Krankenkasse darf freie Arztwahl einschränken
Das höchste Gericht hat das letzte Wort. Auch bei der Frage, ob die freie Arztwahl in jedem Fall uneingeschränkt gilt.
Veröffentlicht am 11. Juni 2024 - 06:00 Uhr,
aktualisiert am 10. Dezember 2024 - 06:00 Uhr
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Eine 50-jährige Frau schloss bei der Helsana ihre obligatorische Krankenversicherung ab und wählte ein Modell mit freier Arztwahl. Sie leidet unter körperlichen und psychischen Problemen und nahm verschiedene ärztliche Leistungen in Anspruch, die untereinander nicht koordiniert waren.
Die Krankenkasse liess die Frau darauf von einer Psychiaterin begutachten. Diese kam zum Schluss, dass die Frau an komplexen Störungsbildern leide, die eine koordinierte Behandlung nötig machten.
Gestützt darauf, verfügte die Helsana, dass sich die Versicherte – Notfälle und gynäkologische Vorsorgeuntersuchungen ausgenommen – künftig bei einer bewilligten Erstanlaufstelle behandeln oder von dieser an andere Stellen überweisen lassen müsse, damit die Kosten übernommen würden.
Dagegen wehrte sich die Frau bis vor Bundesgericht. Sie berief sich unter anderem auf die freie Arztwahl. Laut Bundesgericht steht diese aber unter dem Vorbehalt der Kriterien Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit.
Im konkreten Fall seien diese Grundsätze durch die unkoordinierten Behandlungen nicht mehr erfüllt gewesen. Deshalb sei das Einsetzen einer Erstanlaufstelle, die ein koordiniertes Vorgehen sicherstelle, mit dem Grundsatz der freien Arztwahl vereinbar. Das Bundesgericht wies die Beschwerde der Versicherten ab.
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Ein Ehepaar im Rentenalter war fast 50 Jahre lang verheiratet. Die Frau hatte ihre Erwerbstätigkeit aufgegeben, um sich um Haushalt und Kinder zu kümmern. 2021 reichte der Mann die Scheidungsklage ein.
Damals wohnte er schon seit ein paar Jahren in Bulgarien, die Frau in der Schweiz. Er verlangte, dass er keinen Unterhalt zahlen müsse. Seine Begründung: Unterhalt sei nur so lange geschuldet, bis der Pflichtige das Pensionsalter erreicht habe. Die Frau hingegen verlangte einen monatlichen Unterhaltsbeitrag von mindestens 814 Franken.
Das Regionalgericht Berner Jura-Seeland sprach der Frau einen monatlichen Unterhalt von 446 Franken zu – lebenslänglich oder bis der Ex-Mann zurück in die Schweiz kommt. Der Mann zog die Sache bis vor Bundesgericht und machte geltend, dass im Rentenalter kein Anspruch auf lebenslangen Unterhalt bestehe.
Das Bundesgericht liess ihn abblitzen. Die Rechtsprechung, wonach die Unterhaltspflicht längstens bis zur ordentlichen Pensionierung des Pflichtigen dauere, betreffe Konstellationen, in denen die Parteien das Rentenalter noch nicht erreicht hätten.
Hier aber seien beide längst im Pensionsalter, und es ergebe angesichts des fortgeschrittenen Alters von 83 und 77 Jahren auch keinen Sinn, die Unterhaltspflicht zeitlich zu begrenzen.
Bundesgericht, Urteil vom 7. August 2024 (5A_987/2023)
(Julia Gubler)
1993 liess sich ein gut betuchtes Ehepaar scheiden. Das Bezirksgericht Meilen ZH genehmigte die Scheidungsvereinbarung, in der sich der Mann zu Unterhaltszahlungen von 12'000 Franken monatlich an die ehemalige Gattin verpflichtete. In der Vereinbarung stand zudem, die Unterhaltspflicht sei passiv vererblich.
Der Geschiedene heiratete eine andere Frau und verstarb im Jahr 2022. Seine Ehefrau stoppte als Alleinerbin die Unterhaltszahlungen an die Ex-Frau. Diese wollte aber weiterhin ihr Geld und betrieb die Witwe.
Ihr Argument: Die Ehefrau habe nicht nur das Vermögen des Verstorbenen geerbt, sondern auch die Pflicht, ihr Unterhalt zu zahlen.
Dagegen wehrte sich die Witwe bis vor Bundesgericht. Sie verlangte, dass die Klausel in der Scheidungsvereinbarung für ungültig erklärt werde.
Doch auch der Gang vor Bundesgericht blieb erfolglos – es gab der Ex-Frau des Verstorbenen recht. Die Rechtslage im Jahr 1993 habe es erlaubt, eine Vererblichkeit der Unterhaltspflicht zu vereinbaren.
Es könne nicht sein, dass diese Abmachung in der Scheidungsvereinbarung nun ungültig sei. Sie sei vielmehr Teil des rechtskräftigen Scheidungsurteils. Wenn die Witwe nicht zahlt, kann die Ex-Frau sie pfänden lassen.
Bundesgericht, Urteil vom 8. März 2024 (4A_636/2023)
(Julia Gubler)
Ein Mann fuhr mit seinem Auto auf einer Nebenstrasse im Kanton Luzern. Hinter ihm ein Motorrad. Der Autofahrer bremste einmal kurz. Und dann ein zweites Mal. Dabei prallte der Töfffahrer in das Auto.
Der Autofahrer kassierte einen Strafbefehl: Er habe ohne triftigen Grund brüsk gebremst – obwohl er gewusst habe, dass ein Töff mit wenig Abstand hinter ihm fuhr. Der Automobilist erhob Einsprache.
Das Bezirksgericht Hochdorf und danach auch das Kantonsgericht Luzern sprachen ihn schuldig wegen mehrfachen brüsken Bremsens. Er wurde bestraft mit einer bedingten Geldstrafe von 22 Tagessätzen zu je 70 Franken bei einer Probezeit von drei Jahren und mit einer Busse von 500 Franken.
Der Mann zog das Urteil weiter ans Bundesgericht. Das erste Mal habe er gebremst, um den Motorradfahrer zu mehr Abstand zu ermahnen. Beim zweiten Mal aber, weil er zur Tankstelle habe abbiegen wollen. Zu heftig gebremst habe er nur deshalb, weil er mit der Bremswirkung seines Autos nicht vertraut gewesen sei.
Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde ab. Nachfolgende Verkehrsteilnehmer zu massregeln, sei nicht erlaubt. Und er hätte beim Abbiegen auf den Verkehr Rücksicht nehmen müssen. Auch die Bremswirkung müsse er gekannt haben.
Brüskes Bremsen und Halten sind nur gestattet, wenn kein Fahrzeug folgt – und im Notfall.
Bundesgericht, Urteil vom 27. August 2024 (7B_822/2023)
(Nicole Müller)
Im Jahr 1995 zog ein Ehepaar in ein Einfamilienhaus mit sechs Zimmern, vermietet von der Stadt Zürich. Nachdem der Mann verstarb, blieb die Frau allein darin.
Im Jahr 2020 erhielt sie ein Formular der Stadt mit den neuen Bestimmungen über die Vermietung städtischer Wohnräume, die ab dem Jahr 2024 gelten würden. Darin geregelt ist auch die Belegung: Die Anzahl der Mietenden darf diejenige der Zimmer um höchstens eins unterschreiten. Die Bestimmungen sollen den bestehenden Mietvertrag ersetzen oder ergänzen.
Dagegen wehrte sich die Frau. Nach erfolglosem Schlichtungsverfahren erhob sie Klage beim Mietgericht Zürich. Die Bestimmungen im Formular seien eine einseitige Vertragsänderung und nichtig oder missbräuchlich. Das Gericht gab ihr recht.
Die Stadt Zürich wehrte sich gegen das Urteil und zog die Sache bis vor Bundesgericht – die einseitige Vertragsänderung sei gültig.
Das Bundesgericht urteilte, dass die Bestimmungen verbindlich seien. Der notorisch knappe Wohnraum in Zürich rechtfertige es, dass Mietverträge nachträglich in diesem Sinne geändert werden könnten. Die Stadt habe ein Interesse daran, das Objekt jemandem zugänglich zu machen, der eine optimalere Belegung des Hauses gewährleiste – etwa einer Familie.
Bundesgericht, Urteil vom 19. August 2024 (4A_82/2024)
(Julia Gubler)
Ein Freiburger zeigte seine Ex-Freundin unter anderem wegen strafbaren Schwangerschaftsabbruchs an. Sie habe das Kind erst nach dem erlaubten Zeitraum der ersten zwölf Wochen abgetrieben.
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergaben, dass sich die Frau nachweislich in einer psychischen Notlage befunden hatte. Damit war die Abtreibung straflos, und die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren ein.
Das akzeptierte der Mann nicht, er zog die Sache weiter. Das Kantonsgericht Freiburg wies ihn aber ab. Er sei nicht berechtigt, in dieser Sache Beschwerde zu führen.
