Gemäss einer repräsentativen Umfrage der Kirchenzeitung «Reformiert» befürworten 68 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer den Vorschlag der Sterbehilfeorganisation Exit, die Suizidbeihilfe auch für «lebenssatte» alte Menschen ohne tödliche Krankheit anzubieten.
Der «Beobachter» hat bereits im März dieses Jahr eine ähnliche Umfrage unter seinen Lesern durchgeführt, die zu einem anderen Ergebnis kam: Nur 41 Prozent stimmten der Ausweitung zu, 45 Prozent lehnten sie ab. Unter der Exit-Mitgliedschaft stösst die Möglichkeit des Freitods im Alter ohne lebensbedrohliche Krankheit auf sehr breite Zustimmung (95,5 Prozent).
Wenn sie am Morgen aufwacht und spürt, wie kräftig ihr Herz schlägt, macht das Dora Maurer* jedes Mal traurig. Die 96-Jährige, die in einem Altersheim im Berner Oberland lebt, ist nicht etwa todkrank. Sie leidet an einer Reihe von Gebrechen, die ihr Leben von Tag zu Tag mühsamer werden lassen. Sie sieht schlecht, hört kaum noch, hat Angina Pectoris. Schon die kleinsten Anstrengungen machen ihr zu schaffen. «Ich möchte sterben», sagt Dora Maurer. «Aber mein Herz schlägt einfach weiter.»
Eigentlich hat es die 91-jährige Bettina Beerli* gut. Sie lebt nach wie vor allein in ihrer Dreizimmerwohnung im Berner Lorrainequartier, hat viele Bekannte, die sie regelmässig anrufen, die Kinder ihres verstorbenen Partners laden sie immer wieder zum Essen ein, gelegentlich geht sie sogar ins Kino. Doch da ist auch die andere Seite. Sie zittert so stark, dass sie morgens kaum mehr ihren kenianischen Schwarztee trinken kann, den sie so gern mag. Beim Giessen ihrer vielen Orchideen verschüttet sie das Wasser. Briefe schreiben oder schnell etwas notieren ist unmöglich geworden. Nur mit einem Schuss Cognac im Tee und einem Glas Rotwein zum Mittag- und zum Abendessen wird ihr Alltag erträglich. «Können Sie sich vorstellen, wie es ist, seinen Körper nicht mehr unter Kontrolle zu haben? Das ist kein Leben mehr», sagt sie. «Jeden Abend, wenn ich einschlafe, hoffe ich, am Morgen nicht mehr aufwachen zu müssen.»
Viele alte Menschen wollen sterben, obwohl sie nicht todkrank sind. Ihre Tage sind nicht schwarz, aber so richtig bunt sind sie auch nicht. Viele haben Angst davor, zum Pflegefall zu werden, hilflos vor sich hin vegetieren zu müssen, anderen nur noch zur Last zu fallen. Doch rechtfertigt das den Wunsch, freiwillig aus dem Leben zu scheiden?
Ein Grossteil der Mitglieder der Sterbehilfeorganisation Exit meint: ja. Sie fordern von Exit, sich stärker für den Altersfreitod zu engagieren und älteren Menschen den Zugang zum Sterbemedikament Natrium-Pentobarbital zu erleichtern. Das zeigt eine Mitgliederumfrage von Exit, die dem Beobachter exklusiv vorliegt. 95 Prozent haben sich für eine entsprechende Statutenänderung ausgesprochen. Über 8000 der insgesamt 70'000 Mitglieder haben an der Umfrage teilgenommen.
