Der Beobachter kürt den schludrigsten Strafbefehl des Jahres
Der erstmals verliehene Negativpreis «Fehlbefehl des Jahres» geht an die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis.
Veröffentlicht am 26. Januar 2023 - 14:50 Uhr
Der Empfang war so frostig wie der Tag. Die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis in Dietikon ZH weigerte sich am 26. Januar, den Negativpreis für den Fehlbefehl des Jahres entgegenzunehmen. Beobachter-Chefredaktor Dominique Strebel konnte den Pokal nicht persönlich übergeben. Gratuliert hat der Beobachter trotzdem – mit einem Plakat, das von den Büros der Staatsanwaltschaft aus zwei Wochen lang gut sichtbar ist.
Die Aktion begann mit der Geschichte eines Mannes, der 75 Tage lang in einem Basler Gefängnis sass , ohne dass ihm jemand gesagt hatte, warum. Ein Urteil hatte er nie gesehen, er hätte es auch nicht verstanden. Der Algerier spricht kaum Deutsch – das Urteil in Form eines Strafbefehls war nicht übersetzt.
Was viele nicht wissen: 92 Prozent der Verurteilungen werden per Strafbefehl gefällt. Anders als in einem ordentlichen Gerichtsverfahren ermitteln hier die Staatsanwaltschaften, erheben Anklage und fällen gleich noch den Entscheid. Mit diesen schnellen Strafbefehlsverfahren will man die chronisch überlasteten Gerichte entlasten. Dabei werden aber wichtige rechtsstaatliche Prinzipien und Kontrollmechanismen ausgehöhlt.
Strafbefehle seien bloss Urteilsvorschläge, sagen Staatsanwaltschaften. Man könne dagegen Einsprache erheben. Dann prüfe ein ordentliches Gericht. Aber: Für Einsprachen bleiben gerade mal zehn Tage Zeit. Dann wird aus dem Strafbefehl ein rechtskräftiges Urteil.
Kaum Untersuchungen zur Praxis mit Strafbefehlen
Trotz ihrer immensen Bedeutung wurde bisher kaum untersucht, wie seriös Strafbefehlsverfahren in der Praxis funktionieren. Selbst an simple Statistiken kommt man nicht oder nur sehr schwer heran – zum Beispiel zur Frage, wie oft Einsprache erhoben wird und wie viele Strafbefehle korrigiert werden müssen. Systematisch untersucht hat das Thema bisher nur der Strafrechtsprofessor Marc Thommen von der Universität Zürich mit seinem Team.
Das vorläufige Ergebnis der Analyse von rund 3000 Dossiers: Ausländische Beschuldigte werden überproportional häufig mit Gefängnis bestraft. Fast die Hälfte der Strafbefehle wird nicht übersetzt, auch wenn die Beschuldigten die Sprache des Gerichts nicht verstehen. Jeder zehnte Strafbefehl wird fiktiv zugestellt. Fiktiv heisst: Er gilt «auch ohne Veröffentlichung als zugestellt», wenn er nicht persönlich oder per Post gegen Unterschrift übergeben werden kann. Allerdings nur, wenn alles Zumutbare unternommen wurde, um ihn zuzustellen.
Bisher gab es noch keinen Fall vor Bundesgericht, bei dem die Bemühungen der Staatsanwaltschaft als hinreichend bezeichnet wurden. Die Folge dieser fiktiven Zustellungen: Es sitzen Menschen in Schweizer Gefängnissen, die – wie der Algerier im Basler Gefängnis Bässlergut – ihr Urteil nicht kennen.
Die Jury hat entschieden
Mit Ausnahme des Beobachters thematisieren Medien nur selten die Problematik. Um verstärkt auf diesen systematischen und grundlegenden Missstand aufmerksam zu machen, hat der Beobachter gemeinsam mit dem Verein Entscheidsuche.ch den Negativpreis «Fehlbefehl des Jahres» ins Leben gerufen.
Eine kompetente Jury kürt den stossendsten Strafbefehl, der dem Beobachter gemeldet wurde. Dabei sind: Monika Simmler, Assistenzprofessorin für Strafrecht an der Uni St. Gallen, Angelina Grossenbacher, Anwältin im Kanton Bern, und David Eschle, der bei Strafrechtsprofessor Thommen eine Dissertation zum Thema schreibt.
Die Jury hat entschieden: Der Fehlbefehl 2023 geht an die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis.
Das ist passiert: Ein Afghane wurde verhaftet, weil er sich angeblich auf Zürcher Stadtgebiet aufgehalten hatte, was ihm untersagt war. Er wurde – nach zwei Tagen Polizeihaft – zu einer bedingten Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 30 Franken plus 500 Franken Busse verurteilt. Auch die Verfahrenskosten von 800 Franken wurden ihm auferlegt.
Sein Anwalt – der Kontakt kam nur per Zufall zustande – überprüfte die angegebenen Koordinaten und stellte fest: Der Afghane hatte sich nicht auf dem für ihn verbotenen Gebiet befunden. Er hatte das bei seiner Verhaftung den Polizisten zu erklären versucht; sein Einwand wurde aber weder von der Polizei noch von der Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis geprüft. Nach der Intervention des Anwalts wurde der Strafbefehl aufgehoben und das Strafverfahren eingestellt. Der Afghane erhielt Fr. 507.90 Entschädigung.