Diesen Entscheid zog der Freiburger vor Bundesgericht. Er argumentierte, er sei als Vater des abgetriebenen Fötus als Opfer anzusehen und damit berechtigt, Beschwerde zu erheben.
Auch das Bundesgericht wies seine Beschwerde ab. Das Verbot von Spätabtreibungen schütze das ungeborene Leben – nicht den Vater.
Das ungeborene Kind erhalte erst eine Persönlichkeit im rechtlichen Sinne, wenn die Geburt vollendet sei. Der Fötus könne deshalb vor der Geburt nicht als «geschädigte Person» gelten. Daraus ergebe sich, dass der Vater auch nicht Opfer-Angehöriger sein könne – und er sei damit nicht berechtigt zur Beschwerde.
Bundesgericht, Urteil vom 26. Juni 2024 (7B_1024/2023)
Wer wegen einer Behinderung seine Ferienwohnung nur eingeschränkt nutzen kann, muss dennoch Kurtaxe zahlen.
Konkret geht es um ein Ehepaar aus dem Kanton Schwyz, das in Davos eine Ferienwohnung besitzt.
Dafür erhebt Davos eine pauschale «Gästetaxe» von jährlich 840 Franken. Gemäss Reglement der Gemeinde berechnet sich diese bei einer 4,5-Zimmer-Wohnung auf fünf Betten und 28 Übernachtungen pro Jahr, das entspricht umgerechnet einer Kurtaxe von rund Fr. 5.90 pro Nacht und Bett.
Das Ehepaar argumentierte, es befänden sich bloss zwei normale Betten und ein Pflegebett in der Wohnung, und aufgrund der Paraplegie der Ehefrau sei die Nutzung des touristischen Angebots sowie der öffentlichen Verkehrsmittel in Davos eingeschränkt. Das verletze das Behindertengleichstellungsgesetz.
Die Gemeinde Davos sowie das Bündner Verwaltungsgericht lehnten die Einsprache des Ehepaars ab – und nun auch das Bundesgericht. Es sei vertretbar und nicht willkürlich, bei einer 4,5-Zimmer-Wohnung von fünf Betten auszugehen.
Zudem sei die Kurtaxe eine sogenannte Kostenanlastungssteuer, die unabhängig vom konkreten Nutzen erhoben werde. Eine gewisse Schematisierung sei zulässig, um die Pauschale festlegen zu können.
Bundesgericht, Urteil vom 6. Juni 2024 (9C_271/2024)
(Martin Müller)
Wer sein Pensionskassengeld ganz oder teilweise als Kapital bezieht, darf drei Jahre vorher keine freiwilligen Einkäufe tätigen, sonst wird der Steuervorteil gestrichen. Diese Sperrfrist gilt aber nicht, wenn man sich nach einer Scheidung wieder einkauft. Diese Ausnahme hat das Bundesgericht jetzt bekräftigt.
Konkret ging es um einen Waadtländer, der 2013 geschieden wurde und seiner Ex-Frau 600'000 Franken Vorsorgegeld mitgeben musste. Dieses Loch in seiner Pensionskasse stopfte er mit acht jährlichen freiwilligen Einzahlungen von 75000 Franken – so lange hatte er Zeit bis zur ordentlichen Pensionierung. Dann bezog er eine Hälfte des Geldes als Kapital.
Für 2020 verweigerte das Waadtländer Steueramt den Steuerabzug für die Einzahlung, weil sie nur einen Monat vor der Pensionierung erfolgte. Das verletze die Drei-Jahres-Sperrfrist, so das Steueramt.
Das Bundesgericht allerdings schützt nun das Vorgehen des Mannes. Die Drei-Jahres-Frist dürfe nicht gelten für Wiedereinkäufe nach einer Scheidung, weil sonst Scheidungen kurz vor der Pensionierung vorsorgemässig nicht mehr ausgeglichen werden könnten. Das widerspräche dem Sinn der Regelung.
Zudem gebe es keinerlei Hinweise darauf, dass der Mann die Einkäufe bloss als Steuerumgehung getätigt habe.
Bundesgericht, Urteil vom 29. Mai 2024 (9C_526/2023)
(Martin Müller)
Ein Schweizer Berufsoffizier war auch als Vorstand bei der Rennorganisation Patrouille des Glaciers tätig. Als die Armee davon erfuhr, fürchtete sie einen Interessenkonflikt und hatte Bedenken, dass das Nebenamt zu zeitintensiv sei.
Auf Wunsch der Armee trat der Mann aus dem Vorstand aus. Später verunglimpfte er die Armee auf LinkedIn. 2021 wurde er arbeitsunfähig, was er bis heute ist. 2022 kündigte die Armee den Arbeitsvertrag. Dagegen wehrte sich der Berufsoffizier. Das Bundesverwaltungsgericht wies seine Beschwerde ab. Er gelangte ans Bundesgericht.
Wer arbeitsunfähig ist, dem darf man erst nach Ablauf einer Sperrfrist kündigen. Das Bundesgericht hält aber fest, dass diese Schutzvorschrift nicht anwendbar ist, wenn die Krankheit derart gering ist, dass sie einem nicht hindert, eine neue Stelle zu finden.
Als Beispiel nennt das Bundesgericht die «arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit»: Wenn man zwar arbeiten kann, nur nicht im Betrieb der derzeitigen Arbeitgeberin – etwa weil man gemobbt wird.
Tatsächlich gab der ehemalige Berufsoffizier an, wegen der Situation am Arbeitsplatz depressiv geworden zu sein. Die Arbeitgeberin hatte sich diesbezüglich aber nichts vorzuwerfen.
Für das Bundesgericht war die Kündigung rechtens – trotz Arbeitsunfähigkeit.
Bundesgericht, Urteil vom 26. März 2024 (1C_595/2023)
(Katharina Siegrist)
Ein Niederländer, der in der Schweiz wohnte, geriet 2019 in eine Polizeikontrolle – am Steuer eines Autos mit niederländischem Kennzeichen. Dieses war aber nicht zollrechtlich angemeldet worden.
Eine Aufforderung, die Zollanmeldung nachzuholen, ignorierte der Mann, und so kam es zu einem Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen das Zollgesetz und zu einer Verfügung, insgesamt knapp 22000 Franken an Zoll, Automobil- und Mehrwertsteuer sowie Verzugszinsen zu zahlen.
Der Mann wehrte sich bis vor das Bundesverwaltungsgericht. Er argumentierte, er habe das Auto vom in den Niederlanden lebenden Bruder geliehen und sei bloss sechs Kilometer damit gefahren. Die Zollforderung sei unverhältnismässig.
Das sah das Gericht anders. Wem das Auto gehöre, sei unerheblich, auch die Dauer der Verwendung spiele keine Rolle. Er hätte vor der Einfuhr um eine Bewilligung ersuchen müssen, um ein im Ausland zugelassenes Auto vorübergehend verwenden zu dürfen. Und es gebe weder gestützt auf internationales noch nationales Recht Anspruch auf Befreiung vom Einfuhrzoll – auch nicht, wenn er gar nichts von der fehlenden Zolldeklaration wusste, weil der Bruder das Auto eingeführt hatte. Ob das Geld eingetrieben werden kann, ist allerdings fraglich: Der Mann wohnt nicht mehr in der Schweiz.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 13. Mai 2024 (A-3628/2021)
(Martin Müller)
Ein Mann hatte zwei Kinder aus einer geschiedenen Ehe und einen ausserehelichen Sohn, geboren 1958. Er vererbte sein ganzes Vermögen seinen beiden ehelich geborenen Kindern und verschiedenen Stiftungen. Der heute 66-jährige Sohn ging leer aus.
Das wollte er nicht zulassen und klagte vor dem Bezirksgericht Baden. Er argumentierte, dass er als leiblicher Sohn Erbe sei und ihm sein Pflichtteil zustehe. Das Bezirksgericht winkte ab, und auch das Obergericht wies seine Berufung ab.
Der Grund: Das Verhältnis zwischen dem Verstorbenen und seinem Sohn war eine altrechtliche Zahlvaterschaft. Das heisst, die Vaterschaftsklage, die vor 1978 erhoben wurde, verpflichtete den Erblasser nur zur Unterhaltszahlung. Sie begründete aber kein Kindesverhältnis und damit auch keine Erbberechtigung. Dagegen wehrte sich der Sohn vor Bundesgericht.
Das höchste Gericht hielt fest, dass zwischen dem Erblasser und dem Sohn kein rechtliches Kindesverhältnis bestehe. Damit sei er kein Nachkomme im Sinne des Gesetzes und damit auch nicht pflichtteils- oder klageberechtigt. Der aussereheliche Sohn hätte es trotz abgelaufenen Fristen zuerst mit einer Vaterschaftsklage nach neuem Recht versuchen müssen.
Bundesgericht, Urteil vom 18. März 2024 (5A_238/2023)
(Julia Gubler)
Ein Zuger besitzt im Kanton Aargau eine Eigentumswohnung. Er deklarierte in seiner Steuererklärung keinen Eigenmietwert für die 4,5-Zimmer-Wohnung, weil sie «unbewohnt und unvermietet» sei. Das Steueramt akzeptierte das nicht und schlug ihm 18691 Franken auf sein Einkommen. Der Mann wehrte sich, und der Streit landete vor Bundesgericht.
