Polizei, Strafverfolgungsbehörden, Gutachter und Therapeuten hätten «nicht alles getan», um die Gefahr für das Leben des späteren Gewaltopfers abzuwenden. Und folglich eine reale Chance vergeben, «den Verlauf der Ereignisse zu ändern».

Das schrieb am 3. April der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seinem aufsehenerregenden Urteil zum Verfahren «Nicole Dill gegen die Schweiz». Die Schweiz wurde schuldig gesprochen, Artikel 2 der Menschenrechtskonvention verletzt zu haben. Dieser schützt das Recht auf Leben.

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Die Tat hätte sich verhindern lassen

Für die heute 55-jährige Nicole Dill heisst das: Die Tortur, die 2007 ihr Leben veränderte, hätte sich verhindern lassen. Damals war die Luzernerin von ihrem Lebenspartner stundenlang gequält und beinahe getötet worden. Der Mann war ein verurteilter Mörder, von dem eine grosse Rückfallgefahr ausging.

Dill ahnte davon nichts – sehr wohl aber ein Netz von Personen, die mit dem Täter zu tun hatten. Doch sie versteckten sich hinter Datenschutz und Amtsgeheimnis, statt die Frau zu warnen. Das Kantonsgericht Luzern und später auch das Bundesgericht sahen darin jedoch kein Fehlverhalten.

Der Kanton Luzern schuf als Folge der Tat immerhin eine neue Gesetzesgrundlage. Diese erleichtert es der Polizei, potenzielle Gewaltopfer über eine unmittelbar drohende Gefahr zu informieren.

Was löst das Urteil aus?

Nun hat die höchste europäische Instanz für Menschenrechtsverletzungen die Sichtweise der Schweizer Gerichte korrigiert. Was kann das EGMR-Urteil in Bezug auf den Opferschutz in der Schweiz bewirken?

Verbindliche Aussagen dazu sind noch nicht möglich, dazu ist der Entscheid noch zu frisch. Deshalb hat der Beobachter drei Direktbeteiligte des jahrelangen Verfahrens nach ihren persönlichen Einschätzungen und Erwartungen befragt: Nicole Dill selbst als Opfer der Gewalttat und Klägerin, dazu ihren Rechtsanwalt Atilay Ileri sowie Martin Killias, der als früherer Staatsrechtsprofessor ein Gutachten zu den Vorgängen rund um die Tat verfasst hatte.

Klägerin Nicole Dill über …

… ihre unmittelbaren Gedanken nach dem Urteilsspruch: «Jahrelang hatte ich gehofft, dass mir nicht weiterhin Unrecht im Recht getan wird. Darum spürte ich im ersten Moment einfach eine riesige Freude und Erleichterung: Endlich erhielt ich als überlebendes Opfer die Würdigung im Rechtsverfahren, die mir schon seit Jahren hätte zustehen müssen.»

… den Fakt, dass ein europäisches Gericht die schweizerischen Gerichte korrigierte: «Ich finde es ein Armutszeugnis, dass ich in der Schweiz, die immer so perfekt dastehen möchte, förmlich zu diesem Weg nach Strassburg gezwungen wurde, um Gerechtigkeit zu erleben. Mit den abgeschmetterten Urteilen hat mich die Schweizer Justiz jedes Mal erneut zum Opfer gemacht. Das zu erleben, war prägend und grausam.»

… Konsequenzen aus dem Urteil des EGMR: «Die Schweiz darf dieses Urteil nicht ignorieren. Die allgemeine Erwartungshaltung, dass es griffigere Gesetze und Regeln für den Schutz der Bevölkerung braucht – und dass diese Regeln auch durchgesetzt werden –, ist jetzt hoch. Dazu braucht es vor allem sensibilisierte Polizisten, da diese meist zuerst involviert sind, wenn es um den Schutz einer gefährdeten Person geht. Die Botschaft, die der Gerichtshof in die Schweiz geschickt hat, ist für mich eindeutig: Es kann nicht sein, dass der Täterschutz über das Leben eines möglichen Opfers gestellt wird.»

Dills Anwalt Atilay Ileri über …

… seine Vorahnung, dass die Klage vor dem Europäischen Gerichtshof erfolgreich sein würde: «Bei mir gilt der Grundsatz, dass vor Gott und Gerichten alles möglich ist. Trotzdem war ich davon überzeugt, dass wir gewinnen werden. Denn ich habe vor der Einleitung der Beschwerde an den EGMR fast alle vergleichbaren Urteile dieses Gerichts gelesen. Seine konsequente Rechtsprechung hat mich in meiner Überzeugung bestärkt.»

… die Konsequenzen aus dem Urteil: «Punkto Gesetzgebung wird es wohl keine Änderung bewirken. Allerdings wird das Urteil die Strafverfolgungsbehörden sensibilisieren. So darf in den Kantonen die deliktorientierte Psychotherapie bei Schwerverbrechern, insbesondere bei Sexualtätern, nicht länger dem Wunsch des Täters überlassen werden. Man muss die Therapie mit allem wissenschaftlichen Ernst durchführen und Massnahmen daraus treffen. Und auch bei Desinteresse des Täters muss daran festgehalten werden. Es war die grösste Sünde der Luzerner Behörden, die Psychotherapie völlig vernachlässigt zu haben.»

Gutachter Martin Killias über …

… sein grösstes Ärgernis: «Mich hat schockiert, wie uneinsichtig sich Behörden und Gerichte im ganzen Verfahren anstellten. Alle wussten, dass es in diesem Fall nicht richtig gelaufen war, und dennoch wurde gemauert. Es wäre wünschbar, dass Behörden schneller bereit sind, bei offensichtlichen Fehlentwicklungen über ihren Schatten zu springen und mit Lösungsvorschlägen auf die Gegenseite zuzugehen.»

… die Konsequenzen aus dem Urteil: «Es gibt Anlass, einige Dinge neu zu denken. So hat man in den letzten zehn Jahren aus dem Datenschutz eine heilige Kuh gemacht. Alle anderen Prinzipien gelten nie absolut, es gibt stets eine Interessenabwägung. Aber der Datenschutz wird stur durchgezogen, auch wenn er – wie in diesem Fall beinahe – tödliche Konsequenzen haben kann.»

Quellen