Den Strafbefehl können Sie hier herunterladen.
Der Fall zeige auf erschreckende Art und Weise, dass der Rechtsstaat offenbar keine Hemmungen habe, Menschen ohne genauere Abklärungen ins Gefängnis zu stecken , begründet die Jury. Man schaue «einfach mal, was passiert» und ob sich der Beschuldigte wehrt. Solche Strafbefehle hätten den Charakter von Versuchsballonen.
Dass trotz mangelnder Abklärung geurteilt werde, komme in der Praxis leider sehr häufig vor, so die Jury weiter. Dieses Vorgehen treffe vor allem sozial schwächere und ausländische Personen, die das Schweizer Rechtssystem nicht kennen oder der Sprache des Gerichts nicht mächtig seien. Sie könnten sich schlechter gegen Fehlurteile wehren und würden zu Unrecht kriminalisiert oder gar ihrer Freiheit beraubt.
Staatsanwaltschaft spricht von Fehlern, die passieren können
Die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis wollte den Preis nicht entgegennehmen. Die Medienstelle der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft schreibt: Der Beobachter und die Jury würden einen «menschlichen Fehler zu einem systematischen Missstand hochstilisieren». Bei jährlich rund 14’000 ausgestellten Strafbefehlen könne nicht ausgeschlossen werden, dass es in Ausnahmefällen zu Fehlern komme.
Die Staatsanwaltschaft und ihre Mitarbeitenden seien stets bemüht, alle Fälle rechtsstaatlich korrekt und effizient zu bearbeiten und aus Fehlern zu lernen. Zudem sei sie in ihrem Handeln an die einschlägigen, von der Politik vorgegebenen Gesetze und insbesondere an die Strafprozessordnung gebunden.
Beobachter-Chefredaktor Dominique Strebel sagt: «Wir gratulieren der Staatsanwaltschaft zu dieser Fehlleistung, die zentrale strukturelle Schwächen des heutigen Strafbefehlverfahrens aufzeigt: fehlende Abklärungen, fehlende Qualitätskontrollen, fehlende Einvernahmen. Das begünstigt Fehlentscheide.»
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4 Kommentare
in zwei Fällen in meiner Familie haben wir Akteneinsicht verlangt. beide Staatsanwälte waren zu einem Gespräch und Einsicht in die Akten bereit. Es zeigte sich in beiden Fällen rasch, dass keine oder nur wenig schlüssige Beweise vorhanden waren und die Verurteilungen nur auf Grund von Polizeiakten (ohne Einvernahme des Beschuldigten) erfolgten. vom einen Fall haben wir nie mehr etwas gehört, beim zweiten wurde die Strafe auf einen Viertel reduziert.
Typisches Verhalten aller unserer Behörden. Auf keinen Fall einen Fehler zugeben, nie Verantwortung übernehmen, abwimmeln und unter den Teppich kehren ist angesagt. Charakter und Rückgrat sehen anders aus. Machtmissbrauch ist das richtige Wort, er breitet sich immer mehr aus, und niemand gebietet ihm Einhalt, weil die Täter in den Amtsstuben alle im selben Filz verwoben sind.
"Die Staatsanwaltschaft und ihre Mitarbeitenden seien stets bemüht..."
Sie bemühten sich stets, den Anforderungen gerecht zu werden.
Heißt übersetzt: Erfolg war kaum vorhanden.
Liebe Beobachter-Redaktion,
Vielen Dank, dass Ihr diese Missstände publik macht. Ich habe selbst schon Erfahrungen mit diesen Staatsanwälten, die auch noch Richter spielen dürfen, gemacht. Das sind keine Einzelfehler mehr, die da passieren. Man muss hier schon von eklatanten Missständen, wenn nicht gar von systematischer Rechtsbeugung und von Machtmissbrauch sprechen.
Ich möchte an dieser Stelle nur zwei Aussagen der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft kommentieren:
1. "Die Staatsanwaltschaft und ihre Mitarbeitenden seien stets bemüht, [...] aus Fehlern zu lernen." - Wenn das stimmen würde, dann würden sie sich um Aufarbeitung dieses Falles bemühen statt nach Ausreden zu suchen.
2. "Zudem sei sie in ihrem Handeln an die einschlägigen, von der Politik vorgegebenen Gesetze und insbesondere an die Strafprozessordnung gebunden." - Auch das stimmt nicht. Nach Art. 52 StGB können Staatsanwaltschaften das Verfahren jederzeit einstellen, wenn Schuld und Tatfolgen gering sind. Beide Voraussetzungen waren in diesem Fall gegeben. Niemand hat die Limmattaler Staatsanwaltschaft "mit dem Gewehr an der Schläfe" gezwungen, den Strafbefehl an den Afghanen auszustellen. Die Verurteilung erfolgte, weil es die Staatsanwaltschaft so wollte und nicht weil es das Gesetz vorschreibt. Der Zwang, sich an vorgegebene Gesetze zu halten, ist die Schutzbehauptung einer Behörde, die keine Verantwortung für ihr Handeln übernehmen will.