Dieses gab nun dem Steueramt recht. Der Besitzer hatte zwar argumentiert, es gebe «erhebliche Mängel in der Warmwasseraufbereitung» im Mehrfamilienhaus, in dem sich die Wohnung befindet. Diese sei dadurch unbewohnbar. Doch das Gericht glaubte das nicht, denn der Besitzer habe zuvor selbst fünf Jahre lang in der Wohnung gewohnt, und zudem seien 23 von 25 Wohnungen im fraglichen Haus bewohnt. Deshalb könne man «nicht einmal ansatzweise» von einer «objektiven Unbewohnbarkeit» sprechen. Das wäre aber eine Voraussetzung dafür, den Eigenmietwert streichen zu können.
Ausserdem habe der Besitzer «keine ernsthaften Vermietungsbemühungen» an den Tag gelegt. Er habe das Objekt lediglich in Gratisinseraten in zwei lokalen Supermärkten angepriesen, nicht aber im Internet.
Deshalb muss der Mann nun den Eigenmietwert versteuern, obwohl die Wohnung leer stand. Zudem muss er die Gerichtskosten von 3000 Franken tragen.
Bundesgericht, Urteil vom 5. März 2024 (9C_745/2023)
(Martin Müller)
Eine Frau aus Basel-Stadt erhielt am 18. August 2022 die Veranlagungsverfügung des Steueramts. Drei Monate später, am 15. November, reichte sie dagegen Einsprache ein. Das sei zu spät, befanden nacheinander die Steuerverwaltung, die Steuerrekurskommission, das Appellationsgericht und jetzt, in letzter Instanz, auch das Bundesgericht.
Die Einsprachefrist beträgt 30 Tage, und die Frau habe keine stichhaltigen Gründe genannt, warum sie die Frist nicht habe einhalten können. Sie sei «arbeitstechnisch sehr eingespannt» gewesen und habe «unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen» gelitten, machte die Frau geltend, ohne das näher auszuführen. Das genüge nicht, ausserdem hätte sie gleichwohl eine Vertretung organisieren können, hält das Gericht fest.
Grundsätzlich ist es möglich, eine verpasste Einsprachefrist unter Hinweis auf eine Krankheit oder einen Unfall «wiederherzustellen», also nochmals Zeit zu gewinnen. Aber die Beeinträchtigung müsse «derart einschneidend sein, dass die beschwerdeführende Person davon abgehalten wird, innerhalb der Frist zu handeln oder eine Drittperson mit der notwendigen Vertretung zu betrauen», so das Gericht. Dazu braucht es zum Beispiel ein aussagekräftiges Arztzeugnis.
Bundesgericht, Urteil vom 6. Februar 2024 (9C_708/2023)
(Martin Müller)
Eines Nachts betraten Eindringlinge den Hof eines Hanfbauern im Kanton Bern. Der Landwirt überwältigte einen von ihnen und sperrte ihn in einen Keller. Die Komplizen wollten ihn befreien, dabei ging einer mit der Mistgabel auf den Bauern los und verletzte ihn an der Hand. Als sie bemerkten, dass er mit einer Schrotflinte bewaffnet war, versteckten sie sich hinter einem Hoflader. Der Bauer gab einen unkontrollierten Schuss in ihre Richtung ab.
Das Kantonsgericht verurteilte ihn wegen versuchter schwerer Körperverletzung. Doch er legte Beschwerde ein: Er habe in rechtfertigender Notwehr gegen die mutmasslichen Hanfdiebe gehandelt.
Das Bundesgericht erinnert an die Voraussetzungen für Notwehr: Berechtigt ist nur, wer angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff bedroht wird. Die Abwehr muss aber verhältnismässig sein. Es kommt zum Schluss, dass die Eindringlinge das Hausrecht des Landwirts verletzt haben. Es war jedoch nicht verhältnismässig, sich mit potenziell lebensgefährlichen Schüssen zu wehren. Der Angriff mit der Mistgabel richtete sich zwar gegen Leib und Leben, war bei der Abgabe des Schusses aber bereits vorbei. Der Bauer hat sein Recht auf Notwehr erheblich überschritten. Seine Verurteilung ist daher gerechtfertigt.
Bundesgericht, Urteil vom 5. Februar 2024 (7B_13/2021)
(Norina Meyer)
Einem Bankangestellten, der in einer Führungsposition monatlich 20’000 Franken verdiente, wurden sexuelle Belästigungen vorgeworfen. Er habe Mitarbeiterinnen bei einem Firmenanlass ungebührlich berührt. Zudem habe er gesagt, dass er ihnen gern körperlich nah wäre. Oder dass er es bevorzuge, wenn Frauen High Heels und kurze Röcke tragen.
Die Bank untersuchte die Vorwürfe und kündigte ihm ordentlich. Doch der Angestellte wehrte sich. Die Kündigung sei missbräuchlich, deshalb stehe ihm eine Entschädigung zu.
Vor dem Kantonsgericht bekam er recht. Die Bank wurde verpflichtet, ihm 70’000 Franken zu zahlen. Denn sie habe ihn mit den Vorwürfen überrumpelt. Er habe sich weder auf das Gespräch vorbereiten noch eine Vertrauensperson mitnehmen können.
Die Bank zog das Urteil weiter, das Bundesgericht gab ihr recht. Die Bank habe die Sache ausführlich abgeklärt und sei zum Schluss gekommen, dass sich der Verdacht erhärtete. Sie habe weder leichtfertig noch ohne vernünftige Gründe gekündigt. Auch Verdachtskündigungen seien zulässig und nicht einmal dann missbräuchlich, wenn sich der Verdacht später als unbegründet erweist. Der Arbeitgeber muss nicht beweisen, dass der Vorwurf der sexuellen Belästigung stimmt.
Bundesgericht, Urteil vom 19. Januar 2024 (4A_368/2023)
(Norina Meyer)
Ein Bestattungsunternehmen beschwerte sich bei einer Gemeinde: Die Gräber seien zu klein für die Särge. Die Gruben messen 200 mal 90 Zentimeter. Der Bestatter verlangte eine Verlängerung auf 2,2 Meter –das entspreche der üblichen Länge der Särge, die auch andere Firmen verwendeten. Nur so könne er arbeiten, ohne befürchten zu müssen, die Zeremonien auf dem Friedhof zu beeinträchtigen.
Die Gemeinde lehnte ab. Die Gräber würden maschinell ausgehoben, längere Gräber seien aus verschiedenen Gründen nicht möglich.
Die Bestattungsfirma zog ihr Anliegen vor das Kantonsgericht – ohne Erfolg. Es ging davon aus, dass das Unternehmen nicht zur Beschwerde berechtigt ist – mangels schutzwürdigen Interesses.
Dagegen wehrte sich der Bestatter vor Bundesgericht. Sein Interesse sei schutzwürdig, das ergebe sich aus der wirtschaftlichen Freiheit – denn die werde beeinträchtigt, weil die Gräber zu klein seien.
Das Bundesgericht sah die Wirtschaftsfreiheit aber nicht verletzt. Das Ausheben von laut Bestatter zu kurzen Gräbern mache es ihm nicht unmöglich, seine Erwerbstätigkeit auszuüben. Das Ablegen der Särge werde nicht verhindert, sondern höchstens erschwert. Es wies die Beschwerde ab.
Bundesgericht, Urteil vom 10. Januar 2024 (2C_278/2023)
(Norina Meyer)
Ein Inhaftierter wollte sich mit seiner Freundin in einem Besuchszimmer intim treffen. Das Gefängnis solle Massnahmen ergreifen und ihn, wenn nötig, in eine Anstalt verlegen, die geeignete Räume hat.
Doch die Gefängnisleitung lehnte ab. Das kantonale Recht ermöglicht Intimbesuche zwar explizit. Anspruch auf ein privates Treffen hat aber nur, wer eine stabile Beziehung nachweisen kann. Konkret: eine Beziehung, die entweder bereits vor der Inhaftierung oder mindestens sechs Monate seither bestanden hat. Weil der Insasse zuvor nur wenige Kontakte zur Frau hatte, sei die Beziehung zu wenig stabil.
Der Häftling zog die Sache bis vor Bundesgericht. Er sah sein Recht auf Achtung des Privat‑ und Familienlebens und den Schutz der Privatsphäre verletzt. Doch auch das höchste Gericht wies seine Beschwerde ab. Gefangene dürfen zwar Kontakte zu ihren Familienangehörigen und nahestehenden Personen haben, damit sie ihre Beziehungen aufrechterhalten können. Dass das kantonale Recht eine stabile Beziehung für intime Besuche voraussetze, sei aber nicht zu beanstanden. Diese Regelung sei vereinbar mit den Grundrechten und gehe über das hinaus, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte voraussetze. Eine generelle Pflicht, intime Besuche zu ermöglichen, gebe es nicht.
