war zu dem Zeitpunkt schon nach elf Uhr.»

Simone Griesser

Ob sie keine Familie in der Nähe habe, wo sie bleiben könne, wird von der Polizeistelle gefragt. Als Griesser dies verneint, wird ihr vorgeschlagen, in ein Hotel zu gehen und der SBB die Rechnung zu senden. Also versucht Griesser es nochmals bei der SBB – und wird nochmals zurückgewiesen: Auch keine Hotel- oder Herbergenplätze könnten gebucht werden. 

Mittlerweile ist es bereits nach elf Uhr nachts. «Zu meinen Eltern hätte ich es beispielsweise nie rechtzeitig geschafft, sie wohnen in Andelfingen.» Der letzte Zug nach Andelfingen fährt unter der Woche um 23.04 Uhr.
 

«Es gibt kein Hotel in der Schweiz, das keinen Ausweis verlangt.»

Empfangsmitarbeiterin

Also ab ins nächste Hotel? Auch das geht nicht. Das Gesetz verlangt beim Einchecken eine Ausweiskontrolle. «Vielleicht hätte sich irgendwo doch jemand erbarmt, aber ich wollte nicht riskieren, von Unterkunft zu Unterkunft rennen zu müssen.» Griesser weiss nicht mehr weiter.

Ein Nachbohren beim nächstgelegenen Hotel in Zug ergibt, dass diese Befürchtung berechtigt war: «Es gibt kein Hotel hier in der Schweiz, das keinen Ausweis verlangt», erklärt eine Empfangsmitarbeiterin gegenüber dem Beobachter.

Ex-Freund ist noch wach – und erbarmt sich

«Ich war im Survival-Modus», erzählt Griesser. Schliesslich fällt ihr die letzte Option ein: der Ex-Partner, der in der Nähe des Bahnhofs wohnt. «Wenn die Alternativen ein Strassenbänkli oder die Polizeistation sind, dann ist der Ex-Freund noch die beste Option.»

Und tatsächlich: Er nimmt das Telefon ab, Griesser darf auf dem Sofa übernachten – dankbar, aber mit viel Unmut und Ärger im Bauch.

Bei der Rückkehr zum Bahnhof folgt am Mittwochmorgen der nächste Schreck: Alle Schliessfächer sind leer. Am Infoschalter erhält Griesser ihre Sachen zurück, die Fächer konnten unterdessen geöffnet werden. Der Schaltermitarbeiter zeigt sich verständnisvoll.

Normalerweise sollte der Notfalldienst kommen

Dass hier vieles schiefgelaufen ist, geben die SBB zu. «Rückblickend ist es im Gespräch zwischen Frau Griesser und dem Kundenservice wohl zu Missverständnissen gekommen», sagt Mediensprecherin Fabienne Thommen zum Beobachter.

Wenn sich ein Schliessfach ausserhalb der Öffnungszeiten des Reisecenters nicht öffnen lasse, sei eigentlich das Einschreiten des Notfalldienstes vorgesehen. Der Kundenservice informiere dann die Transsicura, die das Schliessfach öffnet. «Wieso das im Fall von Frau Griesser nicht funktioniert hat, können wir leider nicht nachvollziehen.»

«Was wäre gewesen, wenn ich keinen Schlafplatz gefunden hätte?»

Simone Griesser

Für das nächtliche Kästli-Chaos hat Frau Griesser inzwischen eine Entschädigung von 150 Franken erhalten. Die SBB haben sich entschuldigt.

Trotzdem: «Die Geschichte klingt vielleicht witzig. Aber was wäre gewesen, wenn ich keinen Schlafplatz gefunden hätte?»

Quellen
  • Regelung bezüglich Meldepflicht für ausländische Hotelgäste
  • Einwand Hotelleriesuisse: «Meldescheine: Bürokratieabbau durch Digitalisierung»
  • Stellungnahme SBB durch Mediensprecherin Fabienne Thommen
  • Nachfrage bei der Kantonspolizei Zug
  • Nachfrage bei lokalem Hotel in Zug (anonymisiert)