Das klare Ergebnis überrascht Exit-Präsidentin Saskia Frei nicht. Seit Jahren werde das Thema an jeder Generalversammlung aufgegriffen. Zudem erhalte sie regelmässig Briefe von Mitgliedern, die ihrem Leben irgendwann mit Hilfe von Exit ein Ende setzen möchten – auch dann, wenn sie nicht unter unerträglichen Schmerzen leiden, keine unzumutbare Behinderung ertragen müssen, keine hoffnungslose Diagnose zu verkraften haben (siehe Seite 2: «Das gilt in der Schweiz»). «Unsere Lebenserwartung steigt, die Hochleistungsmedizin kann immer mehr, und die Lebensgestaltung wird zunehmend individueller. Viele Menschen wollen vorausplanen, es nicht einfach passieren lassen, bis sie irgendwann nichts mehr an ihrer Situation ändern können», sagt Frei im Interview.
Während sich die Exit-Mitglieder klar für Sterbehilfe auch für Ältere ohne gravierende gesundheitliche Einschränkung aussprechen, zeigt eine repräsentative Online-Umfrage von Hertig Projektdienstleistungen und der Gfk-Marktforschung im Auftrag des Beobachters ein anderes Bild (siehe Infografik). Lediglich 41 Prozent sprachen sich für eine solche Liberalisierung aus. Der Rest war dagegen oder unentschlossen. Doch immerhin jeder Vierte gab an, er könne sich vorstellen, sich im Alter begleitet das Leben zu nehmen, auch wenn er nicht todkrank ist. Für mehr als die Hälfte käme dies nicht in Frage. Die Beihilfe zum Suizid in ihrer heutigen Form fand indes breiten Zuspruch. Knapp 80 Prozent sprachen sich für das Angebot der Sterbehilfeorganisationen aus.
Direkte aktive Sterbehilfe
Gezielte Tötung zur Verkürzung der Leiden eines anderen Menschen. Der Arzt oder ein Dritter verabreicht dem Patienten absichtlich eine Spritze, die direkt zum Tod führt. Diese Form der Sterbehilfe ist strafbar.
Indirekte aktive Sterbehilfe
Zur Linderung von Leiden werden Mittel eingesetzt, die als Nebenwirkung die Lebensdauer herabsetzen können. Der möglicherweise früher eintretende Tod wird in Kauf genommen. Diese Art der Sterbehilfe ist rechtlich nicht ausdrücklich geregelt, gilt aber als grundsätzlich erlaubt.
Passive Sterbehilfe
Verzicht auf die Aufnahme von lebenserhaltenden Massnahmen oder ihr Abbruch. Diese Form der Sterbehilfe ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt, wird aber als erlaubt angesehen.
Beihilfe zum Suizid
Bei der Suizidhilfe geht es darum, dem Patienten die tödliche Substanz zu vermitteln, die dieser ohne Fremdeinwirkung selber einnimmt. Organisationen wie Exit leisten Suizidhilfe in diesem gesetzlichen Rahmen. Das ist nicht strafbar, solange die Sterbehilfeorganisation keine selbstsüchtigen Motive verfolgt.
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- Aktive Sterbehilfe: Tötung auf Verlangen.
- Assistierter Suizid/Beihilfe zur Selbsttötung: Der Suizidwillige nimmt die zum Tod führende Handlung selbst vor.
- Indirekte Sterbehilfe: Nebenfolge der medikamentösen Schmerzbehandlung ist die Begünstigung oder Beschleunigung des Todes.
- Passive Sterbehilfe: Sterbenlassen entsprechend dem Patientenwillen durch Behandlungsabbruch.
Den Augenblick verpassen, über sein Sterben selber entscheiden zu können, das soll dem Theologen Hans Küng nicht passieren. Der 85-Jährige musste miterleben, wie sein Bruder an einem Gehirntumor «elendiglich zugrunde ging». Auch sein guter Freund, der inzwischen verstorbene Schriftsteller Walter Jens, habe es verpasst, selbständig über sein Ableben zu bestimmen. Küng selbst hat einen Hörsturz und eine schwierige Handoperation hinter sich – alles in allem aber nichts Gravierendes.