Bundesgericht, Urteil vom 3. Januar 2024 (7B_471/2023)
(Norina Meyer)
Für Versicherungsprämien ist in der Steuererklärung ein Abzug vorgesehen. Weil den aber meist schon der Krankenkassenabzug übersteigt, können andere Prämien oft nicht abgezogen werden. Doch das Bundesgericht hat nun eine Tür für eine Ausnahme geöffnet.
Ein Gastroangestellter aus dem Kanton Solothurn wollte die Prämie für die Krankentaggeldversicherung separat als Berufskosten geltend machen. Der Gesamtarbeitsvertrag schreibe diese Versicherung für die Gastronomiebranche als obligatorisch vor, und sein Arbeitgeber habe ihm deshalb die Hälfte der Prämie, 390 Franken, vom Lohn abgezogen.
In dieser Situation sei die Versicherung nicht freiwillig, sondern direkt mit der Erwerbstätigkeit zusammenhängend, entschied das Bundesgericht. Deshalb sei der Abzug als Berufskosten zulässig.
Aber: Für Berufskosten gibt es eine Pauschale. Nur wer nachweisen kann, dass seine Berufsauslagen höher sind als die Pauschale (3 Prozent des Nettolohns, mindestens 2000, höchstens 4000 Franken), kann die effektiven Kosten abziehen. Dieser Nachweis gelang dem Solothurner nicht, weil er die 390 Franken separat abziehen wollte. Darum unterlag er letztlich vor Bundesgericht. Andere Berufstätige in ähnlicher Situation könnten sich aber auf das Urteil berufen.
Bundesgericht, Urteil vom 18. Dezember 2023 (9C_732/2022)
(Martin Müller)
Ein Sexualstraftäter wurde zu verschiedenen Freiheitsstrafen verurteilt. Nachdem er während Lockerungen des Vollzugs weitere Sexualdelikte beging, wurde er verwahrt. Einige Jahre später beantragte er, es seien ihm vier begleitete Ausgänge zu gewähren.
Das Kantonsgericht Luzern wies den Antrag ab. Der Verwahrte zog die Sache ans Bundesgericht weiter. Er sei halbseitig gelähmt und nicht mehr gefährlich. Das könne er aber nur beweisen, wenn er eine Chance bekomme.
Das höchste Gericht hält fest, dass Ausgänge gewährt werden können, wenn das Verhalten des Betroffenen dem nicht entgegensteht und keine Gefahr besteht, dass er flieht oder weitere Straftaten begeht. Die Vorinstanz habe aber überzeugend dargelegt, warum die Voraussetzungen hier nicht erfüllt seien.
Ein psychiatrisches Gutachten geht davon aus, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass der Betroffene sexuell übergriffig werde – schon bei geringen Öffnungen des Vollzugs.
Ob er tatsächlich gelähmt ist, sei unklar. Eine neurologische Untersuchung habe er verweigert. Zudem sei er mehrfach aus medizinischen Einrichtungen und Strafanstalten geflohen und aus einem Hafturlaub nicht zurückgekehrt. Deshalb erlaubte das höchste Gericht die Ausgänge nicht.
Bundesgericht, Urteil vom 4. Dezember 2023 (7B_796/2023)
(Norina Meyer)
Ein Raser flitzte auf seinem Motorrad mit Tempo 164 durch den Laserstrahl der Polizei. Erlaubt waren 80. In der Folge untersuchte die Polizei seine Wohnung und beschlagnahmte eine GoPro-Kamera. Darauf zu sehen: der Sohn des Rasers, der mehrere, teilweise gravierende Strassenverkehrsdelikte mit einem Motorrad begeht. Das Kriminal- und das Kantonsgericht Luzern verurteilten den Sohn zu einer Freiheitsstrafe von mehr als vier Jahren, einer Geldstrafe und einer Busse.
Der Sohn wehrte sich dagegen bis vor Bundesgericht. Die Hausdurchsuchung sei unzulässig gewesen, weil die Polizei keinen hinreichenden Verdacht auf weitere Delikte seines Vaters hatte. Damit seien auch die gefundenen Aufnahmen nicht verwertbar. Die vorherigen Gerichte hatten die Ansicht vertreten, dass der Vater nur aus Reiz an der Geschwindigkeit gerast sei und das den Verdacht auslösen könne, er habe weitere solche Delikte begangen und dokumentiert.
Das Bundesgericht bestätigte, dass es sich bei der Hausdurchsuchung um eine unzulässige Beweisausforschung gehandelt habe – eine sogenannte Fishing-Expedition. Es habe keine weiteren Hinweise gegeben, die eine Durchsuchung rechtfertigen würden.
Das grosse Aber: Auch rechtswidrig erlangte Beweise dürften verwendet werden, wenn sie schwere Straftaten aufklären. Das Bundesgericht liess also die Verwertung der Aufnahmen des Sohnes zu, die schwere Straftaten darstellen, und gab das Urteil zurück an die Vorinstanz.
Bundesgericht, Urteil vom 6. September 2023 (6B_821/2021)
(Julia Gubler)
Für eine Pauschalreise nach Rhodos zahlte eine Familie rund 5260 Euro – für Flug und Hotel mit sechs Pools und 500 Poolliegen. Doch alle Liegen waren fast immer mit Handtüchern belegt, obwohl Schilder deutlich darauf hinwiesen, dass solches Reservieren verboten sei. Der Vater beschwerte sich beim Hotel und beim Reiseveranstalter, ohne Erfolg.
Nach seiner Rückkehr klagte der Familienvater vor dem Amtsgericht in Hannover gegen den Reiseveranstalter. Er machte geltend, dass es sich um einen Reisemangel handle, und verlangte knapp 800 Euro zurück. Der Reiseveranstalter argumentierte, es handle sich um ein friedliches Wettrennen um die begehrten Liegen und nicht um einen Reisemangel.
Das Gericht gab dem Kläger recht. Es hielt fest, dass der Reiseveranstalter eingreifen müsse, wenn die Liegen wegen herumliegender Handtücher nicht nutzbar seien. Der Gast sei nicht dazu verpflichtet, die Handtücher selbst zu entfernen oder ebenfalls Liegen zu reservieren, weil das zu Handgreiflichkeiten führen könne. Es sprach dem Familienvater rund 300 Euro zu, was einer Minderung des Tagespreises um 15 Prozent entspricht.
Das Urteil ist zwar in der Schweiz nicht verbindlich – man kann aber damit argumentieren, wenn man auf der Pauschalreise liegetechnisch leer ausgeht. Auch an der Höhe der Preisminderung können sich Schweizer Urlauberinnen orientieren.
Amtsgericht Hannover, Urteil vom 20. Dezember 2023 (553 C 5141/23)
(Julia Gubler)
Eine 19-Jährige studierte im Jahr 2016 in den USA. Ihre Mutter übernahm einen Teil der Ausbildungskosten von knapp 35000 Franken. Dann machte sie in ihrer Steuererklärung den Kinderabzug (damals 6500 Franken) und den Kinder-Versicherungsabzug geltend – und wollte zum günstigeren Einelterntarif besteuert werden.
Doch das Berner Steueramt verweigerte all das. Die Zahlungen der Mutter an die Tochter waren zwar unbestritten. Und die Mutter berief sich darauf, sie habe die Ausbildung der Tochter «in Erfüllung meiner zivilrechtlichen Unterhaltspflicht finanziert».
Das genüge jedoch nicht, entschied nun das Bundesgericht. Die Tochter hatte damals zwar kein steuerbares Einkommen, aber ein Vermögen von rund 237'000 Franken, das ihr überwiegend ihr Vater kurz vorher geschenkt hatte. Die Mutter hatte rund drei Millionen Franken Vermögen und lebte von den Erträgen.
Für den Kinderabzug sei Voraussetzung, dass «das mündige Kind auf den Unterhaltsbeitrag angewiesen ist», befand das Gericht. Das sei hier nicht der Fall. Es sei zumutbar, dass die Tochter Ausbildung und Lebensunterhalt aus ihrem eigenen Vermögen finanziere.
Ohne Kinderabzug ist aber auch der Einelterntarif nicht möglich. Deshalb verlor die Mutter auf der ganzen Linie.
(Martin Müller)
Was ist die «rote, klare Flüssigkeit in durchsichtiger 1-Liter-PET-Flasche», die der Zoll im September 2020 unter die Lupe nahm? Damit beschäftigte sich das Bundesverwaltungsgericht.
Auf dem Etikett steht: «Cranberry-Fruchtsaftgetränk». Laut Importeur fällt es in die Kategorie «Wasser oder Mineralwasser, gesüsst oder aromatisiert, ohne Alkohol, nicht in Glas oder Alu» mit der Zolltarifnummer 2202.1000. Laut Zollbehörden gilt das Getränk als «Frucht- oder Gemüsesaft, mit Wasser verdünnt oder mit Kohlensäure versetzt» – Tarifnummer 2202.9932. Der Unterschied: Der Zolltarif von Fruchtsaft ist Fr. 59.50 pro 100 Kilo – fast 30-mal so viel wie beim gesüssten Wasser.
