Wo Männer mit Piraten spielen
Erst bemalen sie liebevoll ihre Spielfiguren, danach fordern sie damit ihre Gegner heraus: Die Tabletop-Spieler von Lütisburg.
Veröffentlicht am 20. März 2023 - 15:28 Uhr
Der Saal hat den Charme einer Mehrzweckhalle: kaum beheizt, kaum dekoriert, wenig Tageslicht. Im Raum stehen Tische, sie bilden fünf Inseln, daran je zwei Männer. Sie sagen seltsame Sätze wie «Ich rufe den mystischen Chor an und beschwöre Käpt’n Zombie» oder «Meine Amazone lädt nach und schiesst ihren zweiten Pfeil». Danach würfeln sie und ziehen Karten von einem Stapel.
So trägt es sich zu im St. Galler Quartier Winkeln. Klar ist: Hier wird gezockt. Auf den Tischen erheben sich Landschaften aus Styroporhügeln, Kartonruinen, Papierfelsen. Darin versteckt sind kleine Figürchen: Kriegerinnen, Magier, Clowns, Roboter, Panzer, Soldaten. Die Sache scheint komplex zu sein. Immer mal wieder blättert einer stirnrunzelnd in einem dicken Heft. Was geht hier ab?
Nur eine Frau ist dabei
Die Suche nach Antworten beginnt in Lütisburg SG, in der ehemaligen Poststelle. Dort lebt Simon Künzle, der Mann mit der Amazone. Der dreifache Familienvater ist Präsident der Knights of the Table, dem St. Galler Verein der Tabletop-Spieler. Die männliche Form ist kein Zufall: Gerade mal eine einzige Frau macht im Verein mit.
Eigentlich erstaunlich, denn am meisten Zeit verbringen Tabletop-Spieler mit einer Tätigkeit, die dem Klischee nach als feminin gilt: Sie bemalen ihre Spielfiguren. Die sind meistens aus Zinn oder Plastik und werden komplett roh geliefert.
Künzle ist ein umtriebiger Typ. Problemlos erklärt er die Spielregeln, braut nebenher einen Kaffee und biegt den Pfeil der Spielzeug-Armbrust von Töchterchen Lenya zurecht. Sein Redefluss wird zum reissenden Strom.
Aber wenn er abends im Hobbykeller seinen Mini-Amazonen mit einem ultradünnen Pinsel Pupillen in die Äuglein malt und Schicht für Schicht aufträgt, bis das rote Mäntelchen perfekt schimmert, dann vergesse er alles um sich herum. «Das ist mein kreativer Ausgleich. Nichts fährt mich besser herunter», sagt der IT-Projektleiter.Er setzt sich nach Feierabend jeweils ein, zwei Stunden an den Maltisch mit Hunderten Farbfläschchen, Spraydosen, Pinseln. An den Wänden kleben Bilder von Figuren – zur Inspiration. Auch oben im Erdgeschoss, wo seine Eltern früher als Posthalter Couverts stempelten, hat Künzles Passion Spuren hinterlassen. Dort stehen mehrere Vitrinen voller Tabletop-Miniaturen. Ganze Legionen von Orks, Halblingen, Rittern und Piraten.
«Man entwickelt eine Bindung zu den Figuren, die man bemalt hat.»
Simon Künzle, IT-Projektleiter
Was sich in knapp 30 Jahren so ansammelt. Weggeben komme für ihn nicht in Frage, sagt Künzle. «Wenn man so viele Stunden an einer Figur arbeitet, entwickelt man schon eine Art Bindung.»
Die Miniaturen leben
Also, was ist nun dieses Tabletop genau? «Grundsätzlich ist es wie Schach. Zwei Spieler treten mit ihren Figuren gegeneinander an», sagt Künzle. Man verfolge je nach Spiel aber unterschiedliche Ziele. Zum Beispiel alle gegnerischen Figuren zu eliminieren oder als Erster alle Figuren in die Mitte zu bewegen. «In einem Spiel muss man eine Sau einfangen und in den Stall bringen.»