Doch langsam versagen ihm wegen Arthrose die Hände den Dienst, er hat Parkinson und erblindet allmählich. In seiner Autobiografie schreibt der Theologe, dass er nicht zusehen möchte, wie seine Gebresten ihn nach und nach zum unmündigen Alten machen. Deshalb ist er vor kurzem Exit beigetreten. Er werde sein Leben «in Dankbarkeit seinem Schöpfer zurückgeben», solange er das noch selbstverantwortet tun könne. Seine Religion steht ihm dabei nicht im Weg: «Nirgendwo in der Bibel wird die Selbsttötung ausdrücklich verboten.»
Ist der sichere Tod besser als die Angst vor einem unsicheren Leben? Wann ist der Sterbewunsch gerechtfertigt? Dass jemand nicht mehr leben will, bedeutet das zwangsläufig, dass er sterben möchte? Und wer kann entscheiden, ob ein bestimmter Grund Rechtfertigung genug ist? Darf ein Mensch einfach müde sein, lebenssatt, wie Küng sagt?
Niemand bringt sich gern um. Auch für alte Menschen ist es eher unwahrscheinlich, dass sie ihrem Leben bewusst ein Ende setzen wollen. In seinem Artikel «Affektive Störungen im Alter» schreibt der Solothurner Psychiater Martin Hatzinger: «Verschiedene Untersuchungen deuten darauf hin, dass ein deutlicher Anstieg der vollendeten Suizide für die Altersgruppe der über 70-Jährigen zu verzeichnen ist. Der Bilanzsuizid ist dabei äusserst selten. Suizidalität entwickelt sich am häufigsten im Zusammenhang mit Depression.» Oft werde diese Krankheit aber nicht erkannt, die Symptome würden als «normaler» Rückzug im Alter eingestuft.
Studien zeigen, dass bloss zehn Prozent aller Selbsttötungen wohlüberlegte Handlungen sind, sogenannte Bilanzsuizide. Besonders deutlich belegt das eine US-Studie: 95 Prozent der 515 Personen, die von einem Suizid abgehalten worden waren, hatten sich auch noch Jahre und Jahrzehnte nach der Rettung nicht das Leben genommen.
«Suizid ist ein flüchtiges Wesen. Umso wichtiger ist die Suizidprävention», sagt der Epidemiologe Vladeta Ajdacic-Gross von der Psychiatrischen Uniklinik Zürich. «Wenn wir eine Liberalisierung der Sterbehilfe diskutieren, sollten wir zugleich – oder besser noch vorher – über eine Solidarisierung mit alten Menschen nachdenken.»
Es brauche ein besseres Netzwerk, das Menschen in Krisensituationen auffängt, ihnen beisteht und Unterstützung bietet. «Die Abgrenzung zwischen einem wohlüberlegten Sterbewunsch und Spontanentscheiden ist schwierig. Hausärzten fehlt in diesem Bereich die Kompetenz, seriöse Entscheidungen zu fällen», warnt Ajdacic-Gross. Eine weitere Gefahr sieht der Wissenschaftler in der Nachahmungsproblematik: «Verankert sich bestimmtes Verhalten in einer Kultur, könnten sich dadurch neue Gründe für Suizid etablieren.»
Es sind keine sechs Wochen vergangen, seit sich Bettina Beerli das Leben nehmen wollte. Ihr war alles zu viel. Das ewige Zittern, ihr schlechtes Gedächtnis, das Leben. Doch sich selbst zu töten sei nicht so einfach, erzählt die 91-Jährige. Natürlich könne sie sich in die Badewanne legen und sich die Pulsadern aufschneiden. «Aber das ist wahnsinnig brutal. Das will ich nicht.» Eine Handvoll Schlaftabletten sei zwar humaner, aber nicht verlässlich genug, weiss die ehemalige medizinische Praxisassistentin. «Ein gescheiterter Suizidversuch ist etwas Schreckliches.»