Das Bundesverwaltungsgericht urteilt: Es ist ein verdünnter Fruchtsaft und damit zum teuren Tarif zu verzollen. Entscheidend war eine Laboruntersuchung des Eidgenössischen Instituts für Metrologie, wonach der Fruchtsaftanteil 27 Prozent beträgt. Laut den einschlägigen Erläuterungen zum Zolltarif liegt bei Cranberrys die Grenze zwischen gesüsstem Wasser und verdünntem Fruchtsaft bei 25 Prozent.
Interessant: Der Importeur hatte behauptet, das Getränk enthalte weniger als 25 Prozent Cranberrys, obwohl das Etikett 27 Prozent Cranberrysaft versprach. Inzwischen wird das Getränk offenbar mit neuer Rezeptur verkauft – mit weniger Cranberrysaft drin.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil A-3145/2021 vom 14. November 2023
(Martin Müller)
Zwei geschiedene Väter sind mit dem identischen Anliegen vor Bundesgericht abgeblitzt. Beide teilen sich mit ihren Ex-Frauen die Obhut ihrer Kinder hälftig. Sie verlangten, den halben Kinderabzug geltend machen zu dürfen und – wie die Ex-Frauen – zum (günstigeren) Elterntarif besteuert zu werden.
Beide Väter konnten zwar ihre Alimentenzahlungen an die Ex-Frauen vom steuerbaren Einkommen abziehen. Die Steuerämter in Bern und St. Gallen verweigerten aber den halben Kinderabzug und den Elterntarif, weil es dafür keine gesetzliche Grundlage gebe.
Dagegen wehrten sich die Väter bis vor Bundesgericht. Sie argumentierten, diese Regel sei ein «krasser Verstoss gegen die Steuergerechtigkeit», weil sie ihre Auslagen für die Hälfte der Obhut über die Kinder nirgends abziehen könnten.
Das könne je nach der familiären Konstellation als ungerecht empfunden werden, räumt das Bundesgericht ein. Aber das sei hinzunehmen. Der Gesetzgeber, also das Parlament, habe ausdrücklich beschlossen, dass bei getrennt besteuerten Eltern der Kinderabzug und der Abzug von Unterhaltszahlungen nicht kumuliert werden dürften. Daran müsse sich das Gericht halten.
Das Kumulationsverbot gelte selbst dann, wenn sich die Kinder in alternierender Obhut der beiden Elternteile befinden, entschied das Bundesgericht jetzt in den beiden Fällen. Halbe Kinderabzüge für beide Elternteile sind nur zulässig, wenn keine Unterhaltsbeiträge geltend gemacht werden.
Bundesgericht, Urteile vom 18. Oktober 2023 (9C_696/2022 und 9C_204/2023)
(Martin Müller)
Eine Fleischimportfirma meldete im März 2022 eine Ladung tiefgefrorenes spanisches Schwein der Sorte «Secreto Iberico» zur Verzollung an – unter der Tarifnummer 0203.2999 («Schweinefleisch anderes»). Die Zöllner in Bardonnex GE überprüften die Ware und verlangten, dass das Fleisch stattdessen als «Schweinefleisch Karree» mit der Tarifnummer 0203.2991 klassiert werde.
Klingt nach bürokratischer Finesse, hat aber finanzielle Konsequenzen: «Schweinefleisch anderes» kostet 329 Franken Zoll pro 100 Kilogramm. «Schweinefleisch Karree» 2304 Franken, fast achtmal so viel.
Kein Wunder, wehrte sich die Importeurin durch alle Instanzen bis hin zum Bundesverwaltungsgericht. Weil Juristinnen und Juristen womöglich nicht ganz sattelfest sind in Schlachtfragen, wurde sogar eigens das Ausbildungszentrum für die Schweizer Fleischwirtschaft in Spiez beauftragt, zwei Schweinehälften zu zerteilen, eine nach schweizerischer, eine nach spanischer Schnittführung. Danach wurde gewogen, ob beim «Secreto Iberico» genannten Stück das Fleisch aus dem Karree- oder dem Brustbereich überwiegt.
Resultat: Bei spanischer Schnittführung stammen rund zwei Drittel aus der Brust, weil «die Schulter vor der Auslösung der Fleischstücke als Ganzes abgetrennt wird», wie es im Urteil heisst. Und mehrheitlich Brust bedeutet: «Schweinefleisch anderes» ist korrekt, also der günstigere Zollansatz. Auf wessen Teller das umstrittene «Secreto Iberico» letztlich landete, geht aus dem Urteil nicht hervor.
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25. Oktober 2023 (A-5745/2022)
(Martin Müller)
Ein Zürcher Ehepaar ersuchte im Jahr 2021 um Erlass der noch nicht gezahlten Steuern für das Jahr 2018 es ging um Staats- und Gemeindesteuern von 160’000 Franken und die direkte Bundessteuer von 93’000 Franken, total also um 253’000 Franken. Zugleich verfügte das Paar über ein Vermögen von 470’000 Franken und monatliche Renteneinkünfte von etwa 12’000 Franken.
Dennoch sei der Ehemann faktisch «zahlungsunfähig», argumentierte die Ehefrau, und es sei unzumutbar, dass sie diese Steuerschuld übernehme, denn sie war grösstenteils aufgrund des damals sehr hohen Einkommens des Mannes zustande gekommen. Inzwischen aber betrage sein Vermögen nur etwa 3700 Franken, der Rest gehöre ihr.
Das Steueramt lehnte dieses Ansinnen ab, doch das Steuerrekursgericht gab der Frau recht. Ohne Zugriff auf das Vermögen der Frau und unter Berücksichtigung seines Anteils am Existenzminimum würde es acht bis 13 Jahre dauern, bis der Mann die Schuld abzahlen könnte. Das sei zu lange.
Das Bundesgericht beurteilt das jedoch fundamental anders und betont, die Ehegatten seien zivilrechtlich und wirtschaftlich eine Einheit, solange sie rechtlich und tatsächlich ungetrennt sind. Das System der solidarischen Mithaftung gelte deshalb weiterhin. Es sei unerheblich, wie hoch der jeweilige Anteil an der Gesamtsteuer sei. Ausserdem sei der Mann gar nicht dauerhaft zahlungsunfähig, weil es weder Betreibungen noch Verlustscheine oder ein Konkursverfahren gebe.
Bundesgericht, Urteil vom 3. Oktober 2023 (9C_233/2023)
(Martin Müller)
Wer betrieben wird, kann Rechtsvorschlag erheben und so das Verfahren zunächst stoppen. Das geht formlos, sogar mündlich. Man muss aber beweisen können, dass man sich gewehrt hat.
Der Kanton Basel-Landschaft wurde von einem Einwohner betrieben, für 70 Millionen Franken. Wegen Amtspflichtverletzungen, Urkundenfälschung, Raub und Diebstahl.
Das Betreibungsamt stellte der Landeskanzlei Baselland den Zahlungsbefehl zu. Der Gläubiger erhielt die Information, dass kein Rechtsvorschlag erhoben worden sei, und stellte das Fortsetzungsbegehren. Doch dann stellte das Amt fest: Der Kanton hatte sehr wohl Rechtsvorschlag erhoben – per E-Mail. Als Beweis diente dem Kanton ein Screenshot der versandten Mail.
Der Gläubiger beschwerte sich bei der Aufsichtsbehörde. Doch sie hielt fest, dass der Screenshot der versandten E-Mail beweise, dass der Rechtsvorschlag rechtzeitig erfolgt sei. Das liess der Gläubiger nicht gelten, er ging vor Bundesgericht.
Das Bundesgericht war damit einverstanden, dass man per E-Mail gültig Rechtsvorschlag erheben könne. Einen Screenshot der versandten Mail vorzuweisen, reiche aber als Beweis nicht. Das Absenden allein belege nicht, dass die E-Mail den Empfänger rechtzeitig erreicht habe. Hinzu komme, dass die E-Mail beim Betreibungsamt nicht mehr auffindbar sei. Damit müsse davon ausgegangen werden, dass der Rechtsvorschlag nicht innert Frist erfolgt sei. Die Aufsichtsbehörde solle nun prüfen, ob die Betreibung rechtsmissbräuchlich ist und damit nichtig wäre.
Bundesgericht, Urteil vom 28. März 2023 (5A_514/2022)
(Julia Gubler)
Ein wohlhabender Mann trennte sich von seinem Lebenspartner. Er meldete sich per 31. Oktober 2016 aus seiner Wohngemeinde im Kanton Zürich ab und im Kanton Schwyz an. Deshalb reichte er für das Jahr 2016 die Steuererklärung in Schwyz ein.
