Nicht jeder «Betrüger» ist ein Betrüger
Wer sich ärgert, schiesst schnell scharf: «Der will mich verleumden!» – «Das ist doch Wucher!» Die Gerichte sehen das meist anders. Sechs Beispiele aus dem Alltag.
aktualisiert am 14. Juli 2020 - 09:50 Uhr
Haben Sie auch schon reflexartig «Betrug!» gerufen, wenn Sie sich verschaukelt gefühlt haben? Oder von übler Nachrede gesprochen, wenn der Nachbar schlecht über Sie geredet hat? So geht es zumindest vielen Anrufern an der Hotline des Beobachter-Beratungszentrums.
Ob solche Vorwürfe aber auch strafrechtlich relevant sind, hängt von bestimmten Voraussetzungen ab. Diese sind im Gesetz viel enger gefasst als im Alltagsgebrauch.
Herr Gehrig steckt in einem Zahlungsengpass und kann diesen Monat seine Handyrechnung nicht zahlen. Weil er langjähriger Kunde ist, staunt er, dass er nur eine einzige Mahnung erhält, die gleich eine Betreibung androht, falls er nicht innert zehn Tagen zahlt. Für Gehrig ist klar: «Nötigung!»
Aber halt: Der Mobilfunkanbieter macht sich nicht strafbar, wenn er einem säumigen Kunden bei Nichtbezahlung eine Betreibung – oder andere gesetzlich vorgesehene Folgen – in Aussicht stellt. Der Kunde hat nicht Anspruch auf drei Mahnungen. Der Anbieter hätte sogar ohne eine einzige Mahnung eine Betreibung oder Klage bei Gericht einleiten können (mehr dazu im Merkblatt «Betreibung», exklusiv für Beobachter-Abonnenten).
Anders sähe es aus, wenn der Mobilfunkanbieter im Mahnschreiben mit schweren Nachteilen für Gehrig gedroht hätte: etwa, dass sich seine Kreditwürdigkeit verschlechtere oder er im Internet an den Pranger gestellt werde. Nötigung im strafrechtlichen Sinn setzt voraus, dass jemand durch Gewalt, durch Androhung ernstlicher Nachteile oder durch andere Beschränkungen seiner Handlungsfreiheit in seinem freien Willen gebrochen wird.
Herr Kummer ist ausserorts geblitzt worden: Vier Kilometer pro Stunde zu schnell, das ergibt eine Busse von 40 Franken. Er bestreitet nichts und zahlt – aber erst zwei Tage nach Ablauf der Zahlungsfrist. Als er deshalb eine zusätzliche Gebühr von 90 Franken zahlen soll, ruft er aus: «Wucher!»
Die zusätzlichen 90 Franken mögen unverhältnismässig wirken. Doch der Straftatbestand des Wuchers setzt voraus, dass jemand die Zwangslage, die Abhängigkeit, die Unerfahrenheit oder die Schwäche im Urteilsvermögen einer Person ausbeutet und diese so zu einem Wuchergeschäft verleitet.
Der Grund für die hohe Forderung ist, dass ein ordentliches Verfahren in Gang kommt, sobald die Zahlungsfrist einer Ordnungsbusse verpasst wird. Dass dabei Gebühren anfallen, ist gesetzlich vorgesehen und hat mit der Ausbeutung einer solchen Lage nichts zu tun. Kummer muss also zahlen.
Herr Steiner erzählt an der Beobachter-Hotline, dass ihn der Vermieter schriftlich abgemahnt hat. Ein Nachbar habe sich darüber beschwert, dass Steiners Kinder zu laut seien. Der zweifache Vater findet den Vorwurf ungerechtfertigt. Er will keine Kündigung der Familienwohnung riskieren und möchte sich gegen das Verbreiten solcher Unwahrheiten strafrechtlich wehren. Steiner ist sich sicher: «Verleumdung!»
Eine Verleumdung ist strafrechtlich nur dann gegeben, wenn jemand behauptet, eine Person habe sich unehrenhaft verhalten oder ihm andere sogenannt rufschädigende Tatsachen angehängt. Lebhafte Kinder zu haben dürfte aber kaum eine rufschädigende Tatsache sein. Hinzu kommt, dass bei einer Verleumdung die Anschuldigung wider besseres Wissen erfolgen muss. Das wäre nur zutreffend, wenn der Nachbar klar weiss, dass sein Vorwurf gar nicht stimmt.
Im vorliegenden Fall ist eher anzunehmen, dass Steiners Nachbar etwas sehr empfindlich auf den Kinderlärm reagiert hat. Mit dem Vorwurf der Verleumdung wird Steiner also vermutlich nicht weit kommen.
Besser ist es, gegenüber dem Vermieter schriftlich zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Auch ein klärendes Gespräch mit dem Nachbarn könnte helfen. Allgemein gilt: Bei Nachbarschaftskonflikten sollte man nur mit grosser Zurückhaltung eine Anzeige erstatten – sonst verhärtet man die Fronten nur noch mehr.