Dennoch: Auf den Tag, an dem ihr Herz aufhört zu schlagen, ist sie vorbereitet. Die Akten sind geordnet, die Adressliste für die Trauerzirkulare geschrieben und die Musik für die Abdankung ausgesucht. «Es ist alles bereit. Eine gute Freundin hat sogar schon die Mix-CD mit Musik von George Gershwin daheim, die an meiner Abschiedsfeier gespielt werden soll.» Jetzt muss er nur noch kommen, der Tod.
Auch Dora Maurer weiss genau, wie sie es haben möchte. «Wenn ich sterbe, möchte ich allein sein. Ich möchte niemanden, der an meinem Bett sitzt.» Das habe sie auch ihren Kindern gesagt. «Sie akzeptieren das, sie kennen mich gut genug», erzählt Maurer, die wach und überlegt spricht. «Wir werden heute doch alle viel zu alt», sagt die 96-Jährige. «Ich habe eine grosse Familie – bald bin ich 20-fache Urgrossmutter. In den Jungen werden wir weiterleben, wenn wir einmal nicht mehr hier sind.»
Der Tod geschieht heute nicht mehr einfach so, er verlangt Entscheidungen. Beispielsweise in Form einer Patientenverfügung, in der sich regeln lässt, ob man reanimiert, per Magensonde künstlich ernährt oder mit Trachealkanülen künstlich beatmet werden will. Der medizinische Fortschritt macht vieles möglich, was die Natur anders vorgesehen hat. Auch dort, wo das Leben seinen Anfang nimmt: Künstliche Befruchtung lässt Paare Eltern werden, denen es früher verwehrt geblieben wäre. Mit pränataler Diagnostik lässt sich schon vor der Geburt einschätzen, ob ein Kind behindert zur Welt kommt. Dank Kaiserschnitt ist der Geburtstermin perfekt mit der Businessagenda abgestimmt. Natur ist relativ geworden. Der Tod auf Verlangen ist in letzter Konsequenz Ausdruck des Strebens nach völliger Selbstbestimmung.
«Sterben ist nicht etwas, was um jeden Preis verhindert werden muss, sondern gestaltet und kontrolliert werden soll», findet Moraltheologe Markus Zimmermann. Seit 20 Jahren beschäftigt er sich mit der Lebensende-Forschung, seit 2010 ist er Präsident der Leitungsgruppe eines Nationalen Forschungsprogramms zu diesem Thema. «Selbstbestimmung bedeutet Freiheit», betont Zimmermann. Zu viel Planung könne allerdings genau das Gegenteil bewirken, unfrei machen, ist er sich sicher. «Ich glaube nicht, dass assistierte Bilanzsuizide, wie sie Exit einführen will, gewaltsame Freitode verhindern werden. Eher ist anzunehmen, dass es insgesamt mehr Suizide werden», befürchtet der Moraltheologe.
Aus individueller Sicht könne der Suizid eine Lösung sein, nicht aber aus gesellschaftlicher Perspektive: «Es besteht die Gefahr, dass eine Öffnung der Suizidhilfe für Menschen, die nicht krank sind, einen gesellschaftlichen Druck auslöst, dass Menschen letztlich meinen, sie sollten ihrem Leben ein Ende setzen», warnt Zimmermann – vor allem deshalb, weil unsere Gesellschaft ein Problem damit habe, «unnützen» Lebensphasen einen Sinn zu geben.
Daniel Grob sieht es ähnlich. «Sterbewünsche werden von alten Menschen heute nicht selten begründet mit einer empfundenen ‹Nutzlosigkeit›, ‹Wertlosigkeit› oder ‹Belastung der Gesellschaft›», stellt der Chefarzt der Klinik für Akutgeriatrie im Zürcher Stadtspital Waid fest. «Das Denken in ökonomischen Dimensionen durchdringt die ganze Gesellschaft. Wenn alte Menschen sich nur noch als Kostenfaktor erleben, ist das wohl Ausdruck eines gesellschaftlichen Problems», schreibt er in der «Schweizerischen Ärztezeitung».