Das Zürcher Steueramt akzeptierte das nicht und argumentierte, der Lebensmittelpunkt des Mannes habe Ende 2016 weiter im Kanton Zürich gelegen. Er habe seinen Anteil an der gemeinsam bewohnten Viereinhalbzimmerwohnung weder an den Ex-Partner verkauft noch vermietet. Darüber hinaus investierte er 300’000 Franken in die Sanierung des Gartens. Zudem habe er den Partner weiter finanziell unterstützt, mit ihm teure Ferien verbracht, eine Paartherapie besucht und ihn auf Geschäftsreisen mitgenommen.
Das Zürcher Verwaltungsgericht gab dem Steueramt recht, der Konflikt landete vor Bundesgericht. Dort unterlag der Mann erneut, unter anderem weil sich für die umstrittenen letzten Monate im Jahr 2016 nur gerade drei Einkäufe und ein Bargeldbezug im Kanton Schwyz nachweisen liessen. Unabhängig davon, wie die Beziehung nach der behaupteten Trennung zu charakterisieren gewesen sei, habe sich der Lebensmittelpunkt Ende 2016 offensichtlich noch im Kanton Zürich befunden, so das Gericht.
Resultat: Der Kanton Zürich darf das Einkommen (knapp 12,5 Millionen Franken) und das Vermögen (10,5 Millionen Franken) des Mannes besteuern. Der Kanton Schwyz, wo die Steuerrechnung wesentlich tiefer ausfiele, geht leer aus.
Bundesgericht, Urteil vom 20. Juli 2023 (9C_229/2023)
(Martin Müller)
Eine bei der Stadtpolizei Zürich angestellte Betriebspsychologin weigerte sich, der im Oktober 2020 geltenden Maskenpflicht im Büro nachzukommen. Sie stützte sich auf ein Zeugnis ihrer Ärztin, das besagte, dass sie aus medizinischen Gründen in öffentlichen Verkehrsmitteln keine Maske tragen könne.
Ihre Arbeitgeberin forderte sie mehrfach auf, sich beim Vertrauensarzt untersuchen zu lassen, mahnte sie und drohte eine fristlose Kündigung an. Die Psychologin lehnte ab. Die Stadtpolizei Zürich verfügte im Januar 2021 nach rund fünf Jahren Dienst eine fristlose Kündigung. Dagegen wehrte sich die Frau erfolglos beim Stadtrat, beim Bezirksrat und beim Verwaltungsgericht.
Schliesslich beschwerte sie sich vor Bundesgericht und verlangte, dass die Stadtpolizei Zürich zu verpflichten sei, ihr den Lohn bis zum Ablauf der Kündigungsfrist, eine Entschädigung und eine Abfindung zu zahlen – insgesamt rund 140’000 Franken. Die fristlose Kündigung sei missbräuchlich
, verfassungswidrig und willkürlich erfolgt.
Das Bundesgericht sah es anders. Es kam wie die Vorinstanz zum Schluss, die Psychologin habe kein einschlägiges ärztliches Attest eingereicht und mit ihrem Verhalten ihre Dienst- und Treuepflicht schwerwiegend verletzt. Mit Blick auf ihre verantwortungsvolle Position und ihre beharrliche Weigerung, den Weisungen des Arbeitgebers nachzukommen, sei es der Stadtpolizei Zürich nicht mehr zuzumuten gewesen, sie weiterhin zu beschäftigen. Die fristlose Kündigung sei damit gerechtfertigt.
Bundesgericht, Urteil vom 19. Juni 2023 (8C_271/2023)
(Julia Gubler)
Ein Mann aus dem Kanton Aargau verkaufte an zwei Nichten Anteile an zwei Grundstücken. Die Kaufverträge über insgesamt knapp 220’000 Franken wurden öffentlich beurkundet. Kurz nachdem ihm die Steuererklärungen für die Grundstückgewinnsteuer zugeschickt worden waren, unterzeichnete er aber eine Schenkungsurkunde, wonach er den Nichten seinen Anteil an den Grundstücken verschenke. Folglich deklarierte er einen Grundstückgewinn von null Franken.
Das Aargauer Steueramt akzeptierte dies nicht, weil mit dem Kaufvertrag und der Beurkundung ein «fester Rechtsanspruch» auf das Geld entstanden sei. Die nachträgliche Schenkung sei lediglich «der Verzicht der steuerpflichtigen Person auf Eintreibung einer Forderung», was steuerrechtlich unbeachtlich sei. Der Streit landete vor Bundesgericht, wo der Mann geltend machte, ein Verkauf sei «schon aus familiären und monetären Gründen nie zur Diskussion gestanden».
Doch das Bundesgericht entschied zugunsten des Steueramtes. Es sei «nicht nachvollziehbar», weshalb notariell beglaubigte Kaufverträge abgeschlossen worden seien, wenn im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits festgestanden haben soll, dass die Grundstücke entschädigungslos an die Nichten hätten abgetreten werden sollen. Er habe die Grundstücke nicht verschenkt, sondern lediglich den Verkaufspreis nachträglich erlassen, so das Gericht.
Pech für den Mann: Bereits vorher hatte er die Schenkungssteuer für die angebliche Schenkung beglichen, dazu kommen nun noch die Grundstückgewinnsteuer von rund 4700 Franken sowie die Gerichtskosten von 2500 Franken.
Bundesgericht, Urteil vom 21. Juni 2023 (9C_279/2023)
(Martin Müller)
Ein Autofahrer wurde mit 100 Franken bestraft. Der Vorwurf: Er habe während der Fahrt ohne Freisprechanlage telefoniert. Das beobachteten zwei Polizisten und sagten entsprechend als Zeugen aus.
Der Autofahrer wehrte sich bis vor Bundesgericht und verlangte einen Freispruch. Zudem solle der Staat die Gerichtskosten der unteren Instanzen übernehmen sowie eine angemessene Entschädigung zahlen.
Er behauptete, er habe einen Schokoladenriegel gegessen – und nicht mit dem Mobiltelefon in der Hand telefoniert. Wenn er telefoniert hätte, dann sicher über die Freisprechanlage seines Autos. Diese verbinde sich automatisch per Bluetooth mit dem Telefon.
Zudem habe er das Protokoll bei der Zeugeneinvernahme nicht selbst lesen dürfen. Erst später bei der Akteneinsicht habe er es mit seinen Notizen verglichen und festgestellt, dass die Protokollierung von dem abweiche, was tatsächlich besprochen worden sei.
Vor dem Bundesgericht kam er damit nicht durch. Es sei nicht willkürlich anzunehmen, dass er ohne Freisprechanlage telefoniert habe. Nicht bloss einer, sondern zwei Polizisten hätten das übereinstimmend ausgesagt.
Dass ihm das Einvernahmeprotokoll bloss vorgelesen wurde, sei zulässig und genüge den gesetzlichen Anforderungen. Das Gericht wies die Beschwerde ab und erlegte dem Mann Gerichtskosten in der Höhe von 3000 Franken auf.
Bundesgericht, Urteil vom 19. Juni 2023 (6B_171/2023)
(Norina Meyer)
Ein Schweizer Profifussballer spielte ab 2011 für einen Fussballclub in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Der Vertrag lief bis 2015, wurde aber am 9. Juli 2013 vom Club per sofort aufgelöst. Die Vereinbarung sah eine Entschädigung über mehr als 2,3 Millionen Euro vor, zahlbar in fünf Tranchen.
Der Club zahlte aber nur anderthalb Raten und stellte sich dann auf den Standpunkt, der Rest sei nach lokalem Recht verjährt. Dagegen wehrte sich der Fussballer und erhielt vom Sport-Schiedsgericht der Emirate recht, worauf der Club das ausstehende Geld von umgerechnet mehr als 1,8 Millionen Franken im Jahr 2017 überwies.
Inzwischen war der Sportler mit seiner Frau aus den Emiraten in die Schweiz zurückgezogen, das Paar erwarb im Kanton Basel-Landschaft ein Einfamilienhaus und meldete sich dort per 31. Dezember 2013 an.
Vor Bundesgericht ging es nun um die Frage, ob diese Geldzahlungen überhaupt von der Schweiz besteuert werden dürfen. Laut dem Doppelbesteuerungsabkommen zwischen der Schweiz und den Vereinigten Arabischen Emiraten läge das Besteuerungsrecht im Emirat, sofern es um Lohn aus einem Angestelltenverhältnis oder um Geld für eine «persönlich ausgeübte Tätigkeit eines Sportlers» ginge, wie es im Text heisst. Und gemäss emiratischem Recht wäre die Zahlung steuerfrei, so stand es auch in der Vereinbarung zur Auflösung des Arbeitsvertrags.
Hier handle es sich aber eben nicht um Lohn, sondern eher um eine Art Schadenersatz, so das Bundesgericht. Darum sei das Geld in der Schweiz als Einkommen steuerpflichtig.
Bundesgericht, Urteil vom 23. Juni 2023 (9C_682/2022)
(Martin Müller)
Ein Mann erbte von seiner Mutter rund 1,9 Millionen Franken sowie Anteile an zwei Grundstücken. Letztere verschenkte er seiner Frau. Kurze Zeit später wandte er sich hilfesuchend an seine Bank, die – mit seinem Einverständnis – die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) einschaltete. Die Kesb befürchtete, der Millionär könnte durch seine Frau ausgebeutet werden, und ordnete eine Beistandschaft an. Wenn er ihr etwas Grösseres schenken wollte, musste er von nun an seinen Beistand fragen.
