Eine verhängnisvolle Silvesternacht
Eine 21-Jährige feiert eine wilde Silvesternacht 1953 auf 1954 in Bern. Die Sache hat Folgen und geht bis vors Bundesgericht. Dem sind die Berner Instanzen zu freizügig.
Veröffentlicht am 31. Dezember 2024 - 11:30 Uhr
Drei Liebhaber innert eines halben Jahres: Es hätte die Zeit des Lebens der 21-jährigen Bernerin Marie Albrecht werden können.
Ab August 1953 ist sie mit Stefan zusammen. Die Silvesternacht feiert sie mit Verwandten und Bekannten im Kursaal Bern. Die Nacht verbringt sie mit Martin, in der Mansarde der Familie. Und Anfang Januar 1954 lädt Norbert Marie auf einen Ausflug mit dem Auto ein. Es kommt auch da zum Liebesakt.
Wer ist der Vater des Babys?
Knapp neun Monate später bekommt Marie, deren Namen wir – wie alle in diesem Text – geändert haben, ein Kind. Stefan soll der Vater sein. Im Verfahren um die Vaterschaft wehrt er sich mit dem Argument, Marie soll «Mehrverkehr» gehabt haben, wie das damals genannt wurde.
Doch sie bestreitet, auch mit Martin und Norbert «geschlechtlich verkehrt» zu haben. Als Zeugen ruft sie ihren Vater, ihren Bruder und seine Ehefrau auf. Alle bestätigen: Marie übernachtete in der Silvesternacht nicht in der Mansarde, sondern in der Wohnung der Familie.
Auch Norbert, der – obwohl verheiratet – mit Marie den prickelnden Autoausflug machte, gibt zu Protokoll, nie intim geworden zu sein mit Marie. Stefan gibt nach und verpflichtet sich, Marie und das Kind finanziell zu unterstützen.
Anzeige wegen falschen Zeugnisses
Doch er lässt die Sache nicht auf sich sitzen und reicht Strafanzeige ein: wegen falschen Zeugnisses. Alle Zeuginnen und Zeugen geben zu, gelogen zu haben. Marie habe sie dazu überredet. Sie machen aber geltend, sie seien nicht über das Zeugnisverweigerungsrecht belehrt worden. Ihre Aussagen seien daher ungültig gewesen – und sie seien nicht strafbar.
Gemäss der in den 1950er-Jahren gültigen bernischen Zivilprozessordnung durfte man über Tatsachen die Aussage verweigern, die «die Ehre berühren». Das gilt auch für Verwandte und Verschwägerte, die als Zeugen aussagen müssen. Heute spielt die Ehre keine Rolle mehr.
Alle werden verurteilt
Das Strafamtsgericht Bern verurteilt alle Zeuginnen und Zeugen wegen falschen Zeugnisses und Marie wegen Anstiftung zu bedingten Gefängnisstrafen.
Das Obergericht des Kantons Bern bestätigt das Urteil. Es sei nicht ehrenrührig, dass Marie die Silvesternacht mit Martin in der Mansarde verbracht habe, schreibt das Obergericht.
Die Verwandtschaft durfte die Aussage also nicht verweigern, und das falsche Zeugnis ist gültig. Norbert als verheirateter Mann hätte zwar nicht aussagen müssen, weil Ehebruch strafbar ist. Das habe er aber gewusst, darum sei auch seine Falschaussage gültig und strafbar.
Und es ist doch ehrenrührig
Das sieht das Bundesgericht anders: Die Frage nach Geschlechtsverkehr berührt die Ehre, fand das oberste Gericht 1960. Marie habe die Aussage verweigern dürfen – und damit hätten auch die Verwandten dies tun dürfen.
Ausserehelicher Geschlechtsverkehr gelte «allgemein als moralisch verwerflich», schreibt das höchste Gericht. Besonders wenn es Frauen betreffe. «Bei der Frau ist nicht nur das Schamgefühl im Allgemeinen feiner und zugleich stärker entwickelt als beim Manne, sondern werden auch aussereheliche Geschlechtsbeziehungen von der Moral schärfer missbilligt.»
Bundesgericht fordert mildere Strafe
Norbert ist schuldig, weil er ja wusste, dass er die Aussage hätte verweigern können, statt zu lügen. Konsequenterweise muss auch Marie dafür bestraft werden, dass sie Norbert dazu überredet hat, nicht die Wahrheit zu sagen. Das Bundesgericht weist das Obergericht aber an, die Strafe zu mildern.
- Bundesgericht, Urteil 86 I 86 vom 16. März 1960