Christian Kind, Vorstandsmitglied der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften, sieht darüber hinaus Parallelen zur pränatalen Diagnostik: «Obschon es sich dabei um einen freiwilligen Test handelt, herrscht ein ausgesprochener oder unausgesprochener Druck auf schwangere Frauen. Beim Altersfreitod befürchte ich eine ähnliche Entwicklung.»
Sterbehilfe im Alter soll auch möglich sein, wenn jemand nicht todkrank ist. Das fordert die grosse Mehrheit der Exit-Mitglieder. Eine repräsentative Online-Umfrage des Beobachters zeigt ein anderes Bild: Nur 41 Prozent möchten, dass sich Ältere auch ohne schwere Krankheit begleitet das Leben nehmen können.
Über 8000 Personen und damit knapp 12 Prozent der Exit-Mitglieder nahmen an der Befragung der Sterbehilfeorganisation teil und beantworteten folgende Frage:
In der repräsentativen Online-Umfrage des Beobachters mit über 500
Teilnehmern hat sich gezeigt, dass der begleitete Suizid, wie ihn Sterbehilfeorganisationen heute anbieten, in der Bevölkerung breit gestützt wird. Anders sieht es bei einer Liberalisierung der heutigen Praxis aus, wie Exit sie vorschlägt.
Ausbildung, Religionszugehörigkeit, Zivilstand: Wer zwischen 2003 bis 2008 Sterbehilfe in Anspruch nahm: Infografik als PDF
Die Befürchtungen von Ärzten und Wissenschaftlern werden von den meisten Heimleiterinnen geteilt, ergab eine Umfrage des Beobachters unter knapp 50 Altersheimen in der Deutschschweiz. Die meisten Institutionen stehen dem Altersfreitod ablehnend gegenüber. Sie setzen stattdessen auf alle Arten der Hilfestellung, um die letzten Jahre, Monate oder Wochen so erträglich wie möglich zu gestalten: Gemeinschaft, Gespräche, Schmerzlinderung. Alle Heimleiter betonen, sie wollten nicht den freien Willen der Menschen einschränken, weisen aber mit Nachdruck auf die Gefahren eines erleichterten Alterssuizids hin.
«Durch die Diskussion in den Medien kommen sich ältere Menschen schon jetzt oft nur als Kostenverursacher vor und haben deswegen ein schlechtes Gewissen», schreibt Beatrix Vital vom Evangelischen Pflege- und Altersheim in Thusis GR. «Lebenssinn wird oft mit Leistung in Verbindung gebracht. Fällt diese im hohen Alter weg, tauchen bei vielen alten Menschen wegen der Hilfsbedürftigkeit Schuldgefühle auf. Kommen Faktoren wie chronische Schmerzen dazu, ist bei vielen der Gedanke an einen Suizid zu erkennen», sagt Bernadette Eichmüller von der Stiftung Lindenhof in Langenthal BE. «Dabei umfasst der letzte Lebensabschnitt neben grossen Belastungen auch die Möglichkeit persönlicher Entwicklung. Versöhnungen, bedeutende Gespräche und zahlreiche intensive Lebensmomente fänden sonst nie statt.»
«Wenn sich Menschen im Alter umbringen, weil sie lebensmüde sind, hat unsere Gesellschaft versagt», findet auch Annemarie Kempf Schluchter, Leiterin des Altersheims Reichenbach im bernischen Kandertal. Viel wichtiger wäre es, herauszufinden, was jemand braucht, um trotz Altersbeschwerden ein erfülltes und würdevolles Leben zu führen. «Unsere Gesellschaft schafft enorm viele Aussenseiter. Leute, die einsam sind, keinen Sinn mehr sehen. Daran sind wir alle mitschuldig. Ihnen den Zugang zu Sterbemedikamenten zu erleichtern kann nicht die Lösung sein», sagt Kempf Schluchter.