Dagegen wehrte sich der Mann. Vor dem Kantonsgericht Luzern kam er damit nicht durch. Das Gericht stützte sich auf ein Gutachten, das ihm eine emotionale Unreife diagnostizierte. Er sei von seiner Frau abhängig und idealisiere sie, wie er es auch mit seiner Mutter getan habe. Er könne sich ihr gegenüber nur schlecht abgrenzen und sei gefährdet, ausgebeutet zu werden.
Der Millionär fand das Gutachten einseitig, ungerecht und willkürlich. Er könne sich sehr wohl selbst helfen. So habe er auch schon Geld zurückgeklagt, das er seiner Frau geschenkt hatte. Als er sich an die Bank gewandt habe, sei er bloss durch den Tod seiner Mutter kurzzeitig überfordert gewesen.
Doch auch das Bundesgericht sprach sich für die Beistandschaft aus. Es gelang dem Mann nicht, das Gutachten umzustossen.
Bundesgericht, Urteil vom 8. Juni 2023 (5A_682/2022)
(Norina Meyer)
Ein Zürcher meldete sich am 23. Dezember 2018 in einer Bündner Gemeinde an, wo er bereits zuvor eine Wohnung besass. Daher zahlte er die Steuern für 2018 und die Folgejahre im Kanton Graubünden. Mit diesem «Umzug» fand sich der Kanton Zürich nicht ab. Er erliess im November 2020 einen Einschätzungsentscheid und wollte den Mann weiterhin in Zürich besteuern, weil er immer noch hauptsächlich dort wohne.
Dagegen erhob der Mann Wohnung in Zürich nicht aufgegeben, keinerlei Mobiliar nach Graubünden gezügelt und in Zürich sogar die Summe der Hausratversicherung erhöht. Auch liess er die Post nach Zürich umleiten und kaufte dort ein Abo für ein Fitnesscenter. Ausserdem leben seine Lebenspartnerin, seine Tochter und seine Enkelkinder im Raum Zürich. All dies spreche gegen eine Wohnsitzverlegung nach Graubünden.
Es gibt aber auch Indizien für einen Wohnsitz in Graubünden. Der Mann hat vor Ort eine zweite Wohnung gekauft, ist Mitglied im Curlingclub und in einer Planungskommission für die Überarbeitung des Zweitwohnungsgesetzes, zudem bescheinigte ihm der Gemeinderat eine «gute Integration ins Dorfleben».
Zusammengefasst, so das Bundesgericht, könne der Mann jedoch nicht nachweisen, seinen Wohnsitz tatsächlich verlegt zu haben. Relevant sei nicht, wo die Schriften deponiert sind, sondern wo «faktisch der Mittelpunkt der Lebensinteressen» liege.
Bundesgericht, Urteil vom 5. Juni 2023 (9C_25/2023)
(Martin Müller)
Ein Patient der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich wurde mit einer Sieben-Punkte-Fixierung am Krankenbett festgebunden. Er wurde also an sieben Stellen – an beiden Armen, beiden Beinen sowie an Bauch, Brust und Stirn – mit Gurten fixiert, und das 13 Tage lang. In dieser Zeit sei er durch diverse Medikamente stark sediert worden.
Der Mann ging danach gegen den verantwortlichen Arzt und zwei von dessen Vorgesetzten vor. Sie seien zu weit gegangen und hätten seine Freiheit unrechtmässig beschränkt.
Doch das Zürcher Obergericht sprach die drei Männer vom Vorwurf der Freiheitsberaubung frei. Dagegen wehrte sich der ehemalige Patient vor Bundesgericht.
Er machte geltend, dass ein unabhängiges medizinisches Gutachten hätte eingeholt werden müssen, das beurteile, ob die 13-tägige Fixierung verhältnismässig war. Denn das Gutachten, das bereits vorlag und das die Fixierung als unverhältnismässig betrachtete, wurde vom Kantonsgericht kritisiert und kaum beachtet. Man könne sich nicht nur auf das Fachwissen der involvierten Ärzte stützen, sagte der Kläger, denn die seien ja beschuldigt worden und daran interessiert, zu ihren Gunsten auszusagen.
Das Bundesgericht gab dem Mann in diesem Punkt recht. Das Kantonsgericht hätte sich dazu äussern müssen, ob und inwiefern es auf das bestehende Gutachten abstellt – oder weshalb es dieses als unverwertbar erachtet. Das Kantonsgericht muss nun einen neuen Entscheid fällen.
Bundesgericht, Urteil vom 23. Juni 2023 (6B_356/2022)
(Norina Meyer)
Ein Ehepaar erwarb ein halb verfallenes Bauernhaus in einem jurassischen Dorf, das den Status eines schützenswerten Ortsbilds hat. Die Sanierungskosten von mehr als 50'000 Franken machte es in der Steuererklärung als Liegenschaftsunterhalt geltend. Der Wohnkanton Freiburg akzeptierte diesen Abzug nicht, weil es sich um wertvermehrende Investitionen handle. Der Streit ging bis vor Bundesgericht.
Unbestritten ist, dass es nicht um eine klassische Renovation ging, sondern um einen teilweisen Abbruch, die Auskernung des uralten Hauses sowie einen nahezu komplett neuen Innenausbau. Solche Kosten gelten nicht als «Unterhalt». Sie können erst bei einem Verkauf geltend gemacht werden und so die Grundstückgewinnsteuer senken.
Doch das Paar argumentierte, der Umbau diene dem Denkmalschutz und sei wegen einer Empfehlung der zuständigen jurassischen Kommission erfolgt. Denkmalpflegerische Arbeiten können laut Gesetz als Unterhalt abgezogen werden, sofern sie «aufgrund gesetzlicher Vorschriften, im Einvernehmen mit den Behörden oder auf deren Anordnung hin vorgenommen» wurden.
Das Bundesgericht entschied nun aber, eine «Empfehlung» einer kantonalen Kommission sei keine behördliche Anordnung, sondern «lediglich eine fachspezifische Beurteilung». Gleichwohl muss nun das Freiburger Kantonsgericht im Detail neu prüfen, welcher Teil der 50'000 Franken als werterhaltender Unterhalt gilt. Dieser Teil ist abzugsfähig, der grosse Rest nicht.
Bundesgericht, Urteil vom 23. Februar 2023 (9C_677/2021)
(Martin Müller)
Ein Uhrmacher arbeitete jahrelang zur vollsten Zufriedenheit aller – bis ein neuer Werkstattleiter übernahm und ihn mit rassistischen Sprüchen diskriminierte
. Der Uhrmacher beschwerte sich mehrfach bei der Personalabteilung, die ihn schliesslich verwarnte. Man war mit seiner Arbeit plötzlich nicht mehr zufrieden.
Als der Arbeitnehmer – mittlerweile krankgeschrieben – eine Genugtuung verlangte, kündigte ihm die Firma. Der Uhrmacher klagte wegen missbräuchlicher Kündigung und verlangte eine Entschädigung. Das Gericht sprach ihm fünf Monatslöhne (23’253 Franken) zu. Dagegen wehrte sich die Firma bis vor Bundesgericht.
Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab. Mehrere Zeugen hätten ausgesagt, dass der Werkstattleiter «hinterhältig», das Arbeitsumfeld «feindselig» und der Uhrmacher der Sündenbock gewesen sei. Dieser sei wegen seiner Hautfarbe und als «Schlitzauge» beleidigt worden. Die Arbeitgeberin sei erwiesenermassen untätig geblieben, obwohl sie hätte einschreiten müssen. Statt ein gesundes und diskriminierungsfreies Arbeitsklima zu schaffen, habe man dem Arbeitnehmer gekündigt. Die Beschwerde wurde abgewiesen, die Firma muss dem Mann die 23’253 Franken zahlen.
Bundesgericht, Urteil vom 23. August 2022 (4A_215/2022)
(Katharina Siegrist)
Eine Baslerin besitzt zwei Mietshäuser im Kanton Basel-Stadt und beauftragte die Firma ihrer Tochter mit deren Verwaltung. Die daraus entstehenden Kosten von mehr als 111’000 Franken jährlich zog sie als Liegenschaftsunterhaltskosten in ihrer Steuererklärung ab.
Gleichzeitig war sie aber Arbeitnehmerin in der Firma ihrer Tochter – und bezog dort einen Lohn von 36’000 Franken für die Verwaltung ebendieser Liegenschaften.
Das Stadtbasler Steueramt strich deshalb diesen Abzug und gewährte bloss den üblichen Pauschalabzug von 20 Prozent der Nettomieterträge. Das Basler Appellationsgericht hingegen akzeptierte im Grundsatz die höheren Kosten, sofern sie einem «Drittvergleich» standhalten. Anders formuliert: sofern ebenso hohe Kosten entstünden, wenn eine unbeteiligte Drittfirma und nicht die Firma ihrer Tochter für die Verwaltung zuständig wäre.