Worin unterscheidet sich ein Offizial- von einem Antragsdelikt? Was gilt wirklich als ehrverletzend? Gibt es eine Ordnungsbusse fürs Kiffen? Machen Sie sich als Beobachter-Mitglied ein Bild davon, welche Straftat rechtlich wie definiert ist.
Vermieterin Kern hat ihrem Mieter gekündigt. Dieser ist ein Messie, der die Wohnung verlottern und verschimmeln liess. Doch als sie die Wohnung abnehmen will, macht der Mieter die Tür nicht auf. Kern ahnt, dass er nicht ausziehen, sondern ohne Erlaubnis einfach in der Wohnung bleiben will. Für sie ist klar: «Hausfriedensbruch!»
Voraussetzung für Hausfriedensbruch ist zwar, dass jemand gegen den Willen des Berechtigten in einen Raum eindringt oder in einem Raum verbleibt, obwohl er die Aufforderung erhalten hat, sich zu entfernen. Doch indem Frau Kern dem Mieter die Wohnung vermietet hat, hat sie ihm auch das Recht gegeben, darüber zu entscheiden, wer sich in der Wohnung aufhalten darf. Dieses sogenannte Hausrecht endet erst mit dem Auszug.
Mit anderen Worten: Der Mieter begeht keinen Hausfriedensbruch, obwohl er zu Unrecht in der Wohnung geblieben ist. Die Vermieterin muss sich zivilrechtlich gegen seinen Verbleib wehren und beim Gericht ein Ausweisungsbegehren stellen. Wie Vermieter richtig vorgehen, wenn sie etwa Messie-Mietern vorzeitig die Wohnung kündigen wollen, lesen Sie im Beobachter-Artikel «Wie wird man den Mieter los?» .
Herr Habegger reicht ein Baugesuch ein, weil er einen Schuppen an sein Haus anbauen will. Monate später lehnt die Gemeinde das Gesuch ab. Die Begründung: Bauvorschriften seien nicht eingehalten worden. Dabei hat Habeggers Nachbar kürzlich für ein fast identisches Bauwerk eine Bewilligung erhalten. Der verhinderte Bauherr hat genug von diesem Filz. Er ist überzeugt: «Korruption!»
Ein Tatbestand namens Korruption ist im Strafgesetzbuch nicht zu finden, dafür die Bestechung. Sie ist der Kern des Korruptionsrechts. Das Strafgesetzbuch stellt sowohl das Bestechen als auch das Sich-bestechen-Lassen unter Strafe. Solange Habeggers Nachbar den Vertretern der Baubehörde nicht einen besonderen Vorteil – zum Beispiel Geld – angeboten hat, damit er illegal eine Baubewilligung bekommt, liegt keine Bestechung vor.
Und selbst wenn der Nachbar die Bewilligung zu Unrecht bekam, kann Habegger daraus kein Recht für sich ableiten. Es gibt kein Recht auf eine Gleichbehandlung im Unrecht. Worauf Hausbesitzer achten können, damit beim Ausbau keine Gesetze und Bedürfnisse der Nachbarn missachtet werden, erfahren Sie im Beobachter-Artikel «Haus ausbauen: Den Wohnraum clever erweitern» .
Frau Wismer hat sich mit ihrem Mann den Traum von der eigenen Wohnung erfüllt. Der Generalunternehmer hat zugesichert, die Wohnung sei per Anfang Mai bezugsbereit. Es wurde aber Mitte Mai, und bei der verspäteten Übergabe stellte Wismer grobe Mängel fest: Der Parkett ist noch nicht gelegt, die Loggia nicht begehbar. Obwohl die Wismers die Mängel protokolliert und gerügt haben, passiert nichts. Frau Wismer ist sich sicher: «Betrug!»
Stimmt nicht. Falls der Generalunternehmer keine Anstalten macht, die Mängel zu beheben , ist er zwar vertragsbrüchig, ein Betrug im strafrechtlichen Sinn ist jedoch noch nicht gegeben. Voraussetzung dafür ist etwa, dass der Täter sein Gegenüber arglistig irreführt: dass er also mehrere Lügen mit besonderer Hinterhältigkeit raffiniert aufeinander abstimmt oder die Täuschung etwa durch gefälschte Urkunden absichert. Eine einfache Lüge oder ein leeres Versprechen allein genügt nicht. Hinzu kommt, dass der Täter nicht nur vorsätzlich, sondern mit besonderer Bereicherungsabsicht handeln muss, damit ein Betrug vorliegt.
Eine Strafanzeige der Wismers hätte wohl keinen Erfolg. Sinnvoller ist es, den Generalunternehmer per Einschreiben unter Ansetzen einer Frist aufzufordern, klar bezeichnete Mängel zu beheben, und dies schlimmstenfalls zivilrechtlich einzuklagen.