Das Leben beenden, nur weil es unbequem geworden ist und keine Freude mehr macht? Das käme für das Ehepaar Zedi* nicht in Frage. Zu viel haben die beiden gesehen, zu viel erlebt und überlebt, als dass sie ihrem Körper das Leben entziehen würden. Bernhard Zedi, 88, war im Zweiten Weltkrieg Soldat in Frankreich, Ungarn und Jugoslawien. Als seine Einheit beim Rückzug aus Ungarn unter Beschuss stand, starb die Hälfte seiner Kameraden. Zedi hat unzählige Tote gesehen, musste zuschauen, wie viele seiner Kollegen zu Krüppeln geschossen wurden. «Sie hatten Arme und Beine verloren und waren doch so unendlich glücklich, noch am Leben zu sein», erinnert er sich.
Zedi selbst blieb wie durch ein Wunder unversehrt. «Solche Erfahrungen machen einen stark und dankbar für das Leben.» Auch für seine Frau Theodora Zedi kommt ein Freitod nicht in Frage: «Das Leben ist zu wertvoll. Man wirft es nicht einfach weg.» Das habe nichts mit Religion zu tun. «Wir können nicht mehr an einen allmächtigen, barmherzigen Gott glauben. Dafür mussten wir zu vielen Juden zuhören, wie sie vergeblich Gott anflehten», sagt die 87-jährige Deutsche.
Völlig entziehen konnten sie sich dem Thema trotzdem nicht. «Unsere Tochter ist Mitglied bei Exit. Als sie uns davon erzählte, erschraken wir. Doch wir müssen ihre Entscheidung akzeptieren», erzählt Theodora Zedi. Umgekehrt müsse ihre Tochter akzeptieren, dass sie eine andere Meinung vertreten. Am Lebensende in die Natur einzugreifen käme ihnen nicht richtig vor. «Ich bin wie eine Rose im Garten, die stetig Blätter verliert. Irgendwann bleibt nur noch der Stiel übrig, der schliesslich abbricht. Und das ist gut so.»
Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebte, hat gelernt, auch dunkle Seiten des Lebens zu akzeptieren. Viele finden es aus religiösen Gründen indiskutabel, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Wer nicht an Gott glaubt, hat oft einen durch viel Leiden geprägten Gleichmut, der ebenfalls dazu führt, «natürlich» sterben zu wollen, wie Theodora Zedi sagt.
Hört man sich in Altersheimen um, wird klar: Ein Eingriff in die Natur wäre für viele Frevel. «Gott hat mir mein Leben geschenkt, und er nimmt mich wieder zu sich, wenn er es will», sagt Beatrice Keller*. «Es gehört sich nicht, sich umzubringen. Gott macht keine Fehler. Dieses Wissen gibt mir Kraft», sagt die 92-Jährige, die im gleichen Altersheim wohnt wie Dora Maurer. Auch Maurer, die schon lange nicht mehr aufwachen möchte, sagt: «Ich nehme jeden Tag aus Gottes Hand; ich habe gar keine andere Wahl. Ein Gift trinken und dann sofort einschlafen würde ich nie. Schliesslich möchte ich meinen eigenen Tod gern erleben.»
Viele alte Menschen pflegen ein beinahe schalkhaftes Verhältnis zum eigenen Tod. Nicht mehr leben wollen, ja. Sich umbringen, niemals. Ist der Tod auf Verlangen eine Forderung der jüngeren Generationen, für alte Menschen aber gar kein Thema? Bettina Beerli hat vor drei Jahren ihre Antwort gefunden. Für sie ist klar: Werden ihre Leiden schlimmer, will sie gehen können. «Diesen Schritt mache ich lieber früher als später. Wenn ich erst einmal meine Urteilsfähigkeit verloren habe, kann mir auch Exit nicht mehr helfen. Wenn ich sterben will, dann gehe ich. Das geht nur mich etwas an.»
*Namen geändert
Falls jemand Bilanz zieht und nicht weiterleben will, soll er Sterbehilfe beanspruchen können – auch wenn er nicht todkrank ist, sagt Exit-Präsidentin Saskia Frei.
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