Und genau daran scheiterte die Frau nun vor Bundesgericht. Der geltend gemachte Stundenansatz von 160 Franken erscheine sehr hoch, zudem seien die vorgelegten Arbeitsrapporte lückenhaft und zurückdatiert, hiess es in der Begründung. Ausserdem sei die Behauptung der Frau, sie sei «sechs Tage pro Woche vor Ort» (in den von Randständigen bewohnten Mietliegenschaften) gewesen, «offensichtlich falsch», so das Bundesgericht.
Ohnehin lasse sich die ganze Konstruktion – die Hausbesitzerin zahlt 111’000 Franken für Verwaltungskosten an die Firma ihrer Tochter, von der sie 36’000 Franken Lohn bezieht für genau diese Arbeit – «nur mit steuerlichen Gründen erklären».
Bundesgericht, Urteil vom 10. Februar 2023 (9C_605/2022)
(Martin Müller)
Ein Mann nahm in Genf an einem «Marsch fürs Klima» teil. Er entfernte sich etwas vom Demonstrationszug und malte rote Handabdrücke auf die Fassade einer Bank. Sie sollten das Blut der Opfer des Klimawandels symbolisieren – verschuldet durch die Bank, die in fossile Energie investiere.
Das Kantonsgericht Genf sprach den Klimaaktivisten der Sachbeschädigung schuldig. Die Busse setzte es aber bei nur 100 Franken an. Denn der Mann habe aus achtenswerten Beweggründen und in schwerer Bedrängnis gehandelt. Er selbst sei von der Klimaerwärmung besonders betroffen, weil er im Gemüseanbau tätig sei.
Der Staatsanwaltschaft war dieses Urteil zu mild, sie zog es ans Bundesgericht weiter. Dieses hielt nun fest, das Anliegen, das Klima zu schützen, sei respektabel und ehrbar. Dass Strafen deshalb gemildert werden können, sei nicht ausgeschlossen – etwa bei einem sehr kurzen, gewaltfreien Sitzprotest.
Anders sehe es aus, wenn Sachen beschädigt oder Menschen gefährdet werden. Dann liege kein ehrenhaftes Motiv vor, und deshalb könne der Aktivist nicht von einer Strafmilderung profitieren. Das Bundesgericht wies die Sache zur neuen Beurteilung ans Kantonsgericht zurück.
Bundesgericht, Urteil vom 30. März 2023 (6B_620/2022)
(Norina Meyer)
Eine junge Frau warf ihrem Vater versuchte vorsätzliche Tötung und Vergewaltigung vor, die auf satanistischen Ritualen gründeten. Das entsprechende Strafverfahren wurde jedoch eingestellt: Ein Gutachter stellte bei der Tochter eine Gedächtnisstörung fest, bei der falsche Erinnerungen auftreten würden.
Die Eltern wollten daraufhin der volljährigen Tochter keine Unterstützung für ihre Erstausbildung mehr bezahlen. Die Tochter zog die Sache vor Bezirksgericht – es gab ihr recht. Das Obergericht bürdete den Eltern noch weitere Zahlungen bis zum Abschluss der Ausbildung auf.
Die Eltern zogen das Urteil weiter ans Bundesgericht. Sie argumentierten, dass es ihnen aufgrund der schweren Anschuldigungen der Tochter nicht zumutbar sei, ihr etwas zu bezahlen. Die Vorwürfe seien abstrus, massiv falsch und verletzend.
Auch das Bundesgericht liess die Eltern abblitzen. Unterhalt sei nur dann nicht zumutbar, wenn das Kind seine Pflichten ihnen gegenüber schuldhaft verletze. Die Tochter leide aber an einer Gedächtnisstörung, die sie tatsächlich glauben lasse, ihre Vorwürfe seien wahr. Damit habe sie nicht schuldhaft gehandelt, und die Eltern müssten trotz allem Unterhalt bezahlen.
Urteil des Bundesgerichts vom 21. März 2023 (5A_706/2022)
(Julia Gubler)
Eine Verpackerin war zu 100 Prozent für eine Firma tätig. Ihr Vertrag sah 45 Stunden pro Woche und einen Stundenlohn von 18 Franken vor. Zusätzlich erhielt sie eine Ferienentschädigung. Das bedeutete, dass sie während ihrer Ferien keinen Lohn erhielt. Mitten in der Pandemie wurde der Frau aus «betrieblichen Gründen» gekündigt.
Sie wehrte sich und verlangte vor dem Zivilgericht Basel-Landschaft, dass ihr die Firma Lohn für Ferien für die letzten fünf Jahre bezahlt – gut 17’000 Franken. Denn der Ferienzuschlag sei zu Unrecht vereinbart worden. Das Gericht gab ihr recht. Dagegen beschwerte sich die Firma beim Bundesgericht.
Das Bundesgericht entschied: Während der Ferien muss der Arbeitgeber grundsätzlich den gleichen Lohn zahlen, wie wenn man gearbeitet hätte. Nur wenn das «praktisch nicht durchführbar erscheint», weil das Pensum sehr stark schwankt, ist der Ferienlohn ausnahmsweise mit einem Zuschlag abzugelten.
Bei Vollzeitstellen gebe es diesbezüglich aber keine «unüberwindbaren Schwierigkeiten», und ein Ferienzuschlag sei darum ausgeschlossen – selbst wenn es monatliche Schwankungen gibt.
Die Firma war also falsch vorgegangen und muss der Verpackerin den Ferienlohn noch ein zweites Mal bezahlen.
Bundesgericht, Urteil vom 30. Januar 2023 (4A_357/2022)
(Katharina Siegrist)
Ein Grossvater beantragte bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb), er wolle seine Enkel häufiger sehen. Die beiden wurden 2015 und 2017 geboren. Er hatte seit ihrer Geburt eine enge Beziehung zu ihnen und betreute sie oft. Im Jahr 2019 zerstritt er sich aber mit ihren Eltern. Seither hat er seine Enkelkinder kaum mehr gesehen.
Der Grossvater zog den Streit um das Kontaktrecht bis ans Bundesgericht. Er machte sinngemäss geltend, dass die Eltern ihren Kindern den jüdischen Glauben nicht genügend nahebringen und er mehr Kenntnisse darin habe. Zudem wolle die Schwiegertochter den Kontakt wohl verhindern, weil er homosexuell sei.
Das höchste Gericht wies die Beschwerde ab. Es hielt fest, dass grundsätzlich die Eltern darüber entscheiden können, mit wem ihr Kind Kontakt pflegt. Nur bei ausserordentlichen Umständen könne anderen Personen ein Kontaktrecht eingeräumt werden, sofern es dem Kindeswohl dient. Die Vorinstanz habe nicht willkürlich entschieden, wenn sie keine solche Situation sah.
Die noch sehr jungen Kinder hätten heute keine Beziehung zum Grossvater mehr und könnten sich auch nicht bewusst an ihn erinnern. Ausserdem können die Eltern frei darüber entscheiden, inwiefern ihre Kinder in religiöse Bräuche einbezogen werden.
Der Konflikt zwischen Grossvater und Schwiegertochter sei weiter so intensiv, dass die Kinder bei einem Besuchsrecht wohl damit belastet würden.
Bundesgericht, Urteil vom 23. Januar 2023 (5A_550/2022)
(Norina Meyer)
Ein Zürcher lebte getrennt von Ehefrau und Tochter. In seiner Steuererklärung 2016 zog er Unterhaltsleistungen in Höhe von 39’820 Franken ab. Das Geld floss nach Thailand, wo die minderjährige Tochter bei ihrer Mutter lebte.
Der Mann konnte die Zahlungen mit Bankbelegen beweisen. Dennoch strich das Zürcher Steueramt den Abzug auf 18’000 Franken zusammen. Begründung: Der Mann könne nicht belegen, dass er rechtlich zu so hohen Alimenten verpflichtet
sei. Er legte zwar Belege über Wohn-, Schul- und Gesundheitskosten vor, aber keinen von einem Gericht oder einer Vormundschaftsbehörde genehmigten Unterhaltsvertrag.
Erst im Rahmen des Rekursverfahrens reichte er eine am 15. Januar 2020 unterschriebene Vereinbarung zwischen ihm und seiner Ex-Frau ein. Diese sei zwar nachträglich verfasst worden, stelle aber die Niederschrift einer lange bestehenden mündlichen Vereinbarung dar.
Das genüge nicht, urteilt jetzt das Bundesgericht. Steuerlich abziehbar seien Unterhaltsbeiträge nur, wenn sie «unmittelbar familienrechtlich geschuldet» seien, «nicht aber freiwillig geleistete Beiträge». Ein nachträglich aufgesetzter Vertrag sei kein Beweis für eine familienrechtliche Pflicht. Deshalb muss der Mann auf der Differenz zwischen dem selbst deklarierten und dem akzeptierten Abzug nun Einkommenssteuern bezahlen.
Bundesgericht, Urteil vom 27. Dezember 2022 (2C_160/2022)
(Martin Müller)
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