All dies geschieht rundenbasiert. Zuerst werden die Figuren bewegt, dann folgen Aktionen wie Schiessen, Zaubern, mit der Umgebung interagieren. Was eine Figur kann, ist im Regelwerk festgelegt. Im Fall des bekanntesten Tabletop-Spiels «Warhammer 40.000» umfasst es schlappe 368 Seiten.
Am Ende entscheidet aber immer der Zufall, ob ein Spielzug erfolgreich ist. «Ein unglücklicher Würfelwurf, und es kann sein, dass meine Amazonen den Angriff verpatzen und ins Leere rennen.»
Plötzlich ist klar, was dieses Spiel besonders macht: Diese Figuren sind nicht einfach Töggel. Sie leben. Woher sie kommen, was sie antreibt, wie sie ticken – all das steht im Regelwerk. Manche Spiele handeln in einer Fantasywelt, andere in einer Science-Fiction-Zukunft. Es gibt Imitationen historischer Schlachten, aber auch eine American-Football- und sogar eine Piratenvariante.
Künzle hat keine besonderen Vorlieben. Bei ihm zu Hause stapeln sich Tabletop-Sets, Geschichtsbücher, Fantasyromane oder Abhandlungen über Kriegsführung bis unter die Decke. An den wenigen freien Wänden hängen antike Säbel, Hellebarden, Flinten und Pistolen, die er an Flohmärkten und in Brockis aufgegabelt hat – «weil sie zum Ambiente passen».
In eine andere Welt eintauchen – das ist, was die meisten beim Tabletop suchen. Jedenfalls, wenn man jene fragt, die sich einmal pro Monat in St. Gallen-Winkeln treffen. Die kuriose Kombination aus Basteln, Strategie-, Rollen- und Glücksspiel zieht ganz unterschiedliche Leute an.Der Blockflötenbauer spielt gegen den Unternehmensberater, der Maschineningenieur gegen den Geschichtslehrer, der Vater gegen den Sohn. Einer ist als Zuschauer hier: Er hat sich eine Warhammer-Truppe angeschafft und holt sich Tipps fürs Bemalen. Und er lernt die Regeln – mit Karteikärtchen.
Am Tisch nebenan spielen zwei den D-Day in der Normandie nach. Sie nehmen regelmässig an Turnieren teil. Dort gibt es auch Punkte für Fairplay und die schönste Armee. Den beiden geht es aber um etwas anderes: «Wir kommen so an Orte, die wir sonst nie besucht hätten.» Salamanca, Zagreb, Cardiff.
Harlekine gegen Roboter
Neu ist Tabletop nicht. Die Ursprünge gehen zurück auf die Zinnsoldaten, mit denen preussische Offiziere Feldzüge trainierten. Momentan ziehe die Nachfrage «gefühlt» an, sagen Jens und Christine Pommerening. Sie führen in St. Gallen einen Tabletop-Spieleladen. In der Corona-Zeit hätten viele das Spielen allgemein wiederentdeckt, sagen sie. «Und Miniaturen malen ist fast wie Achtsamkeitstraining, was ja auch im Trend liegt.»
Und was ist mit der einzigen Frau im Verein? Sie tritt mit filigranen Harlekinen gegen die massive Roboter-Kampftruppe ihres Mannes an. Die Lage ist hoffnungslos. Sie trägt es mit Fassung, auch dass sie in einer Männerrunde gelandet ist. «Das macht mir nichts aus. Mir gefällt beim Tabletop vor allem der künstlerische Aspekt.»
Ihre Figuren müssen nur schön sein, nicht schlagkräftig. Ihre Harlekine tragen Umhänge mit freihändig aufgemalten Totenköpfchen. Und so bestätigt sich das Vorurteil, dass «Möölele» etwas für Frauen sei, am Ende doch noch.